TRANSKULTURELLE MEDIZIN IM AFGHANISTAN-EINSATZ
Die unmittelbarste Tatsache des Bewusstseins des Menschen lautet: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. (...) Zugleich erlebt der denkend gewordene Mensch die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegen zu bringen wie dem eigenen. Er erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das notwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen. (...) Es gibt für Dich keine Fremden, sondern nur Menschen deren Wohl und Wehe Dir angelegen sein muss.«
Albert Schweitzer
Anlass zur Erstellung des aktuellen Artikels war ein sich bei mir im Verlauf meines dritten Afghanistan-Einsatzes während der vergangenen acht Jahre entwickelndes Unverständnis bei der Betreuung und Behandlung afghanischer Patienten in der FU 6 für Neurologie und Psychiatrie, der Medical Treatment Facility – Camp Marmal im 21. Einsatzkontingent ISAF in Mazar-e-Sharif/Afghanistan. Viele der Reaktionsweisen afghanischer Patienten schienen mir fremd und so suchte ich die transkulturellen Hintergründe zu recherchieren, die mir ein besseres Verständnis für die Erlebensweisen der afghanischen Patienten ermöglichen sollten.
Einleitung
Viele der von mir untersuchten Patienten/ Innen betraten in der Regel in Begleitung, bei Frauen häufig in Begleitung des Ehemannes oder eines männlichen Familienangehörigen, die Ambulanz.
Eine strukturierte Anamneseerhebung im westeuropäischen Sinne war häufig, auch bei nachhaltiger Befragung, die vom Gegenüber eher als befremdlich empfunden wurde, nicht möglich. Es wurden häufig unspezifische Symptome wie z.B. ein unsystematisierter Schwindel vorgetragen. Im Verlauf des Gespräches wurden nicht selten psychosoziale Probleme wie intrafamiliäre Konflikte vorgetragen, die man an anderer Stelle, außerhalb der Klinik, nicht thematisieren kann. So trug eine 18-jährige Patientin, die in Begleitung eines männlichen Mitgliedes der Familie zur Begutachtung erschien, vor, dass sie unter Kopfschmerzen leide, dies seitdem ihre Familie es abgelehnt habe, dass sie einen von ihr gewünschten Partner heiraten könne. Die Einbindung und das Ausgeliefertsein in das familiäre Geflecht und das Sozialgefüge spielen in Afghanistan eine zentrale Rolle in der eigenen Erlebnissphäre. Bis heute gibt es die Selbstverbrennung meist jugendlicher Frauen, die nicht den von der Familie vorgeschlagenen Mann heiraten wollen.
Auch viele ältere Patientinnen berichteten über Aspekte der Sorgen, Belastungen und Überforderungen und daraus resultierender somatoformer Störungen. Neben Kopfschmerzen wurden auch häufig depressive Symptome und Schlafstörungen als bestehend beklagt.
Um etwas über die medizinischen, paramedizinischen und soziomedizinischen Aspekte in Afghanistan zu erfahren und die vorherrschenden Verhaltensweisen und Einstellungen nachvollziehbarer zu machen, wurden mehrere Dolmetscher und ein angehender afghanischer Arzt befragt. Im neurologischen Fachgebiet wurden überwiegend schwer chronisch erkrankte Patienten vorgestellt. Dabei bestand eine Tendenz, die eingetretene Schädigung des Nervensystems als eher in jüngster Zeit akut eingetreten erscheinen zu lassen und durch den Vortrag, es sei »akut«, eine bessere Behandlungsprognose zu erhoffen. Es wurden relativ viele Patienten mit Hirnparenchymdefekten nach Schädel-Hirn-Trauma, nach Meningoencephalitis oder auch als Folge postpartaler Schädigung vorgestellt.
Behandlungsprinzipien
In der Interaktion und in der Form der Behandlung der afghanischen und multiethnischen Patienten eines Einsatzlazaretts gelten prinzipiell die Prinzipien, die auch bei jeder Form der medizinischen Behandlung in Deutschland gelten sollten. Man respektiert den Patienten in der Weise, wie er zur Untersuchung erscheint. Es wird regelmäßig von Patienten akzeptiert, wenn die Anzahl der den/die Patienten/in begleitenden Personen auf eine Person begrenzt wird. Wartezeiten sollten nicht als Ausdruck einer Hierarchie oder von Macht missbraucht werden, sondern sich auf das durch die klinischen Abläufe
Vorgegebene beschränken. Afghanische Patienten erdulden zwar stundenlange Wartezeiten, spüren aber sehr sensibel, wenn ständig andere Patienten vorgezogen werden. Nicht nur der aus Deutschland stammende Arzt, sondern die Ärzte im Allgemeinen und ganz besonders die Ärzte des Einsatzlazarettes genießen ein hohes Vertrauen. Dies findet Ausdruck darin, auch ganz persönliche Dinge mitteilen zu können, über die man in der Familie nicht redet, weil sie sich aus familiären Problemen erfolgen und auch nicht außerhalb der Familie darüber reden zu können, da sie eben die Familie betreffen und man Familiäres nicht nach außen trägt. Dem Vortrag, der im westeuropäischen Sinne häufig als Anamneseerhebung aufgefasst wird, kommt hier auch zwangsläufig eine kathartische psychotherapeutische Bedeutung zu. Das vorgetragene Symptom ist häufig, insbesondere bei geringer Spezifität, nicht Symptom eines Syndroms, welches zu einer Diagnose führt, sondern Ausdruck einer Wahrnehmung, eines Empfindens. Wobei wir in unserer von ICD 10 geprägten Diagnosestellung dann viel zu häufig zur Diagnose einer somatoformen Störung gelangen, dies allerdings auf der Basis der Unkenntnis der Lebensbedingungen, der medizinischen Versorgungsbedingungen und der kulturkreisspezifischen unterschiedlichen Schicksalswahrnehmung. In Afghanistan ist die Krankheitsverarbeitung deutlich weniger auf das betroffene Individuum ausgerichtet, die eigene krankheitsbedingte Betroffenheit wird vielmehr aus der Sicht geprägt: Was bedeutet meine Krankheit für die Familie? Belaste ich meine Familie durch meine Krankheit? Die zuweilen geübte Praxis, dem Nichtverstehen mit der Gabe von Multivitaminen, Aspirin oder Placebos zu begegnen, sollte nicht angewandt werden. Es sollte auf der anderen Seite aber auch eine klare Grenzziehung erfolgen, nachdem, wenn kein objektivierbarer Befund zu erheben ist, auch keine apparative Zusatzdiagnostik wie Computertomographie, Sonographie oder Labor indiziert ist. Der Arzt aus Deutschland kann nicht Schicksalswalter sein und wird leider häufig, wenn er nicht konkret Hilfe leisten kann, auf das örtliche medizinische Versorgungssystem zurück verweisen müssen, alleine um die Kapazitäten eines Einsatzlazaretts nicht zu überfordern. Man sollte auch mit den Patienten die Grenzen des Möglichen besprechen. Es kann im Einzelfall sehr problematisch sein, eine komplexe Behandlung einzuleiten, die dann von den Kontingentnachfolgern als nicht tragfähig erachtet wird, und die im lokalen Markt nicht oder nicht zu akzeptablen Preisen erhältlich ist. Es gilt auch, die begrenzten Kapazitäten eines Einsatzlazaretts nicht zu überfordern. Auch sollte man berücksichtigen, dass es im Einsatz und damit auch im Einsatzlazarett Zeiten geben kann, wo keine »Outpatients« versorgt werden können. Deshalb erscheint mir die rechtzeitige Anbindung innerhalb des afghanischen medizinischen Versorgungssystems von wesentlicher Bedeutung.Versorgungssystem in Afghanistan
Das Humanmedizinstudium dauert insgesamt sieben Jahre. Nach einem Basisstudium von drei Jahren ist man »Nurse«. Nach dem siebenjährigen Studium erhält man ein Diplom, kann sich dann als praktischer Arzt niederlassen. Die Facharztweiterbildung dauert drei weitere Jahre. Im Grundstudium bestehen Ausbildungsmöglichkeiten für Ultraschall, EKG, Röntgen und Labor. Spezialuntersuchungen wie Computertomographie und Kernspintomographie werden in der Regel im Ausland in Pakistan oder Indien durchgeführt und können auch nur dort erlernt werden. Das Governmental-Studium der Humanmedizin ist kostenlos. Das Studium an einer Privatuniversität kostet 2000 $ pro Studienjahr. Das öffentliche Gesundheitswesen in Afghanistan ist wie folgt gegliedert: In der Fläche verbreitet gibt es sogenannte Governmental Medical Aid Center/Subcenter unter Leitung einer Medical Nurse, dort können nur einfache paramedizinische Behandlungsmaßnahmen, z.B. Wundversorgung etc., durchgeführt werden. Die nächste Stufe ist das Basic Health Center, dieses wird von einem Arzt geleitet. An Personal wird dort zusätzlich eine Nurse beschäftigt, der Arzt ist General Practitioner (Allgemeinarzt). Im Basic Health Center ist auch eine Hebamme und ein Pharmazeut. Die ausgegebenen Medikamente sind frei. Die nächste Versorgungsstufe ist das Comprehensive Health Center, dort erfolgen im Gegensatz zum Basic Health Center, wo es in der Regel nur einen männlichen Allgemeinarzt gibt, die Behandlung der männlichen Patienten erfolgt hier durch einen Arzt, die der weiblichen Patientinnen durch eine Ärztin. Das Comprehensive Health Center verfügt über Nurses, eine Hebamme, einen Pharmazeuten und ein Labor. Die nächste Versorgungsstufe ist das District Hospital, dieses verfügt in der Regel über 20 bis 50 Betten und hat Abteilungen für Innere Medizin, Chirurgie und Dermatologie. Die Stufe der Maximalversorgung findet im City Hospital Public Health statt, ein Akutkrankenhaus je nach Größe zwischen 200 und 400 Betten, welches alle Fachgebiet vorhält. Besonderheit des afghanischen Gesundheitssystems ist zwar die prinzipielle Unentgeltlichkeit der medizinischen Versorgung. In der Realität stehen aber nur allzu häufig Polizisten am Eingang der Versorgungseinrichtungen, die den Patienten ein »Bakschisch« abnötigen, um überhaupt in die Versorgungseinrichtung zu gelangen. Auch bei allen anderen Behandlungen ist es üblich, »Eintrittsgelder« zu bezahlen.
Datum: 10.10.2010
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2010/3