Sind alle Mittel der Diplomatie ausgeschöpft und können deutsche Staatsbürger oder andere Schutzbefohlene nicht mehr selbstständig aus Krisen- und Kriegsgebieten ausreisen, bleiben als letztes Mittel militärische Evakuierungsoperationen (MEO). Einer der Kernaufträge der Luftlandebrigade (LLBrig) 1 ist es, jederzeit Kräfte für derartige Missionen bereitzuhalten. Diese Einsätze zeichnen sich durch sehr kurze Alarmierungszeiten und limitierte bis keine Vorausplanungen aus. Sie finden häufig unter erschwerten Bedingungen statt und sind selbst an den entlegensten Regionen der Welt denkbar. In jüngster Vergangenheit wurde im Rahmen der militärischen Evakuierungsoperationen in Kabul und im Sudan diese Fähigkeit aus dem Portfolio der LLBrig abgerufen. Die Heeressanitäter der beiden Luftlandesanitätskompanien waren als fester Bestandteil der Luftlandekräfte in beiden Missionen eingesetzt.
Im Folgenden werden die Erfahrungen aus Perspektive der Luftlandesanitäter für die Evakuierungsoperationen in Kabul und dem Sudan beschrieben. Neben den Kräften der LLBrig 1 waren an den Einsätzen Soldaten aus allen Teilstreitkräften und Organisationsbereichen der Bundeswehr beteiligt, u. a. Luftwaffe, Streitkräftebasis, Kommando Spezialkräfte, Zentraler Sanitätsdienst und im Sudan auch der Marine. Derartige MEO erfordern zudem eine enge Zusammenarbeit mit Kräften des Auswärtigen Amtes und des Innenministeriums.
Die Luftlandesanitätskompanien
Die LLBrig 1 verfügt über die beiden einzigen Luftlandesanitätskompanien (LLSanKp) innerhalb der Bundeswehr. Die LLSanKp sind Teil des Heeressanitätsdienstes und als 9. Kompanien der Fallschirmjägerregimenter (FschJgRgt) 26 und 31 fest in diese integriert. Hauptauftrag der LLSanKp ist die uneingeschränkte Fähigkeit, den Fallschirmjägerkompanien im Gefecht zu folgen und diese sanitätsdienstlich zu unterstützen. Hierfür werden Sanitätskräfte der LLSanKp in die Ausbildungs- und Übungsvorhaben integriert, damit eine enge Kohäsion mit den zu unterstützenden Kampfkompanien und ihren Verfahrensweisen erfolgen kann. Das Sanitätspersonal kann die Bewältigung des an sie gestellten Auftrages, die sanitätsdienstliche Versorgung der Luftlandetruppe bis zur Role 1, an die Gegebenheiten des Einsatzes leichter Infanterie anpassen und dies regelmäßig trainieren und beüben. Hierfür wird das Sanitätspersonal der LLSanKp besonders ausgebildet und ausgerüstet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Luftlandeoperationen und die rasche, weltweite Verlegbarkeit bzw. Einsatzbereitschaft im Rahmen der militärischen Evakuierung, aber auch des internationalen Krisenmanagements. „Kaltstartfähigkeit“ ist hier ein wesentlicher Begriff. Anforderungen, Ausbildung und Ausrüstung unterscheiden sich somit zu jenen einer Sanitätsstaffeln Einsatz. Zentraler Unterschied ist die Befähigung zum Fallschirmsprungeinsatz und die enge Verzahnung mit den Kampfkompanien des eigenen Regimentes.
MEO KABUL aus Sicht eines Luftlandesanitäters
Im April 2021 begannen die USA und ihre NATO-Verbündeten mit dem endgültigen Truppenabzug aus Afghanistan. Die Taliban konnten im Zuge dessen immer größere Teile des Landes unter Ihre Kontrolle bringen, bis am 15.08.2021 die Hauptstadt Kabul eingenommen und seitens der Taliban der Sieg über die bisherige Regierung verkündet wurde. Die Sicherheitslage und Lebensbedingungen für die afghanische Bevölkerung verschlechterten sich daraufhin rapide. Die Bundesregierung entschied sich zur Durchführung einer MEO, um deutsche Staatsbürger und andere Schutzbefohlene zu evakuieren.
Nur 16 Stunden nach der Alarmierung befanden sich die Hauptkräfte des FschJgRgt 31 am 15.08.2021 bereits in den Bussen auf dem Weg zu Flughafen. Die Alarmierung erfolgte an einem Wochenende, weshalb die Soldaten zunächst aus den Heimatorten und teilweise aus dem Ausland an den Standort nach Seedorf zurückkehren mussten. Da es nicht geplant war Fahrzeuge mitzuführen, konnte nur Ausrüstung mitgeführt werden, welche auch selbstständig getragen werden konnte. Nicht essenzielle Dinge – wie Wechselkleidung – mussten zugunsten von Ausrüstung sowie Wasser und Verpflegung für drei Tage weichen. Dementsprechend war auch das Sanitätsmaterial welches mitgeführt werden konnte limitiert.
Zur Vorausplanung des sanitätsdienstlichen Vorgehens erfolgten im Vorfeld Anfragen an die übergeordnete Führung bezüglich medizinischer Folgeversorgung und körperlicher Verfassung der Schutzbefohlenen, welche jedoch unbeantwortet blieben. Im usbekischen Taschkent wurde zunächst ein Drehkreuz zum Einfliegen von Material und Personal und dem Ausfliegen der zu Evakuierenden eingerichtet. Nach mehreren missglückten Versuchen aufgrund von Personen auf dem Flugfeld, landete dann am 16.08.2021 der erste deutsche Airbus vom Typ A400M am Flughafen Kabul – mit an Bord waren Luftlandesanitäter der 9./FschJgRgt 31. Untergebracht wurden die deutschen Kräfte in einem verlassenen Bürogebäude.
Primärer Auftrag der Luftlandesanitäter war es, eine notfallmedizinische Erstversorgung deutscher und verbündeter Streitkräfte, der zu evakuierenden Personen sowie im Nebenauftrag der Zivilbevölkerung sicherzustellen. Hierzu wurden in räumlicher Nähe zu den Zugängen zum Flughafen Verwundetensammelnester eingerichtet, wo sich ebenfalls die Registraturen für die zu Evakuierenden befanden. Vor den Zugangstoren drängten sich, bei hohen Außentemperaturen und über viele Stunden, unzählige Menschen in der Hoffnung, das Land verlassen zu können. Außerdem waren insbesondere am North Gate im Minutentakt Schüsse zu hören, es kam immer wieder zu schweren Tumulten und Auseinandersetzungen unter den wartenden Menschen. Die humanitären Verhältnisse waren zum größten Teil erschreckend.
Unter diesen Bedingungen musste von den ersten Minuten an eine Rettungskette etabliert, Mass Casualty (MASCAL)-Konzepte erarbeitet und Verwundetensammelnester organisiert und stetig an die sich ändernde Lage angepasst werden. Zum Teil wurden drei räumlich voneinander dislozierte Registrierungen gleichzeitig betrieben. Vor dem Hintergrund einer unklaren Auftragsdauer waren Schicht- und Durchhaltefähigkeit von besonderer Bedeutung.
Als nächst höhere Behandlungseinrichtungen waren ein deutsches notfallchirurgisches Einsatzteam sowie eine amerikanisch-norwegische Role 2 vor Ort. Zum Transport von Verwundeten wurden am Flughafen zurückgelassene Fahrzeuge als Transportmittel umfunktioniert. Eine A400 MedEvac stand zum Abtransport von Verwundeten aus Afghanistan abrufbereit.
Im Zusammenhang mit den Tumulten unter den Wartenden kam es zu Verletzungen durch stumpfe sowie penetrierender Gewalt. Beispielhaft waren Schusswunden an Kopf, Extremitäten, Thorax, und am Abdomen. Auch kam es zu Verletzungen durch nicht letale Munition, wie Gummigeschosse, Blendgranaten und Reizgas. Regelhaft traten mehrere Verwundete zur gleichen Zeit auf, wobei Menschen jeden Geschlechtes und Alters betroffen waren. Nicht mit dem Leben vereinbare Verletzungen und Menschen die im Verwundetensammelnest verstarben gehörten zur traurigen Realität. Nach einem Feuergefecht unter Beteiligung deutscher Kräfte mussten vier ehemalige afghanische Militärangehörige notfallmedizinisch behandelt werden. Neben traumatischen Verletzungen mussten viele Menschen aufgrund von Dehydration und völliger Erschöpfung versorgt werden.
Besondere Belastungen für die Einsatzkräfte waren die ständige Konfrontation mit menschlichem Leid und Verzweiflung, die hohe Arbeitsbelastung bei akutem Schlafmangel, die hygienischen Bedingungen, stetiger Gefechtslärm und die andauernde Bombendrohung. Auch dank der engen Zusammenarbeit mit Sanitätskräften anderer Streitkräfte konnten deutlich über 100 Patienten, vom leicht bis zum schwerstverletzten, versorgt werden. Die notfallmedizinische Versorgung unter den oben genannten Umständen und unter ständiger Eigenbedrohung war nur durch das Festhalten an den Grundsätzen der taktischen Verwundetenversorgung möglich. Vom 16.08 bis zum 26.08.2021 konnten 600 deutsche Soldaten 5 347 Personen aus mindestens 45 Nationen evakuiert werden.
MEO SUDAN aus Sicht eines Luftlandesanitäters
Die seit Mitte April 2023 bestehenden Gefechte zwischen den beiden rivalisierenden militärischen Fraktionen der sudanesischen Streitkräfte und der Rapid Support Forces führten zu einer rapiden Verschlechterung der Sicherheitslage des Landes. Die sich in Teilen auf die Hauptstadt Khartum konzentrierenden Gefechte stellten eine erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar, unter welcher sich auch deutsche Staatsangehörige befanden. Es folgte der politische Entschluss zur militärischen Evakuierung mit Alarmierung der Task-Force am 19.04.2023. Nach Aktivierung und Herstellen der Verlegebereitschaft, konnten erste Kräfte beginnend am 20.04.2023 in das Gastland Jordanien verlegt und zusammengeführt werden. Dort wurde eine Sanitätseinrichtung der Role 2B DEU eingerichtet. Gegen Nachmittag des 23.04.2023 landeten die ersten deutschen Maschinen auf dem nördlich von Khartum befindlichen Flugplatz, welcher durch die sudanesische Luftwaffe genutzt wird. In diesen Maschinen befanden sich Sanitätskräfte der 9./ FschJgRgt 26. Aufgrund der langen Flugzeit von ca. dreieinhalb Stunden, wurde zusätzlich eine Role 2F zur notfallchirurgischen Erstversorgung ins Einsatzland verlegt. Die Lage vor Ort gestaltete sich zunächst unübersichtlich, da das Flugfeld auch von anderen (größtenteils europäischen) Nationen zur Evakuierung genutzt wurde. Bereits in der folgenden Nacht konnte mit dem deutschen Anteil der Evakuierung begonnen werden.
Die medizinischen Herausforderungen bezogen sich sowohl auf die vor Ort eintreffenden Zivilisten als auch auf die Betreuung der eigenen Kräfte. Zunächst wurden die Rettungskette und das MASCAL-Management etabliert und die Anschlussversorgung eingerichtet. Somit ergab sich ein breites Spektrum der Organisation und medizinischen Versorgung, angefangen von vergessenen Dauermedikationen auf der Flucht, bis hin zur Versorgung von Kleinkindern. Traumatisierte Patienten an den Registraturen waren alltäglicher Bestandteil. Zudem stellten die Umweltfaktoren mit Temperaturen über 40 °C eine besondere Belastung dar. Dehydratation und Erschöpfung zeigten sich sowohl bei den zu evakuierenden Personen als auch bei militärischen Kräften, welche teils medizinisch betreut zurückgeführt werden mussten. Aufgrund des zunehmenden Bekanntheitsgrades der laufenden Evakuierung, wurde die Lage im zeitlichen Verlauf durch das Aufkommen von immer mehr Zivilisten und beginnenden Tumulten, deutlich unübersichtlicher. In multinationaler Zusammenarbeit konnte jedoch Verantwortungsbereiche etabliert und eine durchgehende medizinische Versorgung sichergestellt werden. Am Nachmittag des 26.04.2023, startete die letzte deutsche Maschine nach insgesamt rund 800 evakuierten Personen vom Flugplatz in Khartum.
Die sehr dynamischen Verhältnisse vor Ort, stellten die deutschen Kräfte vor eine besondere Herausforderung. Durch ein sehr hohes Maß an Flexibilität und Professionalität, konnten die beteiligten Sanitätskräfte jedoch zeigen, dass sie solch komplexen Lagen gewachsen sind.
Zusammenfassung
Die LLBrig 1 hält mit den beiden FschJgRgt ständig Kräfte für derartige Missionen bereit, die entsprechend ausgerüstet und trainiert sind. Die tiefe Integration der LLSanKp in die Fallschirmjägertruppe ermöglicht eine nahezu barrierefreie Zusammenarbeit und damit den autarken, weltweiten Einsatz bei nur sehr kurzen Vorbereitungszeiten unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von leichten- und luftbeweglichen Kräften. Innerhalb der beiden MEO-Einsätze konnten die Luftlandesanitäter, ihre regelmäßig und intensiv trainierten Fähigkeiten zweckmäßig und erfolgreich in einem scharfen Einsatz anwenden. Die hierdurch gewonnen und wertvollen Erfahrungen können so in Ausbildung und Weiterentwicklung zielführend eingebracht werden. Darüber hinaus stiftet die Teilnahme an derartigen Einsätzen eine gewisse Zufriedenheit und Genugtuung, als dass die über Jahre trainierten Fähigkeiten und Kompetenzen in einem scharfen Einsatz zur Anwendung kommen konnten.
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 4/2023
Oberfeldarzt T. Mensing
Luftlandebrigade 1
Graf-Werder-Kaserne
Wallerfanger Str. 31
66740 Saarlouis
E-Mail: TomMensing@bundeswehr.org