Werteveränderungen und moralische Verletzungen bei im Einsatz psychisch erkrankten Soldaten der Bundeswehr
Changes of personal values and moral injury in deployed German Armed Forces soldiers with psychiatric disorders
Aus dem Psychotraumazentrum der Bundeswehr¹ (Leitender Arzt: Oberstarzt Priv. Doz. Dr. P. Zimmermann) des Bundeswehrkrankenhauses Berlin (Chefarzt: Flottenarzt Dr. K. Reuter) und dem Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr² (Leiter: Militärgeneraldekan M. Heimer)
Peter Zimmermann¹, Christian Fischer², Sebastian Lorenz¹, Christina Alliger-Horn¹
WMM, 60. Jahrgang (Ausgabe 1/2016: S. 8-14)
Originalarbeit
Zusammenfassung Soldaten der Bundeswehr erleben im Einsatz neben traumawertigen Belastungen auch Situationen mit Auswirkungen auf Wertorientierungen, bis hin zu moralischen Verletzungen.
Zehn Fokusgruppen zu Wertorientierungen und moralischen Verletzungen wurden bei insgesamt 78 deutschen ISAF-Soldaten durchgeführt, die sich wegen psychischer Erkrankung zur Behandlung im Bundeswehrkrankenhaus Berlin befanden.
Es wurden vielfältige Auslöser und Muster von Veränderungen und heterogene Folgen genannt, die auf individuelle und nur wenig stereotype Reaktionsformen hindeuteten.
Die Thematik sollte verstärkten Eingang in präventive und therapeutische Konzeptionen finden.
Schlüsselwörter: Deutsche Soldaten im Einsatz, Wertorientierungen, Moralische Verletzungen, Fokusgruppen, Psychische Erkrankung.
Summary
Deployed German Armed Forces soldiers are exposed to numerous traumatic events but also to situations with an impact on value orientations or equal to moral injuries.
Ten focus groups were performed in 78 German Armed Forces soldiers after deployment to Afghanistan who were treated in the Military Hospital in Berlin due to psychiatric disorders.
Numerous reasons and types of changes and also psychologic sequelae were reported, which pointed to rather individual and less stereotype reactions.
This topic should gain importance for preventive and therapeutic approaches in Armed Forces.
Keywords: deployed German soldiers, value orientations, moral injuries, focus groups, psychiatric disorders.
Hintergrund
Im Jahr 1992 richtete die Bundeswehr in Kambodscha ein Feldlazarett ein und versorgte dort sowohl die internationalen Truppen als auch die Zivilbevölkerung medizinisch. Damit waren erstmals seit Ende des zweiten Weltkriegs wieder deutsche Soldaten in einer militärischen Operation außerhalb des Hoheitsgebiets der Bundesrepublik Deutschland aktiv. Dieser Einsatz sowie auch die nachfolgenden Missionen in Somalia und Bosnien-Herzegowina stellten noch Peacekeeping-Mandate dar, in deren Auftrag der Gebrauch von Waffen nur zur Selbstverteidigung vorgesehen war. Dies änderte sich 1999 mit der internationalen militärischen Intervention im Kosovo, bei der sowohl in der Luft als auch am Boden von deutscher Seite Waffengewalt eingesetzt wurde.
Diese Notwendigkeit weitete sich dann ab 2002 in Afghanistan deutlich aus, vor allem in den Jahren 2009 bis 2011 im Raum Kunduz in Nordafghanistan. Eine epidemiologische Studie der Bundeswehr, die zwischen 2010 und 2013 durchgeführt wurde [1], erbrachte erstmals empirische Ergebnisse über die Art der Belastungen und die entsprechenden psychischen Folgen. Die dabei von den Soldaten berichteten Ereignisse waren sehr vielfältig. Sie bildeten ein Spektrum ab, welches sowohl ein Erleben in einer Rolle als Opfer feindseliger Handlungen als auch als „Täter“ (im nicht-juristischen Sinne) umfasste, beispielsweise bei der Teilnahme an Feuergefechten. Das Risiko, an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu erkranken, erhöhte sich dadurch signifikant.
LITZ et al. [2] arbeiteten heraus, dass durch derartige Erlebnisse, aber auch weitere, maladaptive Prozesse initiiert werden können. So kann es beispielsweise zu einer Dissonanz mit internalisierten Wert- und Normvorstellungen kommen. Diese führt zu moralischen Bewertungen, die eine moralische Verletzung (Moral-Injury) hinterlassen können.
NASH et al. [3] unterschieden dabei zwischen Verletzungen, die durch eigenes Handeln hervorgerufen werden, sowie solchen, die durch moralische Autoritäten (wie zum Beispiel Vorgesetzte) zu verantworten sind. Diese Unterscheidungen setzten sie in eine psychometrische Skala um (Moral-Injury-Events--Scale). Nicht verarbeitete moralische Verletzungen wiederum können zu Phänomenen wie Schuldgefühlen oder Scham beitragen, aber auch autodestruktive Prozesse (wie Suchtverhalten oder Suizidalität) fördern. Besonders intensiv wurden diese Zusammenhänge bei Soldaten untersucht, die an der Tötung von Menschen beteiligt waren [4, 5, 6].
Auf der anderen Seite kann es im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen und dem damit verbundenen traumatogenen Potenzial auch zu positiv wahrgenommenen psychischen Veränderungen (wie z.B. Wachstums- und Entwicklungsprozesse) kommen. TEDESCHI und CALHOUN [7] erarbeiteten dazu das Konstrukt des „Posttraumatic Growth“. Diese Konzeption geht davon aus, dass es nach Traumaeinwirkung zu Veränderungen im Erleben und Handeln kommen kann, die von den Betroffenen als Bereicherung wahrgenommen werden. Dazu gehören eine Intensivierung der Wertschätzung des Lebens, der persönlichen Beziehungen und des spirituellen Bewusstseins, sowie auch eine Bewusstwerdung eigener Stärken und die Entdeckung von neuen Möglichkeiten.
Als notwendige Grundlage und wichtiger Einflussfaktor für die beschriebenen patho- und salutogenetischen Prozesse wurden verschiedene persönlichkeitsimmanente Bezugssysteme untersucht, wie zum Beispiel Persönlichkeitseigenschaften / -störungen oder auch individuelle Wertorientierungen. Letztere stellen Konzeptionen des Erwünschten dar, die wesentlich zu einer Bewertung und Steuerung von Verhaltensoptionen beitragen. SCHWARTZ [8] entwickelte auf dieser Grundlage eine Theorie menschlicher Werte, in der er zunächst zehn Wertetypen definierte, die eine umfassende Beschreibung wertorientierten Erlebens und Verhaltens ermöglichen. Ein typisches Merkmal dieser Theorie ist es, dass dabei auch gegensätzliche Wertanschauungen denkbar sind, wie die Orientierung an materiellen Werten und Vergnügungen (Hedonismus), die altruistischen, gemeinschaftsbezogenen Werten (wie Benevolenz und Universalismus) gegenüberstehen. Diese Vorstellungen führten zu dem Modell einer zirkumplexen Anordnung von Werten.
SCHWARTZ fasste seine Theorien in einem Fragebogen zusammen (Portrait Values Questionnaire) [8]. Ähnlich wie beim Moral-Injury-Konzept konnten auf dieser Grundlage Zusammenhänge zwischen Werten und psychischer Gesundheit gefunden werden, unter anderem auch im militärischen Kontext [9].
Militärische Auslandseinsätze eignen sich in besonderem Maße für Untersuchungen und Theoriebildungen zu den Zusammenhängen zwischen moralischen Verletzungen, Wertorientierungen und psychischer Gesundheit, da es dabei zu definierbaren Extrembelastungen kommt, die Wertorientierungen und moralische Empfindungen in komplexer Weise verändern und beeinträchtigen können. Quantitative Forschungsansätze scheinen jedoch zur Erfassung und Beschreibung dieser Komplexität nur bedingt geeignet, da sie moralisches Erleben kategorisieren und quantifizieren, dabei aber unter Umständen die Interaktionen zwischen den vielfältigen Einflüssen, Bewertungen und Verarbeitungsprozessen nur unzureichend berücksichtigen können.
Qualitative Studien zu dieser Thematik liegen jedoch, insbesondere im militärischen Kontext, bislang kaum vor. Dazu kommt, dass zwischen verschiedenen an einem Einsatz beteiligten Nationen mit jeweils unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Einsatzszenarien mit abweichender Bedrohungslage und interkulturellen Erfahrungen im Einsatzland erhebliche Unterschiede in den Reaktionsweisen der Soldaten zu erwarten sind.
Ziel dieser Untersuchung ist es daher, an einer Stichprobe stationär psychiatrisch-psychotherapeutisch behandelter Bundeswehrsoldaten qualitative Zusammenhänge zwischen moralischen Verletzungen, Wertorientierungen, psychischer Gesundheit und dazugehörigen Coping-Prozessen zu beschreiben, um zu einer Hypothesenbildung beizutragen und weitere notwendige Forschungsschwerpunkte zu formulieren.
Methoden
Die ausgewerteten Daten wurden aus zehn Fokusgruppen mit insgesamt 78 Teilnehmern (je sechs bis neun Teilnehmer pro Gruppe) gewonnen. Es handelte sich ausschließlich um männliche Bundeswehrsoldaten, die sich in einem oder mehreren Auslandseinsätzen in Afghanistan im Rahmen der ISAF-Mission befunden hatten. Alle Teilnehmer befanden sich in der stationären Behandlung des Bundeswehrkrankenhauses (BwKrhs) Berlin. Grund hierfür war eine einsatzbedingte psychische Erkrankung. Das Durchschnittsalter lag bei 34 +/- 9 Jahren. Bei 54 Patienten wurde eine PTBS diagnostiziert, bei 29 eine einsatzbedingte Depression, bei 28 eine Anpassungsstörung, 10 litten unter einer somatoformen- und Schmerzstörung, 12 unter einer Angststörung, 13 unter anderen psychischen Erkrankungen (Mehrfachnennungen waren möglich).
Die Fokusgruppen wurden zum Beginn einer dreiwöchigen Gruppenbehandlung durchgeführt, die im BwKrhs Berlin zur Ressourcen-Stärkung einsatztraumatisierter Soldaten drei- bis viermal pro Jahr durchgeführt wird. Die Gruppen hatten einen im Vordergrund stehenden therapeutischen Nutzen, da die Ergebnisse neben der wissenschaftlichen Auswertung zur weiteren Behandlungsplanung genutzt wurden. Aus diesem Grunde war kein Ethikvotum einzuholen.
Ein weiteres Einschlusskriterium waren die Fähigkeit und die Bereitschaft, über die Thematik der Untersuchung zu sprechen; Ausschlusskriterium war eine vom Patienten befürchtete oder durch die Interviewer in einem Vorgespräch festgestellte zu hohe themenbezogene emotionale Belastung. Die Interviewer waren jeweils zu zweit und in der Durchführung von Fokusgruppen erfahren. Sie verfügten über eine abgeschlossene -psycho- und traumatherapeutische Ausbildung sowie mehr-jährige Berufserfahrung. Die Fokusgruppen dauerten jeweils 90 - 120 Minuten, wurden elektronisch aufgezeichnet und verbatim transkribiert.
Die Auswertung erfolgte inhaltsanalytisch nach MAYRING [10]; der Interviewleitfaden wurde auf der Basis einer deduktiven Kategorienentwicklung entwickelt. Die den Ausgangs-hypothesen zugrundeliegenden theoretischen Modelle beinhalteten das Konstrukt persönlicher Wertorientierungen nach SCHWARTZ, verbunden mit vorab durchgeführten quantitativen Studien zum Portrait Values Questionnaire [8] und seinen Assoziationen mit einsatzbedingten psychischen Erkrankungen [9]. Darüber hinaus wurden das Konstrukt moralischer Verletzungen (Moral Injury nach [3]) sowie die Theoriebildungen von LITZ [2] zu den Zusammenhängen von moralischen Verletzungen, Schuld, Scham und psychischen Erkrankungen in die Überlegungen einbezogen. Im Verlauf der Studie waren induktive Anpassungen des Leitfadens aufgrund der aufkommenden Thematiken möglich.
Der Interviewleitfaden enthielt die folgenden übergeordneten Themen; wiedergegeben werden hier die jeweiligen Leitfragen:
- Gab es in Ihrem Auslandseinsatz Situationen oder Umstände, die Ihre Wertvorstellungen in Frage gestellt oder Ihr moralisches Empfinden verletzt haben?
- Welche Ihrer persönlichen Wertorientierungen haben sich im Verlauf Ihres Auslandseinsatzes und auch in der Zeit danach für Sie oder Ihre Umgebung spürbar verändert?
- Welche psychosozialen Folgen und körperlichen oder psychischen Symptome sind Ihnen im Zusammenhang mit den erwähnten Ereignissen während Ihres Auslandseinsatzes aufgefallen?
- Welche psychosozialen Folgen und körperlichen oder psychischen Symptome sind Ihnen im Zusammenhang mit den oben genannten Belastungen nach dem Auslandseinsatz aufgefallen?
- Welche Strategien haben Sie angewandt, um mit den Folgen Ihrer Erlebnisse zurechtzukommen?
Ergebnisse
In den durchgeführten Gruppensitzungen herrschte durchweg ein offener Zugang zu der Problematik. Die Teilnehmer äußerten sich authentisch und meldeten nach den Fokusgruppen zurück, dass die Beschäftigung mit dieser Thematik insgesamt für sie neu, aber auch hilfreich sei. Die zum Teil aufkommenden negativen Emotionen (vor allem Wut und Enttäuschung) waren durchweg gut zu besprechen und beherrschbar.
Situationen oder Umstände im Auslandseinsatz, die Wert-orientierungen berührt oder moralisch verletzt haben
Die Gruppendiskussionen begannen im Regelfall mit der Schilderung Werte-bezogener bedeutender oder belastender Erfahrungen im Einsatz.
Begegnung mit einer fremden Kultur, geprägt durch unterschiedliche Wert- und Normvorstellungen;
- Erleben eines hohen Stellenwertes von Traditionen, Gebräuchen und Religion bei der einheimischen Bevölkerung;
- Erleben eines partnerschaftlichen und gewährenden Arbeitsstils auf allen Ebenen innerhalb des militärischen Kontingentes (flache Hierarchien, eigene Entscheidungsspielräume);
- Erleben des Fehlverhaltens von Vorgesetzten mit negativen oder bedrohlichen Folgen;
- eigenes Fehlverhalten mit negativen oder bedrohlichen Folgen.
Die Begegnung mit der Kultur des Einsatzlandes ging mit einem – von der jeweiligen Tätigkeit abhängigen – intensiven Kontakt zu unterschiedlichen Wert- und Normsystemen einher. In negativer Hinsicht wurde die Behandlung einzelner gesellschaftlicher Gruppen, insbesondere von Frauen und Kindern, als diskriminierend oder sogar gewaltsam beschrieben: „-Frauen und Kinder sind dort nichts wert, werden behandelt wie Dreck und weggeworfen, wenn man sie nicht mehr braucht“.
Die Unterschiede konnten aber auch positiv erlebt werden: „In der Wüste ist eine Flasche Wasser sehr viel wert und noch heute fällt es mir schwer, Wasser einfach nur wegzuschütten, weil ich weiß, wie wertvoll es dort unten ist.“ Im weiteren Sinne gehört in das Themengebiet der Kultur auch der Umgang mit Traditionen, Gebräuchen und der Religion. Die tiefe Verwurzelung der einheimischen Bevölkerung in diesen Bereichen wurde von den Teilnehmern nicht selten sowohl als beeindruckend als auch als zu verbindlich und dadurch eher beängstigend erlebt.
Im Hinblick auf militärische Organisationsstrukturen und -abläufe wurden von etwa drei Vierteln der Teilnehmer die flachen Hierarchien innerhalb der Einsatzkontingente als Stärkung eigener Autonomie und eigener Handlungsspielräume empfunden. Dies führte zu einer Aufwertung des eigenen Selbstwertes und trug dazu bei, dass die Tätigkeiten im Einsatz mit deutlich höherer Sinngebung bewertet werden konnten: „Im Einsatz, da waren wir alle gleich. Wir haben am gleichen Tisch gesessen und uns auf Augenhöhe unterhalten. Das ist hier im Inland oft anders.“
Verschiedene weitere Aspekte des Einsatzgeschehens wurden als einschneidend für eigene Wertorientierungen erlebt: Die stetige Bedrohung des eigenen Lebens sowie der Gesundheit führte zu einer zum Teil ängstlich geprägten Verunsicherung im Hinblick auf die Selbstverständlichkeit von Sicherheit und Wohlbefinden. Auf der anderen Seite stärkte diese Erfahrung auch die Wertschätzung und den Stellenwert von Gesundheit: „Ich hätte dort unten jederzeit sterben können. Auch heute denke ich häufiger über den Tod nach als vor dem Einsatz, freue mich aber auch über jeden Tag viel intensiver.“
Von etwa einem Drittel der Befragten wurde das Verhalten von Vorgesetzten kritisch dargestellt. Zwar gab es auch immer wieder Berichte von vorbildhaftem Verhalten, es dominierten jedoch eher problematische Aspekte. Vorgesetzte, die noch in der Einsatzvorbereitung im Inland eher idealisiert worden waren, wurden nun als überfordert erlebt. Dies lag unter anderem an Befehlen, die vermeintlich die Sicherheit von Untergebenen nicht genügend berücksichtigt hätten: „Da schicken die uns einfach raus, um ein IED (improvisierter Sprengkörper) zu erkunden, obwohl die wussten, dass die jederzeit hochgehen können.“ Dazu kamen Vorwürfe, dass Vorgesetzte an ihren Untergebenen zu wenig interessiert gewesen seien und aus Karrieregründen Fehler hätten vermeiden wollen. Dadurch seien aber auch wichtige Entscheidungen verzögert worden. Unterstützung und Anerkennung seien eher zu wenig erfolgt.
Aber auch eine Auseinandersetzung mit eigenem moralisch relevantem Fehlverhalten wurde thematisiert. Im Vordergrund standen Zweifel, in verschiedenen kritischen Situationen nicht ausreichend professionell bzw. couragiert reagiert oder geholfen zu haben. Dies betraf beispielsweise das Erleben von Armut in der Zivilbevölkerung (vor allem von Kindern), von schweren Verkehrsunfällen mit Verletzungen oder Todesfolge sowie auch von Gewalttaten in der Bevölkerung: „Einmal mussten wir eine Steinigung einer Ehebrecherin miterleben. Wir kamen zufällig in einem Dorf dazu, durften das aber nicht verhindern, um die Dorfbevölkerung nicht zu provozieren.“
Als besonders schwerwiegend wurde es eingeschätzt, wenn die Notwendigkeit bestand, Menschen zu töten oder zu verletzen (etwa ein Fünftel der Teilnehmer). Dies zog unter anderem innere Konflikte im Hinblick auf humanitäre oder christliche Wertorientierungen nach sich. Genauso schwerwiegend konnte es sein, wenn Tötungen nicht verhindert werden konnten (zum Beispiel wenn Kameraden erschossen wurden oder auch zivile Opfer von Kampfhandlungen zu beklagen waren): „Einmal haben die ANAs (afghanische Armee) ein ganzes Dorf ausradiert, in dem der Taliban vermutet wurde. Wir konnten das nicht verhindern. Hinterher habe ich die vielen Leichen gesehen. Da musste ich mich übergeben.“
Veränderungen von Wertorientierungen durch Einsatzerlebnisse
Drei Viertel der Befragten gaben an, dass sich persönliche Wert-orientierungen im Verlauf und in der Folge ihrer Auslands-einsätze gewandelt hätten. Teilweise seien diese Veränderungen von den Soldaten selbst bemerkt worden, zum Teil auch nur von ihrer Umgebung.
Im Vordergrund standen die folgenden Hauptkategorien:
- sinkender Stellenwert materieller Güter,
- steigender Stellenwert immaterieller Güter,
- steigender Stellenwert kameradschaftlicher Beziehungen und Verpflichtungen im dienstlichen und familiärer / freundschaftlicher Kontakte im privaten Bereich,
- stärkere Fürsorge gegenüber Kameraden, insbesondere im / aus dem Einsatz,
- stärkere Fürsorge gegenüber der Familie,
- erhöhter Stellenwert von Kontrolle, Ordentlichkeit und Pflichtgefühl,
- erhöhter Stellenwert von Sport als Quelle des Selbstwertgefühls,
- Entwicklung oder Stärkung religiöser und/oder weltanschaulicher Bezüge,
- Betonung hedonistischen Genussverhaltens.
Insgesamt fand sich eine betontere – unter Umständen auch kompromisslosere – Haltung in der Wahrnehmung und Vertretung eigener Wert- und Normsysteme.
Viele Soldaten berichteten, sie seien mit eher materiell geprägten Wertorientierungen in den Auslandseinsatz gegangen (zum Beispiel Erwerb eines teuren Autos von der Auslandszulage), würden aber seit dem Ende des Auslandseinsatzes deren Bedeutung sehr in Frage stellen. Stattdessen stünden nun immaterielle Werte deutlich mehr im Vordergrund, wie beispielsweise der nahe Kontakt zur Primärfamilie, dem Freundeskreis, der eigenen Familie und auch der regionalen Herkunft. Ein Teilnehmer gab an: „Vorher war mir nur das Auto wichtig, nach dem Einsatz wurde mir klar, welche Bedeutung meine Freundin für mich hat, und dadurch hat sich unsere Beziehung sehr verbessert.“
Damit ging meist parallel einher, dass der Stellenwert militärischer Kameradschaft deutlich höher wurde, und war damit verbunden, sich gegenüber den Kameraden mehr verantwortlich zu fühlen. Zum einen bezog sich dieses auf noch nicht einsatzerfahrene Kameraden, denen man helfen wollte, gut ausgebildet und vorbereitet zu werden. Zum anderen war auch ein zum Teil jahrelang währendes Verpflichtungserleben gegenüber ehemaligen Einsatzkameraden zu beobachten, bis hin zu konkreten Hilfeleistungen in Notfällen. Ein Kampftruppensoldat (Panzergrenadier) bemerkte: „Seit mich die Kameraden der Einheit XY damals rausgehauen haben, sind das ganz besondere Menschen für mich. Das werde ich denen nie vergessen, die können jederzeit zu mir kommen.“
Die intensiveren familiären Bindungen äußerten sich in einigen Fällen (etwa ein Zehntel) auch als verstärktes Kontroll- und Sicherheitsbedürfnis, insbesondere gegenüber eigenen Kindern. Dies werde von den Familien zum Teil als Überkontrolle und Einengung wahrgenommen. Ein Soldat berichtete, nach dem Einsatz seinem Sohn nur noch Vorschriften zu machen und ihn nichts mehr alleine unternehmen zu lassen. Dadurch sei es bereits verstärkt zu Streitigkeiten gekommen.
In drei Fällen berichteten Teilnehmer, zunehmend hedonistische Genüsse zu suchen: „Ich lebte nach dem Einsatz, als sei es der letzte Tag. Sex, Drugs, Rock´n Roll.“
Religiöse und weltanschauliche Bezüge verstärkten sich zwar ebenfalls seltener (ca. ein Zehntel). Von etwa zwei Dritteln der Soldaten wurde aber berichtet, dass sie ihre Wertvorstellungen betonter und unter Umständen kompromissloser vertreten würden. Ein Transportsoldat äußerte sich wie folgt: „Ich habe in meinem Einsatz viel kämpfen müssen. Jeder Fehler hätte mich das Leben kosten können. Seitdem reagiere ich auf Fehler meiner Kameraden viel aggressiver, weil ich weiß, was da alles passieren kann.“
Psychosoziale Folgen und Reaktionen durch Veränderungen von Wertorientierungen und Einsatzerlebnisse
In diesem Bereich ließen sich bei den Teilnehmern sowohl Folgen bereits während des Auslandseinsatzes als auch in der Zeit nach der Rückkehr feststellen.
Folgen während des Einsatzes waren:
- Mitgefühl mit dem Leid der lokalen Zivilbevölkerung / Erleben von Hilflosigkeit,
- Bedürfnis nach Hilfeleistung und Engagement in Hilfsprojekten,
- Schutz / Abwehr vor zu starker emotionaler Belastung,
- Gefühl der Sinnlosigkeit des Einsatzes,
- Wut auf die einheimische Bevölkerung,
- Misstrauen gegenüber neuem militärischem Personal im Einsatzgebiet.
Negative Einstellungen (vor allem Wut und Enttäuschung) gegenüber der Zivilbevölkerung wurden von etwa der Hälfte der Teilnehmer berichtet, gelegentlich gekoppelt mit Schamgefühlen darüber. Grund war nicht selten die erlebte oder beobachtete Gewalt gegen Kameraden oder auch einheimische Frauen und Kinder. Dieser Ärger drückte sich nicht selten in abwertenden Bezeichnungen für Einheimische aus („Klingonen“, „Knispel“). Zusätzlich wurden Affekte von Wut und Sinnlosigkeit deutlich, wenn beschrieben wurde, dass feindliche Kräfte (Taliban) nach Abzug deutscher Truppen von bestimmten Standorten wieder vorrückten und beispielsweise auch das ehemalige Feldlager in Feyzabad besetzten.
Eine gegenteilige Variante war eine starke innere Verbundenheit mit der Zivilbevölkerung und deren Leiden. Ein Soldat der Feldjägertruppe, der häufig in Afghanistan unterwegs war, berichtete: „Nach einiger Zeit konnte ich das Elend nicht mehr ertragen. Ich schloss mich der Organisation „Lachen/Helfen“[1] an und konnte dadurch tatsächlich an einigen guten Projekten mitwirken. Unter anderem statteten wir eine Schule mit Materialien aus. Das gab mir ein sehr gutes Gefühl.“
Andere wiederum gaben an, sich vor der hohen emotionalen Belastung, die der Kontakt zur Zivilbevölkerung mit sich brachte, geschützt zu haben, indem sie Begegnungen so weit wie möglich vermieden.
Auch nach dem Auslandseinsatz kamen verschiedene psychosoziale Folgen und Reaktionen zur Geltung, die sich in den Gruppendiskussionen teilweise nur schwer von den Symptomen psychischer Erkrankungen unterscheiden ließen. Als Kriterium wurde unter anderem diskutiert, welche der wahrgenommenen Veränderungen vor allem auf wertebezogene Gedankeninhalte zurückzuführen waren.
Im Einzelnen wurden benannt:
- eine kritischere Haltung gegenüber Vorgesetzten im Inland,
- Aggressivität und Ungeduld gegenüber Kameraden und Vorgesetzten,
- Erlebnis des Einsatzes als einzig wahre Realität, gekoppelt mit dem Wunsch der Rückkehr dorthin,
- Stolz auf neue Erfahrungen, Überlegenheitsgefühl gegenüber Kameraden ohne Einsatz oder auch gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung,
- Entfremdung von den sozialen Beziehungsstrukturen im Inland,
- allgemeines Misstrauen bzw. ein Gefühl, nicht verstanden zu werden,
- Enttäuschung, Verbitterung, vor allem gegenüber der Bundeswehr,
- allgemeines Anspannungsgefühl,
- somatoforme Symptome.
Eine breit feststellbare Grundhaltung der Soldaten nach Auslandseinsatz war die Wahrnehmung des Einsatzes als das „wirkliche Leben“ trotz aller psychischen und physischen Belastungen, verbunden mit dem Wunsch nach einer baldigen Rückkehr in den Einsatz („Einsatzjunkies“). Ein Kampftruppensoldat äußerte: „Alles war so intensiv und so dicht an mir dran, das Leben im Inland erscheint mir demgegenüber blass und künstlich. Am liebsten würde ich sofort zurück.“ Dies war nicht selten verbunden mit einem Entfremdungsgefühl von den Bezugssystemen der militärischen Einheit sowie von Freundeskreis und Familie nach der Rückkehr nach Deutschland.
Gegenüber Vorgesetzten war dann eine erheblich kritischere Haltung zu beobachten: Die erneute Einordnung in Befehlshierarchien der Inlandsroutine, das Erlebnis von Bürokratie und ähnlichen Elemente führten zu erheblicher Wut, insbesondere wenn bei Dienstgradhöheren keine Einsatzerfahrung vorhanden war: „Ich erlebte meine Vorgesetzten, die nicht im Einsatz waren, als Schwächlinge und nahm sie nicht mehr ernst. Wenn sie mir Befehle gaben, habe ich diese zwar meist ausgeführt, meinen Widerwillen dann aber deutlich zum Ausdruck gebracht.“
Diese Entfremdungsprozesse waren jedoch nicht immer mit negativen Gefühlen verbunden. Es gab auch mehrere Fälle, die einen ausgesprochenen Stolz auf ihre Veränderungen äußerten. Dieser beruhte darauf, neue Herausforderungen, die im Inland in dieser Art nicht vorkommen, erfolgreich bewältigt zu haben.
Auf der Symptomebene wurden am häufigsten Aggressivität, Misstrauen, Gefühl des Unverstanden-Seins sowie Enttäuschung und Verbitterung benannt. Letztere kamen vor allem dann zur Geltung, wenn es zur Ablehnung von Anerkennungen (zum Beispiel einer Wehrdienstbeschädigung) kam. Ein Soldat, der fünfmal im Auslandseinsatz war, schilderte: „Als die Ablehnung meiner Wehrdienstbeschädigung kam, fühlte ich mich verraten. Ich bin so oft für mein Land im Einsatz gewesen, und dann wird mir das noch nicht einmal symbolisch anerkannt.“
Bei etwa einem Drittel der Befragten spielten auch somatoforme Symptome eine Rolle, die jedoch nicht immer Störungsniveau erreichten. Das dargebotene Spektrum war vielfältig. Neben unspezifischer Vegetativsymptomatik waren chronifizierte Schmerzen häufig. Markantes Beispiel war ein Patient, dem mehrere gesunde Zähne wegen eines chronischen Kieferschmerzes gezogen wurden. Ein weiteres Beispiel war ein Soldat mit etwa 50 kg Gewichtszunahme nach dem Einsatz, die er auf ein „Frustfressen“ zurückführte.
Adaptive und mal-adaptive Copingstrategien
Die beschriebenen Folgen moralischer Verletzungen und des Wandels von Wertorientierungen führten zu verschiedenen adaptiven und maladaptiven Copingstrategien bei den betroffenen Soldaten:
- konstruktives, zum Teil ehrenamtliches soziales Engagement,
- überwertiges soziales oder gesundheitliches Engagement,
- verschobene Schwerpunktsetzung in der Lebensplanung, zum Beispiel mit Wunsch nach heimatnaher Versetzung,
- Ablösung / Scheidung vom Ehepartner,
- Resignation und innere Kündigung,
- erhöhte Bedürftigkeit (Zuwendung / Aufmerksamkeit) mit Regressionstendenzen,
- „Selbstheilungsversuche“ durch Missbrauch von Suchtmitteln (insbesondere Alkohol),
- mangelnde Akzeptanz und Widerstand gegenüber therapeutischen Maßnahmen.
Die Enttäuschung, die einige Soldaten bei ihrer Einsatzteilnahme durch Vorgesetzte oder die Bundeswehr allgemein empfunden hatten, führte in seltenen Fällen (etwa ein Fünftel) zu einem Gefühl der Resignation sowie der inneren Kündigung. Die Betroffenen fühlten sich von der Bundeswehr verraten und waren nicht mehr bereit, mehr Engagement als unbedingt notwendig in ihre dienstliche Tätigkeit zu investieren. Zum Teil war dies mit langen Krankschreibungszeiten verbunden, teilweise aber auch mit einem erhöhten Suchtmittelmissbrauch mit erkennbaren autodestruktiven Tendenzen. Ein Kampftruppensoldat kann wie folgt zitiert werden: „Früher war ich ein sehr engagierter Soldat. Heute ist mir die Bundeswehr weitgehend egal, das ist nur noch ein Job. Ich mache das Nötigste, aber das macht mir keine Freude mehr, eine Hoffnung auf Änderung habe ich nicht.“
Eine weitere Gruppe reagierte deutlich stärker aktiv und external: Die Bundeswehr bietet verschiedene sekundär-präventive präklinische Hilfsmaßnahmen für einsatzverwundete oder auch psychisch belastete Soldaten an. Diese Gruppe hatte Maßnahmen dieser Art bereits mehrfach genutzt und empfand dies als Wahrnehmen eines ihnen zustehenden Rechtes. Die Betroffenen hatten gelegentlich (etwa ein Drittel) auch eine kritische, zum Teil fordernde Haltung gegenüber der Bundeswehr im Hinblick auf versorgungsmedizinische Leistungen. Diese waren in einigen Fällen auch schon Gegenstand von Eingaben an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages gewesen oder führten zu vorwurfsvoller Berichterstattung in lokalen und überregionalen Medien. Wiederum andere hatten Kontakte zur Politik gesucht und traten dort für Rechte einsatzversehrter Soldaten ein oder zeigten ein ehrenamtliches Engagement. Dazu gehörte auch die Mitarbeit in Opferhilfevereinen.
Eine Umorientierung in persönlichen Lebensstilen war ebenfalls Thema in den Gesprächen. Der bereits erwähnte verstärkte Bezug zu familiären Strukturen führte zu dem Wunsch nach heimatnaher Versetzung, um Wochenendbeziehungen zu vermeiden (etwa ein Drittel der Befragten). Dafür war eine hohe Bereitschaft erkennbar, dafür auch Nachteile in der Karriereentwicklung in Kauf zu nehmen: „Meine Familie ist mir jetzt das Wichtigste. Früher wollte ich immer General werden, das ist mir jetzt aber egal. Ich weiß, was ich an meiner Familie habe und will nur noch in ihrer Nähe sein.“
Aber auch gegenteilige Reaktionen wurden berichtet. Eine relevante Gruppe (ein Drittel) der Antwortenden lebte bereits in Trennung oder Scheidung von dem Partner oder der Partnerin, meist deshalb, weil sich durch die persönlichen Veränderungen eine zunehmende Distanz in der Partnerschaft entwickelt hatte.
Schlussfolgerungen
Die vorliegende Untersuchung hatte zum Ziel, mit einer qualitativen Erhebungsmethodik mit Fokusgruppen ein differenziertes Bild zu Wertorientierungen und moralischen Verletzungen im Zusammenhang mit einsatzbedingten psychischen Belastungen und Erkrankungen zu entwickeln. Überraschend für die Durchführenden waren eine schnell entstehende Kohäsion und ein gegenseitiges Verständnis in den Gruppen. Diese waren auch über verschiedene Dienstgradgruppen und Bildungsniveaus hinweg zu bemerken und dokumentierten, dass wertebezogene und moralische Aspekte des Einsatzgeschehens offenbar auch jenseits sozialer Grenzen integrierend wirken.
Die überwiegende Mehrzahl der befragten Soldaten hatte im Einsatz moralisch verletzende Situationen erlebt (Moral Injury). Zum Befragungszeitpunkt, der zum Teil Jahre nach den Geschehnissen lag, waren diese noch ausgesprochen präsent und hatten vielfältige Reaktionsweisen und Veränderungen zur Folge. Dazu gehörte ein Wandel persönlicher Wertorientierungen, der sowohl positive als auch negative Aspekte für die Soldaten beinhaltete, nicht selten aber die Adaptation an die sozialen Strukturen im Inland sowohl im privaten als auch im militärischen Umfeld erschwerten. Zudem wurde immer wieder eine enge inhaltliche Verbindung zwischen moralischen Verletzungen und psychischen Belastungen bzw. Erkrankungen deutlich.
Stereotype Muster, die verallgemeinernd auf die Zusammenhänge zwischen Ereignis, psychosozialer Reaktion und gegebenenfalls Erkrankung hindeuten würden, wurden nicht gefunden. Bereits SUNDBERG [11] wies darauf hin, dass die individuelle Interaktion zwischen einem erlebten militärischen Einsatzereignis und dem Wertesystem des Betroffenen für die möglichen Folgen entscheidender zu sein scheint, als das Ereignis selbst.
Andererseits wurden in verschiedenen weiteren militärischen Untersuchungen durchaus auch statistisch abbildbare Assoziationen beschrieben: So führten Tötungen von Gegnern regelmäßig zu einer erhöhten Symptomschwere der posttraumatischen Belastungsstörung bzw. auch zu Depressionen, Suizidalität und Suchtverhalten [4, 5, 6]. Zusätzlich konnten Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit der Teilnahme an Kampfhandlungen und dem Verüben von Grausamkeiten bzw. Kriegsverbrechen hergestellt werden [12]. Letztere spielten in der hier befragten Stichprobe keine Rolle, was unter anderem mit unterschiedlichen Einsatzspektren zu tun haben könnte.
In einer Erhebung bei knapp 200 deutschen Soldaten am Ende ihres Auslandseinsatzes in Afghanistan stellten sich Zusammenhänge zwischen Einsatzerlebnissen, die vor allem auf den Umgang mit der lokalen Bevölkerung fokussierten (wie Gewalttaten in der Bevölkerung, Feindseligkeiten und Ähnliches) zu moralischen Verletzungen und psychischen Erkrankungen heraus. Der dominierende Typ dieser Verletzungen war nach dem Konzept des Moral Injury nach Nash [3] eine schwerwiegende Abweichung von moralischen Grundsätzen durch moralische Autoritäten wie Vorgesetzte. Dieses Erleben war wiederum signifikant mit der Symptomschwere der posttraumatischen Belastungsstörung, Depressionen und Alkoholabhängigkeit assoziiert [Hellenthal et al., Einsatzerlebnisse, Moralische Verletzungen, Werte und psychische Erkrankungen bei Einsatzsoldaten der Bundeswehr, Publikation in Vorbereitung]
In zwei neueren Studien an einsatzerfahrenen deutschen Soldaten drei bis sechs Monate nach dem Einsatz wurden Verknüpfungen zwischen Wertorientierungen und psychischen Symptomen gefunden. So waren Werte wie Hedonismus und Stimula-tion mit einer verminderten Häufigkeit und Schweregrad posttraumatischer Symptombildung wie der posttraumatischen Belastungsstörung assoziiert, Universalismus, Tradition und Benevolenz führten hingegen offenbar zu schwerwiegenderen Erkrankungen [9].
Ähnlich heterogene Befunde existieren im Hinblick auf den Wandel von Wertorientierungen durch Teilnahme an Auslandseinsätzen. SUNDBERG [11] fand bei 320 schwedischen Soldaten, die vor und nach einem sechsmonatigen Auslandseinsatz in Afghanistan untersucht wurden, keine relevanten Änderungen von persönlichen Wertorientierungen, gemessen mit dem Portrait Values Questionnaire. Allerdings bestand ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Teilnahme an Kampfhandlungen und dem Phänomen des Wertewandels, der aber nur schwach ausgeprägt war.
Auf der anderen Seite beschrieb eine Studie an jungen israelischen Bürgern im Zusammenhang mit dem Libanonkrieg deutlichere Werteveränderungen [13]. BARDI [14] zeigte zudem Zusammenhänge zwischen Life-Events und der Test-Retest-Reliabilität von Messinstrumenten für Wertorientierungen, die auf einen Einfluss externer Faktoren auf Werte hindeuteten.
Ein weiterer Hinweis auf Werteveränderungen nach Kriegseinwirkung ergab sich in einer Studie an 7 500 Veteranen des Zweiten Weltkriegs, die WANSINK [15] durchführte. Veteranen, die während des Krieges in schwere Kampfhandlungen verwickelt waren und die Kriegserfahrung negativ bewerteten, besuchten signifikant häufiger kirchliche Einrichtungen und Veranstaltungen als ihre Kameraden, die den Krieg eher positiv erfahren hatten.
Möglicherweise bildet sich in der Vielfältigkeit der Befunde auch ein Unterschied zwischen quantitativer und qualitativer Erhebungsmethodik ab: Quantitative Methoden unterliegen durch die verwendeten Instrumente einer stärkeren Standardisierung, aber auch Beschränkung, und können dadurch gegebenenfalls nicht alle Aspekte komplexer kausaler Beziehungen abbilden, die in qualitativen Interviews erfasst werden können.
Ein zentrales Element der hier präsentierten Daten war allerdings gut mit der vorbestehenden Literatur zu vereinbaren: Die beschriebenen positiven Veränderungen nach dem Auslandseinsatz stimmten in vielen Punkten mit dem Konzept des posttraumatischen Wachstums nach TEDESCHI und CALHOUN [7] überein. Damit werden Entwicklungen charakterisiert, die bei traumatisierten Menschen einen Prozess der Reflexion und Sinngebung anstoßen können. Insbesondere in den Bereichen Intensivierung der Wertschätzung des Lebens, der persönlichen Beziehungen und der Bewusstwerdung eigener Stärken waren Parallelen zu der vorliegenden Studie feststellbar.
Limitationen
Die Aussagekraft dieser Untersuchung ist begrenzt, da die Probanden selektiv aus einer klinischen Stichprobe mit bereits bestehenden psychischen Erkrankungen gewonnen wurden. Somit können die Ergebnisse nur eingeschränkt auf die Gesamtheit der einsatzerfahrenen Soldaten übertragen werden. Ein weiterer Selektionseffekt bestand darin, dass insbesondere die Auffassung derjenigen Soldaten wiedergegeben wurde, die diese schwierige Thematik ausreichend verbalisieren konnten.
Auf der anderen Seite ist aber durch die verschiedenen, sehr offenen Aussagen ein differenziertes Gesamtbild entstanden, das mutmaßlich auch viele Konfliktfelder nicht erkrankter Soldaten nach Auslandseinsätzen abbildet. Zur Verifizierung dieser Hypothese sollten Fokusgruppen mit psychisch unbelasteten Einsatzsoldaten mit vergleichbaren Leitfragen durchgeführt werden.
Methodisch war es nicht selten schwierig, die beobachteten Veränderungen auch zweifelsfrei mit Wertorientierungen und moralischen Verletzungen in Beziehung zu setzen; dies betraf auch die klare Differenzierung zwischen Ursachen und Folgen dieser Prozesse.
Fazit
Die im Rahmen dieser qualitativen Studie erhaltenen Ergebnisse zeichnen ein differenziertes Bild über Veränderungen und moralische Folgen von Auslandseinsätzen bei Bundeswehrsoldaten und deren Verbindung mit psychischen Erkrankungen. Da moralische Verletzungen und ein Wandel von Wertorientierungen offenbar zu erheblichem psychischem Leidensdruck führen können bzw. anderweitige Stressoren in ihrem Einfluss deutlich verstärken, sollten diese Aspekte der Verarbeitung von Einsatzerlebnissen einen größeren Stellenwert sowohl in der präventiven Einsatzvorbereitung („Moral Fitness“) als auch in therapeutischen Konzeptionen der Bundeswehr finden. Erste Ansätze integrieren bereits moralische Verletzungen und den Wandel von Wertorientierungen in therapeutische Gruppenkonzepte bei einsatztraumatisierten deutschen und auch amerikanischen Soldaten [16]. Eine Evaluation und Ausweitung ist geplant.
Kernaussagen
- Psychische Erkrankungen bei Soldaten nach Auslandseinsätzen gehen häufig mit moralischen Verletzungen und Veränderungen von Wertorientierungen einher.
- Auslösend sind interkulturelle Konfliktfelder, aber auch Problematiken innerhalb der Kontingentstrukturen.
- Zu psychischen Reaktionen kann es schon während des Einsatzes kommen, meist geschieht dies aber in der Folgezeit.
- Bewältigungsbestrebungen der Betroffenen sind vielfältig und reichen von konstruktiven Wachstumsprozessen bis hin zu autodestruktiven Mechanismen.
- Die Thematik sollte einen deutlich verstärkten Eingang in präventive und therapeutische Konzepte der Bundeswehr finden.
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Originalarbeit
Eingereicht: 04.10.2015
Revidierte Fassung angenommen: 20.10.2015
Zitierweise:
Zimmermann P, Fischer C, Lorenz S, Alliger-Horn C: Werteveränderungen und moralische Verletzungen bei im Einsatz psychisch erkrankten Soldaten. Wehrmedizinische Monatsschrift 2016; 60(1): 7-14.
Eine englische Version des Textes finden Sie hier.
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Der Verein Lachen Helfen e. V. ist eine Initiative deutscher Soldaten und Polizisten für Kinder in Kriegs- und Einsatzgebieten.
Datum: 20.01.2016
Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2016/1