citizenAid® - Ein lebensrettendes Prinzip¹
Seit den Bombenattentaten in London von 2005 sind Terroranschläge in Großbritannien in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Allein im Jahr 2017 wurden in Großbritannien 122 terroristische Anschläge mit 42 Toten gezählt (1). Mit vermehrten Anschlägen auf Zivilisten und der Verwendung neuer „Waffen“ wie Messer und Fahrzeugen hat sich auch die Taktik der Attentäter geändert (2). Polizeikräfte können die Sicherheit des medizinischen Personals bei Terroranschlägen nicht immer gewährleisten.
Im militärischen Setting hat sich gezeigt, dass die „Damage Control Resuscitation“ – vor allem in Verbindung mit der Unterbindung kritischer Blutungen – essentiell für das Überleben innerhalb der ersten zehn Minuten ist („Platinum ten minutes“) (7). Die militärische Erstversorgung ist gut etabliert: Selbst- und Kameradenhilfe, das Freimachen und Freihalten der Atemwege, aber auch die eben erwähnte Blutungskontrolle sind für das Überleben von Verwundeten essentiell (8). Unter dem Aspekt, dass rund 29 % der Traumatoten potentiell rettbar erscheinen, ist es um so wichtiger, dass diese Maßnahmen auch im Zivilen zeitnah durchgeführt werden (9,10). Die citizenAid®-Initiative wurde von erfahrenen Notfallmedizinern (Queen Elizabeth Hospital, Birmingham) gegründet, um die oben erwähnte Versorgungslücke zu schließen und das Outcome von Anschlagsopfern zu verbessern. Das Konzept von citizenAid® beruht auf der Empfehlung der britischen Polizei („Run, Hide, Tell“) und empfiehlt zusätzlich die Erstversorgung von Anschlagsopfern durch Betroffene, sobald dies die Lage und der Eigenschutz erlauben (13,14).
In kritischen und unübersichtlichen Situationen müssen die notwendigen Informationen einfach, übersichtlich und leicht zugänglich sein. Aus diesem Grund wurde von citizenAid® eine Mobiltelefon-App sowie eine Taschenkarte entwickelt, um den Ersthelfer bei der Versorgung anzuleiten und so die Versorgungsqualität zu verbessern (15). Sowohl die App als auch die Taschenkarte decken folgende Terrorszenarien ab: Messerangriff, Schusswechsel, Kfz-Anschlag, Explosion, Säureangriff und verdächtige Gegenstände. Die spezifischen Besonderheiten bei der Erstversorgung dieser Szenarien werden dargestellt. Frei verfügbare Lehrvideos unterstützen die Ausbildung (16).Um citizenAid® in Belgien, Nordamerika, Australien, Ungarn, Italien, Niederlande, Spanien, Wales zu initiieren, wurde der Inhalt entsprechend übersetzt und angepasst.
Für Kinder wurde der Lehrinhalt in einem Comic-Buch („Moggy´s coming“) aufbereitet, mit dessen Hilfe das Prinzip „Run, Hide, Tell, Treat“ gelehrt werden kann (17,18).Die Lehrinhalte von citizenAid® beschränken sich auf die Themen: Reanimation, Blutungskontrolle, stabile Seitenlage, Schienung von Frakturen, Verbrennung und Hypothermieprävention. Von vielen dieser Maßnahmen ist bekannt, dass sie entweder nicht oder nur unzureichend durchgeführt werden (11). Daher werden Ersthelfer mittels Abbildungen und Algorithmen bei der Durchführung dieser Maßnahmen unterstützt (19).
„Control than ACT“ wird seit vielen Jahren erfolgreich im Rahmen des Battlefield Casualty Drills (BCDs) der britischen Streitkräfte gelehrt. Diese Inhalte finden sich auch bei citizenAid®. Weiterhin sind auch die Abkürzungen SLIDE („Situation“, „Location“, „Injured numbers“, „Danger“, „Emergency services“) für den Notruf und AMIST („Age and time of injury“, “Mechanism”, “Injuries”, “Signs and symptoms”, “Treatment”) für die Übergabe an den Rettungsdienst in der App, bzw. Taschenkarte enthalten. Zusätzlich wird dem Ersthelfer ein Triage-Algorithmus an die Seite gestellt, der dem Prinzip des Major Incident Medical Management (MIMMS) Kurses folgt.
Die Triage orientiert sich an den Bereichen „schwere Blutung“, „Gehen“, „Reden“ und vorhandene Lebenszeichen.
Bei citizenAid® handelt es sich um ein ganzheitliches, systematisches System zur Erstversorgung von Traumapatienten, aber auch zur Vorbereitung auf derartige Situationen. Damit kann dieses System auch bei anderen Notfällen (z. B. Arbeitsunfällen) angewendet werden.citizenAid® wurde während der National Counter Terrorism Awareness Week 2016 initiiert und die dazugehörige App im Januar 2017 in der BBC vorgestellt und veröffentlicht. Die App erhielt 2017 einen Innovationspreis, citizenAid® wurde 2018 zum „National Counter Terror Project“ des Jahres ernannt und das Buch „Moggy´s Coming“ zum „Most Innovative Product of the Year“ des Business Continuity Awards gekürt (16, 21). Seit 2017 gilt citizenAid® als gemeinnützige Organisation und wird von vielen Sicherheitsorganisationen und medizinischen Fachgesellschaften unterstützt.
Ein weiterer Baustein in dem Konzept von citizenAid® ist der „Tourni-Key®“. Dabei handelt es sich um den Knebel eines improvisierten Tourniquets. Im Gegensatz zu anderen improvisierten Tourniquets kann der Knebel hierbei fixiert werden. Dadurch wird kein Ersthelfer mit dieser Aufgabe dauerhaft beauftragt. Der „Tourni-Key®“ wurde von citizenAid® als kostengünstige Alternative zu kommerziell erhältlichen Tourniquet-Systemen für die breite Bevölkerung entwickelt. Derzeit wird in einer wissenschaftlichen Untersuchung die Effektivität des „Tourni-Key®“ mit dem CAT® als „Goldstandard“ verglichen.
citizenAid® wurde gegründet, um die breite Bevölkerung auf Terroranschläge vorzubereiten sowie lebensrettende Sofortmaßnahmen einzuleiten. Um dieses Ziel zu erreichen, folgt citizenAid® dem Grundsatz, dass alle Ausbildungsmaterialien frei und kostenlos zugänglich sind.
Literatur und Abbildungen bei Verfasser
Korrespondenzadresse
Brigadier General, Prof, Prof, Dr, Dr med Tim Hodgett
Senior Health Adviser to the Army
Army Headquarters, Monxton Road, Andover
SP11 8HJ, United Kingdom
Telefon: +44 1264 88704
E-mail: timothy.hodgetts793@mod.gov.uk
[1] Übersetzung durch:
Oberstabsarzt d. R. Dr. med. N. Patrick Mayr
Institut für Anästhesiologie
Deutsches Herzzentrum München des Freistaates Bayern
Klinik a.d. Technischen Universität München
Lazarettstr. 36
D-80636 München, Germany
Datum: 25.11.2019
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3/2019