Kriegschirurgie im Wandel
T. Hauer, N. Huschitt
Geschichte der Kriegschirurgie
Schon immer wurden Chirurgen durch ihren Militärdienst geprägt und in ihrem chirurgischen Handeln beeinflusst. Im antiken Schrifttum wird über die Erfahrungen von Ärzten auf dem Schlachtfeld berichtet, wenngleich es um das Überleben verwundeter Krieger nicht gut bestellt war, da deren Versorgung erst am Ende einer Schlacht stattfinden konnte. Dies änderte sich auch im Mittelalter nicht wesentlich, wenn Wundärzte und Baader sich dem Schicksal der Verwundeten annahmen. Mit der Entwicklung moderner Waffen, die auf größere Entfernung ihre Wirkung entfalteten, begannen sich Sanitäter bereits während der laufenden Kampfhandlungen um verwundete Kameraden zu kümmern, alleine schon um durch deren Schreie nicht den Rest der Truppe zu demoralisieren.
Als Begründer eines modernen Militärsanitätsdienstes gilt der französische Chirurg Dominique Jean Larrey (1766–1842). Seine Erkenntnisse gewann er durch die Teilnahme an unzähligen Schlachten im Dienste der napoleonischen Armee. Larrey erkannte die Notwendigkeit eines unmittelbaren Handelns, um das Überleben eines schwer verwundeten Soldaten zu sichern. Mit seinen von Pferden gezogenen „fliegenden Lazaretten“ (ambulance volante) schuf er hoch mobile Behandlungseinrichtungen, mit denen eine chirurgische Versorgung direkt auf dem Schlachtfeld möglich war. In einem Zeitalter ohne Anästhesie und Antibiotika kam es bei Operationen auf eine schnelle und präzise Operationstechnik an. Larrey perfektionierte die Technik der Gliedmaßenamputation, die er innerhalb weniger Minuten durchführte.
In der preußischen Armee wurde das Militärsanitätswesen vor allem durch Generalarzt Bernhard Rudolph Langenbeck (1810–1887) völlig neugestaltet. Als Sanitätsoffizier hatte Langenbeck an allen deutschen Einigungskriegen teilgenommen und viel praktische Erfahrung auf dem Gebiet der Kriegschirurgie gewonnen. Er besaß ein umfassendes Wissen in Anatomie, Physiologie und Pathologie und operierte in vielen verschiedenen Teilgebieten der Chirurgie. Langenbeck kann somit als Musterbeispiel eines universell ausgebildeten „Generalisten“ der Chirurgie gelten, wie er von einigen auch heute noch – gewissermaßen als Gegenentwurf zum hoch spezialisierten Chirurgen der Neuzeit – als Ideal für einen Militärchirurgen angesehen wird.
Der wohl bedeutendste und einflussreichste deutsche Chirurg des 20. Jahrhunderts, Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) diente als Sanitätsoffizier in beiden Weltkriegen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Juli 1914 meldete sich Sauerbruch als Kriegsfreiwilliger. Er beschäftigte sich fortan mit der Konstruktion künstlicher Gliedmaßen unter Nutzung der nach einer Amputation noch vorhandenen Muskeln zur Steuerung beweglicher Prothesen. Im Zweiten Weltkrieg bekleidete er, mittlerweile Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik der Berliner Charité, als Generalarzt die Funktion eines Beratenden Arztes der Wehrmacht.
Kriegschirurgie in den Weltkriegen und der Nachkriegszeit
Die Organisation des Sanitätsdienstes war sowohl in den beiden Weltkriegen als auch in der Nachkriegszeit von der strategischen Realität geprägt, dass sich zwei Armeen oder Bündnisse an einer Frontlinie gegenüberstanden.
Unmittelbar hinter der Frontlinie wurden Verwundete aus verschiedenen Frontabschnitten in sogenannten Verwundetennestern zusammengeführt und erhielten hier eine erste sanitätsdienstliche Versorgung. Der Truppen- verbandplatz hatte als ärztliche Durchgangsstation, die Revision der Wundverbände sowie die Schmerzlinderung und Schockbekämpfung zur Herstellung der Transportfähigkeit zu erfüllen. Bei der dritten Station, dem Hauptverbandsplatz, sollten als Indicatio vitalis erste notfallchirurgische Maßnahmen erfolgen. In der vierten Station, dem Feldlazarett, wurde schließlich eine erweiterte chirurgische Anschlussversorgung durchgeführt.
Die Bundeswehr wird Einsatzarmee
Anfang der 1990er Jahre wurden in der Bundeswehr zunächst Krisenreaktionskräfte (KRK) etabliert. Diese Verbände waren ohne Mobilmachung nach kurzer Vorbereitungszeit abrufbar und überall einsetzbar. Die Ausstattung war besser als die der Hauptverteidigungskräfte (HVK), die vorwiegend zur Landes- und Bündnisverteidigung eingesetzt werden sollten. Mit der Neuausrichtung der Bundeswehr ab 2010 wurden die HVK- und KRK-Verbände in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte umstrukturiert. Da die Wahrscheinlichkeit eines Zwei-Fronten-Krieges in einer Zeit der europäischen Annäherungspolitik gering erschien, lag der Fokus der Bundeswehr zunehmend auf dem Auslandseinsatz. Mit der Entsendung eines Feldlazaretts nach Kambodscha im Rahmen einer UNO-Mission wurde der Sanitätsdienst 1993 erstmals vor eine größere Bewährungsprobe gestellt, es folgten Einsätze in Somalia und auf dem Balkan. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr musste sich an immer neue Einsatzaufträge und Gegebenheiten anpassen. Innerhalb von 90 Minuten sollte der Verwundete in einer Role 2 Behandlungseinrichtung mit der Fähigkeit zu einer notfallchirurgischen Erstversorgung eintreffen. Die konzentrischen Kreise, die auf diese Weise um den 90-Minuten-Flugradius der verfügbaren Luftrettungsmittel entstanden, beeinflussten die militärische Operationsführung und die Bewegungsfreiheit der eingesetzten Kräfte erheblich und führten zur Etablierung von hoch mobilen, luftverlegbaren und modular an die Erfordernisse des jeweiligen Einsatzes adaptierbare chirurgische Versorgungseinheiten (z. B. Damage Control Surgery Unit, Afghanistan).
Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung
Die Bundeswehr befindet sich aktuell in einem Prozess der Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung. Mit einer veränderten Sicherheitsarchitektur in Europa, die 2014 durch die Annektion der Krim eingeleitet wurde, soll zukünftig der Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung wieder stärker in den Fokus der militärstrategischen Ausrichtung gestellt werden.
Ist die Chirurgie, die in einer Versorgungseinrichtung nahe der Front eines großen Krieges stattfindet, auch Einsatzchirurgie? Für eine ganze Generation von Chirurgen der Bundeswehr war der Begriff Einsatzchirurgie prägend. Alle Lehrgänge, Ausbildungen, Beschaffungen und Konzeptionen mussten „einsatzrelevant“ sein. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen einem hoch intensiven, konventionellen Krieg zwischen hochgerüsteten Kriegsparteien und einer Stabilisierungsoperation mit niedriger Intensität. Während in unseren bisherigen Einsätzen die Opferzahlen vergleichsweise gering waren, hatten diese dennoch Einfluss auf den Konfliktverlauf. In den konventionellen Kriegen der Vergangenheit besaß das Leben des einzelnen Individuums dagegen keinen besonderen Wert. Auch daher steht die zukünftige militärchirurgische Konzeption - unserem eigenen sanitätsdienstlichen Selbstverständnis folgend – vor enormen Herausforderungen.
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 4/22
Oberfeldarzt Dr. T. Hauer
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