ERLERNEN DES CHIRURGISCHEN HANDWERKS NACH SCHARFER GEWALT

Learning surgical skills in penetrating trauma



Aus der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie (Leitender Arzt: Oberstarzt Priv.-Doz. Dr. R. Schmidt) des Bundeswehrkrankenhauses Ulm (Chefarzt: Oberstarzt Dr. A. Kalinowski)



Thorsten Hauer und Niels Huschitt



WMM, 57. Jahrgang (Ausgabe 11/2013: S. 306-309)

Zusammenfassung



Das penetrierende Trauma kommt in Deutschland äußerst selten vor. Die Ausbildung angehender Militärchirurgen in den Behandlungsprinzipien und der Anwendung notfallchirurgischer Strategien bei der Versorgung penetrierender Verletzungen stellt somit eine besondere Herausforderung dar.

Während manuelle Fertigkeiten im Rahmen eines erweiterten Kursangebotes in Deutschland erlernt werden können, ist die tatsächliche Anwendung des Erlernten am Traumapatienten in ausreichendem Umfang nur an ausgewählten Traumazentren möglich im Ausland möglich. Das Chris Hani Baragwanath Academic Hospital in Soweto, Johannesburg, bietet hierfür ideale Voraussetzungen.
Schlagworte: Penetrierendes Trauma, Militärchirurgie, Ausbildung, chirurgische Fertigkeiten.

Summary

The incidence of penetrating trauma in Germany is extremely low. Training military surgeons in the treatment principles and strategies of emergency surgery in penetrating trauma therefore remains a major challenge. Whereas technical skills can be achieved through a comprehensive range of surgical courses, practical application of the acquired skills to the real trauma patient on a large scale can only be achieved in selected trauma centres abroad. The Chris Hani Baragwanath Academic Hospital in Soweto, Johannesburg, provides ideal conditions for this purpose.
Keywords: penetrating trauma, military surgery, training, surgical skills.


Verletzungen nach Einwirkung scharfer Gewalt folgen grundsätzlich anderen pathophysiologischen Gesetzmäßigkeiten als Verletzungen nach stumpfer Gewalt und bedürfen daher einer speziellen Behandlungstaktik. Die theoretische und praktische Ausbildung von Chirurgen der Bundeswehr erfolgt in Deutschland unter Berücksichtigung einsatzchirurgischer Besonderheiten. Grundlage jedes chirurgischen Handelns stellt dabei eine qualitativ hochwertige Facharztausbildung mit entsprechender Schwerpunktausbildung im Heimatland dar.
In Deutschland werden auch in großen überregionalen Traumazentren überwiegend Verletzungen nach stumpfer Gewalteinwirkung versorgt, der Anteil des penetrierenden Traumas bei der Versorgung Schwerverletzter liegt nach Auskunft des Traumaregisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) bei unter 5 % (1). Gewaltassoziierte Verletzungen machen davon nur einen Teil aus.

Fertigkeitsausbildung (Skill Training)

Zur praxisnahen Ausbildung von in Deutschland selten vorkommenden Verletzungsmustern haben sich in den letzten Jahren verschiedene Kursformate etabliert. Für die Bundeswehr wird der Kursus „Einsatzchirurgie für chirurgisch tätige Sanitätsoffiziere“ durchgeführt, für den zivilen Sektor veranstaltet die Akademie der Unfallchirurgie (AUC) der DGU den international zertifizierten Definitive Surgical Trauma Care-(DSTC)-Kurs. Gegenstand beider Kurse ist das Erlernen lebensrettender notfallchirurgischer Prozeduren, unter anderem auch Maßnahmen der sogenannten Damage Control Surgery. Im Rahmen eines äußerst anspruchsvollen und ausbildungsintensiven 2,5-Tage-Kurses werden die Schlüsselmanöver der Traumachirurgie am Kadaver und am narkotisierten Großtiermodell erlernt und die chirurgische Strategie und Entscheidungsprozesse werden anhand von interaktiven Fallbesprechungen eingeübt.
Der Kursus „Gefäßchirurgie für Einsatzchirurgen der Bundeswehr“ lehrt spezielle Techniken der gefäßchirurgischen Notfallversorgung. Ein weiterer Kurs „Neurotraumatologie für Chirurgen der Bundeswehr“ vermittelt die Grundprinzipien des operativen und nicht-operativen Managements von Schädel-Hirn-Verletzungen.
Das aufgezeigte Kursangebot stellt einen integralen Bestandteil dar, um grundlegende Behandlungskonzepte und manuelle Fertigkeiten zu vermitteln. Es kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass der notwendige nächste Schritt in der Ausbildung zum Militärchirurgen die tatsächliche Anwendung der erlernten operativen Techniken und Strategien am realen Traumapatienten sein muss.

Südafrikanisch-Deutsche Trauma­kooperation

In der täglichen Arbeitsroutine der Bundeswehrkrankenhäuser ist es aufgrund der Seltenheit des penetrierenden Traumas kaum möglich, die in Kursen erlernten Fertigkeiten umzusetzen. An einem großen überregionalen Traumazentrum in Deutschland werden bei circa 40 lebensrettenden Notfalloperationen pro Jahr – definiert als Abbruch der Schockraumdiagnostik mit sofortiger Notfalloperation – circa 20 – 30 Notfalllaparotomien und etwa vier Notfallthorakotomien durchgeführt. Ein unfallchirurgischer Oberarzt würde bei angenommenen sechs Rufbereitschaftsdiensten pro Monat (entspricht etwa 72 Diensten pro Jahr) in dieser simplen und wissenschaftlich nicht validierten Rechnung einmal in 13 Berufsjahren in die Situation kommen, eine Notfallthorakotomie durchführen zu müssen. Das Erleben einer penetrierenden Verletzung des Thorax oder Abdomens, die zu einer sofortigen und lebensrettenden Notfalloperation noch im Schockraum oder im Notfall-OP führt, bleibt vor diesem Hintergrund wohl eher ein seltenes und nicht planbares Ereignis.
Da das Vorkommen penetrierender Verletzungen starke regionale Unterschiede aufweist, wurde schon früh nach Möglichkeiten gesucht, deutsche Militärchirurgen im Ausland in der Versorgung von gewaltbedingten Traumen auszubilden.
Bereits 1996 wurde daher eine Vereinbarung zum Austausch von Sanitätspersonal zwischen dem Bundesministerium der Verteidigung und dem Sanitätsdienst der südafrikanischen Streitkräfte (South African Military Health Service, SAMHS) getroffen. Auf Initiative und unter Federführung von Oberfeldarzt a. D. Priv.-Doz. Dr. Dietrich Doll startete 2004 auf der Basis dieser Vereinbarung ein Projekt mit dem Ziel, deutsche Militärchirurgen in Johannesburg auszubilden. Sechs Militärchirurgen durchliefen damals dieses Ausbildungsprogramm in der Trauma Unit am Chris Hani Baragwanath Academic Hospital in Soweto, Johannesburg, bis es aus politischen Gründen von südafrikanischer Seite ausgesetzt wurde. Es folgten jahrelange intensive Bemühungen, das Projekt wiederzubeleben. Im Januar 2011 gelang schließlich die Reaktivierung. Die Wiederaufnahme des Programms war nur durch das unermüdliche Festhalten aller Beteiligten möglich geworden, allen voran des Ausbildungsleiters auf südafrikanischer Seite, Prof. Elias Degiannis, Chefarzt des Trauma Directorate am Chris Hani Baragwanath Academic Hospital der das Projekt vom ersten Tag an als Mentor und Trainer begleitet. Seitdem durchliefen 14 deutsche Teilnehmer das 3-monatige Trauma Fellowship (Stand November 2013).

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Abb. 1: Notfallaufnahme der Trauma Unit A: Erstes Sichten und Festlegen der Behandlungsprioritäten durch den dinsthabenden Chirurgen. B: Wartezone für minder schwer verletzte Patienten, "aufgereit" in Rollstühlen. C + D: Triage der Patienten nach Dringlichkeit bei Massenanfall von Verletzten.

Die Ausbildungsstätte

Das Chris Hani Baragwanath Academic Hospital liegt im Südwesten von Johannesburg im Stadtteil Soweto (South Western Townships). In diesem ehemaligen Elendsviertel der Schwarzen leben heute schätzungsweise 3,5 Millionen Einwohner. Es ist nach wie vor überwiegend Wohngebiet der armen schwarzen Bevölkerung, hat jedoch mittlerweile auch wohlhabendere Bezirke mit der gesamten Infrastruktur einer modernen Stadt.
Das Chris Hani Baragwanath Academic Hospital ist mit über 3 000 Betten eines der größten Akut-Krankenhäuser der Welt. Kurz „Bara“ genannt, ist es das einzige öffentliche Krankenhaus für die Bevölkerung Sowetos und dessen Umgebung. Ein Zehntel der mehr als 6 000 Mitarbeiter sind Ärzte. Pro Jahr werden mehr als 100 000 Patienten stationär und über 400 000 Patienten ambulant behandelt.
Die Klinik für Chirurgie verfügt über circa 360 Betten und führt über 10 000 operative Eingriffe pro Jahr durch. Direktor der Trauma Unit und auch des eigenständigen Verbrennungszentrums ist Prof. Elias Degiannis.
Hauptaufgabe der Trauma Unit ist die Behandlung Akutverletzter vom Moment der Aufnahme bis zur Entlassung (Abb. 1). Dies beinhaltet das komplexe Management im Schockraum, die Durchführung aller lebenserhaltenden Notfalloperationen im Bereich des Halses, des Brustkorbes, des Bauches, der Gefäße und der Weichteile, sämtliche Folgeoperationen sowie die stationäre Betreuung auf den Intensiv- und Pflegestationen. Jährlich werden mehr als 1 500 große Traumaoperationen durchgeführt.

Begriffsdefinition Traumachirurgie

Der südafrikanische „Trauma Surgeon“ ist nicht mit dem heutigen Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurg in Deutschland vergleichbar. Der Traumachirurg Südafrikas ist ein Facharzt für Chirurgie, der sich durch eine anschließende Schwerpunktausbildung (Fellowship) auf die Behandlung von allen durch äußere Gewalt entstandenen Verletzungen und Verletzungsfolgen spezialisiert hat, und zwar vom Punkt der Aufnahme bis zur Entlassung. Sein Spektrum wird durch Neurochirurgen und orthopädische Chirurgen („Orthopaedic Surgeons“) ergänzt. Der moderne Unfallchirurg in Deutschland entspricht eher dem südafrikanischen orthopädischen Chirurgen.
Das in Deutschland nicht definierte Berufsbild des angelsächsischen Traumachirurgen entspricht den Anforderungen, die wir idealerweise an einen Einsatzchirurgen der Bundeswehr stellen.

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Verletzungsmuster

Die am häufigsten vorkommenden Verletzungen lassen sich in fünf häufig wiederkehrende Verletzungsmechanismen unterteilen („The Bara Big Five“):

  1. Stichverletzung (stab wound).
  2. Schussverletzung (gunshot wound).
  3. Stumpfe Gewalteinwirkung (assault).
  4. Verkehrsunfall (MVA: motor vehicle accident).
  5. Fußgänger gegen Auto (PVA: pedestrian vehicle accident).

Stichverletzungen machen mit Abstand den größten Anteil der penetrierenden Verletzungen in Johannesburg aus (Abb. 2 und 3). Die Gründe hierfür liegen in der ubiquitären Verfügbarkeit von Hieb- und Stichwaffen, verbunden mit einer außerordentlich hohen Gewaltbereitschaft. Diese geht mit der weit verbreiteten Straßenkriminalität einher, kommt aber auch im Rahmen von banalen Streitigkeiten nach vermehrtem Alkoholkonsum vor. Dabei handelt es sich überwiegend um „ernst gemeinte“ Stichverletzungen des Körperstamms, die ohne weiteres dazu geeignet sind, dem Opfer tödliche Verletzungen beizubringen. Betroffen sind sämtliche Körperregionen. Obgleich sich durch Stichwaffen zugefügte Verletzungen in ihrer Kinetik von Schussverletzungen und auch von Splitterverletzungen wesentlich unterscheiden, können die maßgeblichen chirurgischen Behandlungspfade auch bei der Versorgung von Stichverletzungen erlernt werden, insbesondere wenn die großen Körperhöhlen betroffen sind. Hinzu kommt, dass viele Patienten aufgrund der prolongierten prähospitalen Phase oft unzureichend versorgt und in physiologisch desolatem Zustand der fortgeschrittenen Hämorrhagie im Krankenhaus ankommen. Die Prinzipien der Damage Control Surgery können hier bei blutenden Patienten beinahe alltäglich angewendet werden.
Schussverletzungen kommen in Südafrika ebenfalls häufig vor. Bei bewaffneten Raubüberfällen und bei Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Banden der organisierten Kriminalität werden meistens Faustfeuerwaffen eingesetzt, die überwiegend Schussverletzungen durch Niedriggeschwindigkeitsgeschosse (low velocity) verursachen. Die Hemmschwelle zum Schusswaffengebrauch liegt extrem niedrig. Die seltenen Schussverletzungen infolge von Hochgeschwindigkeitsgeschossen (high velocity) entstehen am ehesten durch den Einsatz von Sturmgewehren.
Sämtliche Schuss- und Stichverletzungen werden unabhängig von der Körperregion und den betroffenen Organsystemen ausschließlich durch die Chirurgen der Trauma Unit operativ versorgt. Das bedeutet, dass zum Beispiel Gefäßrekonstruktionen bei Gefäßverletzungen der proximalen Extremitäten nach penetrierender Gewalteinwirkung durch den Traumachirurgen durchgeführt werden, obwohl das Department of Surgery über eine eigene gefäßchirurgische Abteilung verfügt. In dieser ganzheitlichen Traumaversorgung kann eine wesentliche Parallele zum Einsatzchirurgen der Bundeswehr gezogen werden. Gleiches gilt analog auch für Verletzungen des Thorax und des Abdomen.
Verletzungen durch Einwirkung stumpfer Gewalt treten häufig im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt und anderen Streitigkeiten auf. Eine eigene Entität stellen Verletzungsfolgen nach Vergewaltigungen dar, die in Südafrika ebenfalls häufig vorkommen.
Zu guter Letzt nehmen auch die stumpfen Verletzungen im Straßenverkehr einen beträchtlichen Teil der Verletzungen ein. Der gesamte öffentliche Nahverkehr beruht fast ausschließlich auf übervölkerten Minibussen, die mit absolut reduzierter Verkehrssicherheit, dafür aber mit deutlich erhöhter Geschwindigkeit gelenkt werden. Auch das Risiko, als angetrunkener Fußgänger von einem dieser Fahrzeuge auf den unbeleuchteten (nicht vorhandenen) Gehwegen erfasst zu werden, ist relativ hoch.

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Schlussfolgerungen

Die Schulung der chirurgischen Versorgung von Verletzungsmustern, die in Deutschland selten vorkommen, allerdings in Auslandseinsätzen der Bundeswehr beherrscht werden müssen, stellt eine besondere Herausforderung in der Ausbildung junger Militärchirurgen dar. Zum Erlernen der erforderlichen manuellen Fertigkeiten hat sich in den letzten Jahren ein vielfältiges Kursangebot etabliert. Das erlernte chirurgische Handwerk kann im deutschen Klinikalltag jedoch nur selten am Patienten angewendet werden.
Der gewählte Ausbildungsort in Südafrika stellt eine einzigartige Möglichkeit dar, in nicht-feindlicher Umgebung unter hochmoderner standardisierter und unseren nationalen Prinzipien entsprechender Ausbildungsqualität die Diagnostik und Therapie einsatztypischer Verletzungsarten in ausreichendem Umfang und in englischer Sprache vermittelt zu bekommen.

Literatur

  1. TraumaRegister DGU, Jahresbericht 2013, Sektion Intensiv-Notfallmedizin, Schwerverletztenversorgung (NIS) der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) und Akademie der Unfallchirurgie GmbH (AUC).

Bildquelle: Dr. Thorsten Hauer, Oberstabsarzt, Bundeswehrkrankenhaus Ulm

Datum: 29.11.2013

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2013/11

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