Erdbebenhilfe in Agadir 1960 – Wie alles begann

Aus dem Direktorat Ausbildung und Lehre Gesundheitsversorgung der Bundeswehr (Direktorin: Oberstarzt Dr. M. Harf) der Sanitätsakademie der Bundeswehr (Kommandeurin: Generalstabsarzt Dr. G. Krüger)

Kaum vier Jahre waren seit der Gründung der Bundeswehr vergangen. Eine Inspektion des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Bundeswehr hatte sich 1956 im Bundesministerium der Verteidigung etabliert. Den Ärzten, Zahnärzten, Apothekern und Veterinären in der Bundeswehr war der militärische Status eines „Sanitätsoffiziers“ zuerkannt worden. Noch befand sich alles im Aufbau und es bedeutete große Kraftanstrengungen, die neuen der NATO unterstellten Truppenteile sanitätsdienstlich zu unterstützen. Und Politik und Gesellschaft beobachteten die neue Bundeswehr zurückhaltend, es herrschte eine tiefe Skepsis gegenüber bewaffneter Macht und militärischer Machtmitteln, eine Konstante bis heute. Genauso wie man sich außenpolitisch zurückhielt, dabei aber – auch dies ein Kontinuum deutscher Politik über 60 Jahre – eine Bereitschaft zur Unterstützung Notleidender jenseits nationaler Eigeninteressen herrschte.

Das Erdbeben

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Feierliche Übergabe des HVPl an Marokko gegen Ende des Einsatzes. (Abb.: Mediendatenbank Bw)
Der 29. Februar 1960 war ein Rosenmontag. Deutschland hatte gefeiert, in den rheinischen Karnevalshochburgen waren die Rosenmontagsumzüge beendet und das Vergnügen hatte sich am Abend in die Kneipen und Vereinsheime verlegt.

Gegen 23.42 bebte die Erde ca. 2.700 km südwestlich von Köln und vernichtete in nur 15 Sekunden die Kasbah und die Europäerstadt von Agadir in Marokko. Das Königreich unter seinem Regenten Mohammed V. hatte gerade erst 1956 seine Unabhängigkeit errungen und musste nun, kaum auf so ein Ereignis vorbereitet, die größte Naturkatastrophe seiner Geschichte erdulden. Etwa 15.000 Einwohner und Touristen kamen in den Trümmern um. 12.000 Verletzte und 35.000 Obdachlose galt es zu beklagen. Sofort setzten daher internationale Hilfsmaßnahmen ein, besonders die französische, spanische und die amerikanische Armee in ihren Stützpunkten in der Region leisteten den marokkanischen Behörden Soforthilfe.

Vorbereitungphase

Das verheerende Unglück rief auch in Deutschland große Bestürzung hervor. Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß entschied, auch eine Sanitätseinheit der Bundeswehr zur Unterstützung zu entsenden. Politisch wurde diese Unterstützungsmission nicht als militärischer Einsatz verstanden, für den ein parlamentarischer Beschluss notwendig gewesen wäre, sondern eher als eine Art Übung.

Am Tag nach dem Erdbeben, am 1. März (21.00 Uhr), befahl der Inspekteur des Sanitätsdienstes, Generalstabsarzt Dr. Theodor Joedicke, dem Koblenzer Sanitätsbataillon 5 unter seinem Kommandeur Oberfeldarzt Dr. Carl Merkle einen Hauptverbandplatz in Agadir zu errichten, um Schwerverletzte zu versorgen. Die Abmarschbereitschaft der Truppe (3. Kompanie) wurde bereits für den 2. März 10.00 Uhr festgelegt. Eine Telefon- und Alarmkette setzte ein. Soldaten wurden aus Kneipen geholt, Geräte und Material kamen noch in der Nacht aus Bad Neuenahr, Gießen, Koblenz und Marburg. Tatsächlich gelang es, die Truppe am 2. März um 12.00 Uhr samt Equipment abmarschbereit am Flughafen Köln-Wahn zu versammeln: Eine auch nach heutigen Gesichtspunkten bewundernswerte Koordinationsleistung, die zu großen Teilen auf Improvisationskunst beruhte, da man auf einen solchen Fall auch bei den höheren Stellen natürlich nicht vorbereitet war. In Wahn wartete bereits ein Verladestab bzw. ein Verladekommando unter Nutzung von Kräften der Luftlandeschule Schongau. Auf der Hardthöhe war inzwischen auch ein Koordinierungsstab für das Gesamtunternehmens eingerichtet worden.

In den Einsatz gingen insgesamt 102 Soldaten, darunter sechs Ärzte (davon zwei Chirurgen und ein Hygieniker), zwei Apotheker und 47 Sanitätssoldaten. Unterstützt wurden sie durch zehn ABC-Abwehrspezialisten, 11 Fachleute für Luftverlast, vier Feldköche, zwei Dolmetscher und 16 Marineangehörige, die vor Ort eine Funkstelle einrichten sollten.

Verlegung

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Noratlas Transportmaschine im Luftwaffenmuseum Gatow. (Abb.: Wikimedia commons)
Bereits am 2. März 1960 verlegten die ersten Soldaten des Sanitätsbataillons unter ihrem Kommandeur, dem kriegsgedienten Oberfeldarzt Dr. Merkle, von Köln Wahn nach Agadir.

Personal und Material wurden in der Folge durch insgesamt 36 Noratlas-Transportmaschinen der Lufttransportgeschwader 61 und 62 ins Erdbebengebiet verbracht. Neben dem Hauptverbandplatz befanden sich darunter auch eine 1.400 Watt Funkstelle, fünf Lkw 0,25 to DKW, ein Lkw 0,75 to Borgward, zwei Kräder und fünf Notstromaggregate. Wie einer der Apotheker, der spätere Generalapotheker Hanns Heidemanns berichtete, gab es bei der Beladung der Transportmaschinen einige Schwierigkeiten, da zum einen das Packmaß der SanKisten nicht bekannt war und zum anderen auch die eigentliche korrekte Beladung des Materials bisher nicht geübt worden war. Dank eines eignungsübenden Majors, der im Krieg in einem Ju 52 Transportgeschwader diente, konnten die Probleme relativ schnell geregelt werden.

Im Einsatz

Merkle wählte in Absprache mit der marokkanischen Seite einen Ort etwa 8 km von der zerstörten Altstadt und 5 km vom Flughafen entfernt für seinen Hauptverbandplatz und meldete bereits am 6. März Einsatzbereitschaft und erste therapeutische Maßnahmen. In den folgenden Wochen behandelten die Ärzte mit ihrem Sanitätspersonal ca. 100 Personen stationär, führten 80 Operationen durch und nahmen mehr als 1000 ambulante Versorgungen vor. Interessanterweise kamen keine frischen Wunden mehr zur operativen Behandlung, obwohl manche Patienten angeblich erst nach 8 - 12 Tagen nach dem Beben geborgen wurden. Bei ihnen bestanden vornehmlich Exsikkosen, die zu forcierten Infusionsbehandlungen zwangen. Operativ wurde eine chirur­gische Folgeversorgung durchgeführt. 

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Ausladen von Hilfsgütern nach Marokko. (Abb.: Mediendatenbank Bw)
Zur Behandlung kamen Weichteildefekte und Frakturen, die eher zu pflegerischen Leistungen zwangen. Tetanus und Gasbrand traten nicht auf. Bei dem humanitären Einsatz in Aceh 45 Jahre später wurde das gleiche Phänomen beobachtet, Tage nach dem Geschehen gab es kaum noch frisch zu operierende Patienten. In Marokko kamen unmittelbar nach dem Beben die verletzten Überlebenden in die Obhut französischer und US Sanitätsoffiziere. Schwangere Patientinnen wurden in ein italienisches Rot-Kreuz-Lazarett abgegeben. Typisch für humanitäre Einsätze sind auch kulturell und sprachlich bedingte Unterschiede oder Missverständnisse zwischen Helfern und Patienten. So gestaltete sich für die deutschen Sanitäter der Überblick über ihre marokkanischen Patienten und ihre korrekte administrative Aufnahme vor allem auf Grund kommunikativer Probleme schwierig. Es stand kein Arabisch-Dolmetscher zur Verfügung. Eine marokkanische Schwester übersetzte schließlich arabisch-französisch. Wie in den Erfahrungsberichten aufgeführt, verließen die Patienten zum Ärger ihrer Behandler auch das Lazarett nach eigenem Gutdünken.

Erfahrungen

Sehr gelobt wurden das gesamte fachliche Hauptverbandplatzequipment, der Feldversorgungssatz, das Feldröntgengerät und die Einheitszelte. Auch das Personal, ob Wehrpflichtige, ob Fachpersonal oder Unterstützer, zeigte sich allen Anforderungen gewachsen, vor allem der Aufnahmetrupp schien besonders gefordert.

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Behandlung in der Aufnahmestation. (Abb.: Militärhistorische Lehrsammlung SanAkBw)
Auch organisatorische Herausforderungen wurden notiert, die auch heute noch interessant sind. Obwohl Oberfeldarzt Dr. Merkle Chef des Hauptverbandplatzes resp. des später so genannten Feld- bzw. Ortslazaretts und damit der wichtigsten den Einsatz tragenden Einheit gewesen ist, wurde ihm ein Oberst des Luftwaffenkommandos Nord als Standortältester und Dienstältester Deutscher Offizier vorgesetzt. Dieses Konstrukt führte zu einigen Missstimmigkeiten. In der Vorbereitungsphase musste in Kauf genommen werden, dass die zu verlegende Truppe nicht komplett gegen Pocken und Tetanus geimpft war. Dies blieb allerdings ohne schwerwiegende Folgen. Bei der Zusammenstellung des Sanitätsmaterials ließ sich nicht alles Benötigte durch die Sanitätsdepots bereitstellen und musste kurzfristig auf dem freien Markt beschafft werden. Ebenso gestaltete es sich zu einem gewissen Nachteil, dass kein Vorauskommando in das Einsatzgebiet zur Erkundung der Lage verlegt werden konnte. Das gesamte Hauptkontingent flog in toto sofort ein. Der Kommandeur musste deshalb mit den marokkanischen Behörden schon am Flughafen nötige Absprachen vornehmen und Entscheidungen tätigen.

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Personal des Feldlazaretts. (Abb.: Militärhistorische Lehrsammlung SanAkBw)
Für uns interessant sind auch die Herausforderungen auf der Fernmeldeebene. Offensichtlich konnte erst mit Inbetriebnahme der Marinefunkstelle mit den Heimatdienststellen kommuniziert werden. Vorher wurden schriftliche Berichte, Anforderungen und Meldungen mit den Transportmaschinen in bzw. aus dem Einsatzgebiet verschickt. Die sehr begehrten Tropenuniformen erreichten das Kontingent erst nach 14 Tagen. Da in Marokko gerade der Ramadan gefeiert wurde, was große Auswirkungen auf die Bergungsmaßnahmen gehabt hätte, setzten die Behörden dieses höchste muslimische Fest kurzerhand für acht Tage aus. Bei einem Besuch des Königs von Marokko im Feldlazarett gewährte dieser darüber hinaus eine freie Speisewahl für die muslimischen Patienten. Überhaupt muss die Zusammenarbeit mit den marokkanischen Stellen ausgezeichnet gewesen sein, über ihre „Deutschfreundlichkeit“ wurde allenthalben berichtet. Aber auch die Beziehungen und die Kooperation mit den alliierten Soldaten, den Hilfsorganisationen und den französischen Siedlern ließen nicht zu wünschen übrig. Keine Selbstverständlichkeit nur 15 Jahre nach Kriegsende, eine relativ kurze Zeit, in der wohl kaum jemand daran gedacht hätte, dass deutsche Soldaten wieder im Ausland Flagge zeigen würden. Am 21. März 1960 wurde das Lazarett feierlich an Marokko übergeben.

In einem Fernschreiben an das Auswärtige Amt zog der deutsche Konsul in Casablanca, Franz Obermaier, Resümee: „Die letzten deutschen Sanitätstruppen, die am 3. März zur Soforthilfe nach Erdbeben Agadir eingeflogen wurden, verlassen Marokko am 6. April teils in einer Luftwaffenmaschine, teils mit Schiff Möwe. Zurück bleibt als Geschenk der Bundesregierung ein moderner, komplett ausgestatteter Hauptverbandsplatz. Die aufopfernde Tätigkeit der deutschen Sanitätstruppe wie ihr Auftreten in der Öffentlichkeit haben in der Bevölkerung großen Anklang gefunden und besten Eindruck hinterlassen. Immer wieder wurde deutschen Feldärzten von Marokkanern gesagt: Eure schnelle Hilfe in der Not ist für uns besonders wertvoll gewesen.“[1]

Dieser erste Einsatz ging als großer Erfolg für die junge Bundeswehr in die Geschichte ein und half entscheidend dabei, Vertrauen und Reputation in der internationalen Gemeinschaft, aber auch in der eigenen Gesellschaft zu gewinnen. Die Sanitätssoldaten hatten sich nicht nur fachlich, sondern auch bei der Zusammenarbeit mit amerikanischen und französischen Soldaten und den marokkanischen Behörden bestens bewährt. Große Auswirkungen hatten die Einsatzerfahrungen aber auch auf die Organisation und Durchführung zahlreicher humanitärer Hilfen in den Jahren danach. 

 

Anschrift des Verfassers:
Flottenarzt Dr. Volker Hartmann
Sanitätsakademie der Bundeswehr
D-80937 München
E-Mail: Volker Hartmann@bundeswehr.org 

[1]  SINGER (2011): Herbert Singer, Erdbebenhilfe für Agadir – der erste Schritt. 1960 Agadir / Marokko, in: Sanitätsdienst der Bundeswehr. 50 Jahre Auslandseinsätze 1960 - 2010. Bonn 2011, S. 2 - 7, hier: S. 6.

 


Datum: 06.01.2020

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 4/2019

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