01.12.2010 •

DER MODIFIZIERTE BILATERALE NASOLABIALLAPPEN ZUR EINZEITIGEN REKONSTRUKTION DER GESAMTEN OBERLIPPE UND DER COLUMELLA: EINE KASUISTIK

Aus der Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde / Kopf- und Halschirurgie (Leitender Arzt: Oberstarzt Prof. Dr. H. Maier) am Bundeswehrkrankenhaus Ulm (Chefarzt: Generalarzt Prof. Dr. Dr. Erhard Grunwald)



von Kai J. Lorenz und Heinz Maier

Zusammenfassung

Subtotale Defekte der Oberlippe, insbesondere unter Einbeziehung der Columella stellen sowohl hinsichtlich der kosmetischen als auch funktionellen Wiederherstellung hohe Ansprüche an den plastisch-rekonstruktiven Chirurgen.

Die in der Literatur beschriebenen Techniken erlauben in der Regel nur die Rekonstruktion der Oberlippe ohne angrenzende Areale.

Anhand der Kasuistik einer 85-jährigen Patientin mit einem ausgedehnten, verwilderten Basaliom der Oberlippe und der Columella beschreiben wir eine Modifikation des Fächerlappens aus der Wangenregion, der sowohl die dreischichtige Rekonstruktion des subtotalen Oberlippendefekts als auch die Wiederherstellung der Columella erlaubt. Der Vorteil dieser Technik liegt im einzeitigen Vorgehen sowie in den kosmetisch und funktionell ausgezeichneten Ergebnisse.

The modified bilateral nasolabial flap for the single step reconstruction of the whole upper lip and columella: a casuistry 

Summary

The functional and cosmetic reconstruction of the upper lip after a subtotal defect is a highly demanding challenge, especially when the columella is involved. In the majority of cases, the surgical techniques described in the literature are suitable only for restoring the function and appearance of the upper lip but not for reconstructing adjacent areas.

Here, the case of an 85 year old female patient with an extensive, aggressive and highly invasive basal cell carcinoma of the upper lip and the columella is presented. We describe a modification of the nasolabial flap technique using cheek tissue for the reconstruction of the defect. The modified flap is used for both, the full-thickness reconstruction of the subtotal upper-lip defect and the restoration of the function and appearance of the columella. This technique allows excellent cosmetic and functional results to be obtained in a single step procedure.

1. Einleitung 

Lippendefekte werden in der Regel durch Verletzungen oder Tumoren verursacht. Insbesondere die Rekonstruktion großer Oberlippendefekte, die auch angrenzende ästhetische Einheiten betreffen, stellen hohe Anforderungen an die plastisch-rekonstruktive Chirurgie.

Die Rekonstruktion muss neben den ästhetischen Aspekten auch eine Reihe funktioneller Vorgaben berücksichtigen. So sollte die funktionelle Rekonstruktion eine uneingeschränkte Nahrungsaufnahme, eine deutliche Artikulation, bei älteren Patienten die Möglichkeit des Zahnprothesenwechsels sowie die emotionale Ausdrucksfähigkeit wiederherstellen.

Dies bedeutet, dass die Rekonstruktion des M. orbicularis oris in seiner Funktion als Mundschließer nicht zu einer Mikrostomie führen darf.

Anatomische Besonderheiten

Anatomisch besteht die Lippe aus drei Schichten: der Haut, der Muskulatur und der Mukosa. Wichtigste muskuläre Struktur ist der M. orbicularis oris, der aus einem zentralen Ring mit semizirkulären Fasern und einem peripheren Ring mit radiär angeordneten Fasern besteht.

Innerviert wird diese Muskulatur durch Äste des N. facialis. Die sensible Versorgung erfolgt durch den N. infraorbitalis im Bereich der Oberlippe und durch den N. mentalis in im Bereich der Unterlippe. Die Gefäßversorgung geschieht durch die Aa. labialis superior et inferior, die zwischen M. orbicularis oris und Mukosa verlaufen und bei der Präparation von myokutanen Fächerlappen geschont werden müssen.

Insbesondere bei rekonstruktiven Eingriffen hat sich die Einteilung der Lippe in ästhetische Untereinheiten bewährt. Die Oberlippe wird in drei Untereinheiten (zwei laterale, eine zentrale) unterteilt, die Unterlippe lediglich in eine Untereinheit. Die Abgrenzung zu den benachbarten ästhetischen Einheiten erfolgt durch die Nasolabial- und die Labiomentalfalte. Die rekonstruktive Chirurgie sollte unter ästhetischen Gesichtspunkten im Bereich der Oberlippe, sofern möglich, besonders das Philtrum und die Nasolabialfalte berücksichtigen.

Rekonstruktive Möglichkeiten

Substanzverluste der lateralen Einheit der Oberlippe können, wenn die Größe des Defekts unter einem Viertel der ursprünglichen Lippenbreite liegt, primär verschlossen werden. Z- oder WPlastiken liefern hier zufrieden stellende Ergebnisse.

Für große zentrale Defekte von 30 % bis 60 % der ursprünglichen Breite lassen sich Transpositionslappen aus der Unterlippe nach Abbé [1] rekonstruieren. Unterlippentranspositionslappen wurden erstmals durch Stein [11] und später in Modifikationen durch Abbé und Estlander beschrieben [1; 5]. In der Regel wird der Abbé-Lappen so bemessen, dass er etwa die Hälfte des Oberlippendefekts umfasst und postoperativ Ober- und Unterlippe in der Breite identisch sind.

Die Verwendung des Abbé-Lappens ermöglicht eine gute Wiederherstellung des Lippenrots sowie durch Transposition von Muskelfasern des M. orbicularis oris eine teilweise Rekonstruktion der Sphinkterfunktion der Lippen. Bei ausgedehnten lateralen Defekten mit Beteiligung des Mundwinkels findet der Transpositionslappen in der Modifikation nach Estlander [5] Anwendung.

Defekte, die mehr als zwei Drittel der zentralen Oberlippe umfassen, werden am günstigsten durch Verschieberotationslappen aus der Lippen- und Wangenregion gedeckt. Geeignet sind hier die Fächerlappen nach Gillies [7], der Rotationslappen nach Bruns [2] sowie der Rotationslappen nach Karapandzic [8]. Defekte, die ausschließlich die Oberlippe betreffen, lassen sich hierdurch sehr gut rekonstruieren.

Für Defekte, die die Columella oder die perialare Region einschließen, sind die genannten Lappen jedoch nicht ohne weiteres geeignet, da sie nicht ausreichend mobilisiert werden können, um Defekte in diesen Regionen zu decken.

Wir beschreiben im Rahmen einer Kasuistik eine Modifikation des Fächerlappens als innervierten muskulokutanen Verschieberotationslappen aus der Nasolabialregion zur einzeitigen Defektdeckung bei Subtotalverlust der Oberlippe und der Columella nach Tumorresektion.

2. Kasuistik

Eine 85-jährige Frau stellte sich mit einem seit zwei Jahren konservativ behandelten Basaliom der Oberlippe bei uns vor. Die klinische Untersuchung zeigte ein Basaliom mit einem Durchmesser von circa 3 cm im Bereich des Philtrums mit Infiltration der Oberlippe und der Columella sowie palpatorisch eine Infiltration der Lippenmuskulatur in der gesamten Tiefe und über die gesamte Breite der Nase (Abb 1).

Eine Probeexzision hatte histologisch das Bild eines sklerodermiformen, mischdifferenzierten Basalioms ergeben. Auf Grund des Alters der Patientin entschlossen wir uns zu einem einzeitigen Vorgehen mit Schnellschnitt-gesteuerter Resektion des Tumors und einzeitiger plastischer Rekonstruktion.

Die Abbildungen 2und3 zeigen die eingezeichneten Resektionsränder und den Situs nach Resektion mit Verlust von 4/5 der gesamten Oberlippe sowie 2/3 der Columella. Nach Schnellschnitt- bestätigter Tumorfreiheit der Resektionsgrenzen erfolgte die Präparation der muskulokutanen Fächerlappen, die zur Rekonstruktion der Columella weit nach kranial in den paranasalen Bereich verlängert werden mussten (Abb 4 und 5). Hierdurch gelangen sowohl die Wiederherstellung der Columella (Abb 6) als auch die Rekonstruktion der Oberlippe unter Erhalt von Anteilen des M. orbicularis oris (Abb 7). Abbildung 8 zeigt das postoperative Ergebnis 3 Monate nach dem Eingriff. Die Patientin weist eine zufriedenstellende Mundöffnung auf, die Artikulation ist unauffällig und die Nahrungsaufnahme problemlos. Lediglich das schmale Lippenrot der Oberlippe wird von der Patientin als etwas störend empfunden.

3. Diskussion 

Zur Rekonstruktion von Lippendefekten werden in der Literatur mehr als 100 verschiedene Verfahren beschrieben [3]. In Abhängigkeit von Defektgröße und Lokalisation können lokalen Verschiebelappen wie Z- und W-, oder VY- Plastiken [9] bis hin zu Verschiebelappen und freien Lappenplastiken angewandt werden [10]. Schwerpunkt bei der Rekonstruktion von Lippendefekten muss neben dem kosmetischen Ergebnis die funktionelle Wiederherstellung von Nahrungsaufnahme, suffizientem Lippenschluss, Artikulationsfähigkeit und Mundöffnung sein [3, 4]. Während laterale Defekte bis zu 30 % der ursprünglichen Lippenbreite problemlos einzeitig mit lokalen Verschiebelappen versorgt werden können, erfordern große Defekte den Einsatz von Transpositionslappen.

Bereits im 19. Jahrhundert wurde die Verwendung gestielter Lappen aus der korrespondierenden Lippe beschrieben [1, 5,11]. Vorteil dieser Transpositionslappen liegt in der guten kosmetischen Rekonstruktion unter Wiederherstellung des Lippenrots und der Funktion durch die Transposition von Teilen des M. orbicularis oris [2, 6]. Als nachteilig muss jedoch die Notwendigkeit von weiteren Eingriffen zur Durchtrennung des Lappenstiels und Verbesserung der Lippenkontur angefügt werden.Weiterhin eignen sich diese Lappen nur für Defekte zwischen ein bis zwei Drittel der Lippenbreite, da andernfalls durch die Transposition aus der gesunden Lippe eine Mikrostomie resultiert.

Bei Defekten, die zwei Drittel der Lippenbreite überschreiten, können Rotationsschwenklappen oder freie mikrovaskularisierte Transplantate eingesetzt werden [12]. Mikrovaskularisierte Fernlappen passen jedoch weder von der Gewebetextur noch von der Farbe in den Lippenregion und werden als sehr auffällig beschrieben. Weiterhin ist eine Rekonstruktion des Sphinkters mit freien Lappen kaum möglich [2]. Ebenso kann eine Donorpathologie nicht ausgeschlossen werden. Die Operationszeit wie auch der stationäre Aufenthalt sind in der Regel deutlich verlängert. Die myokutanen Fächerlappen hingegen stimmen in der Regel in Farbe und Textur mit dem ursprünglichen Gewebe überein. Die durch die Aa. labiales versorgten dreischichtigen Lappen ermöglichen eine suffiziente Rekonstruktion von totalen Oberlippendefekten bei in der Regel zufriedenstellender Wiederherstellung der Lippenfunktion [2, 6, 8, 10, 12]. Ein weiter Vorteil der Fächerlappen ist das einzeitige Operationsverfahren, dass keine weiteren Eingriffe mehr notwendig macht und wegen der überschaubaren Operationszeit auch für ältere Patienten mit Begleiterkrankungen geeignet ist.

Die in der Literatur beschriebenen Fächerlappen stoßen jedoch bei Defekten, die die Lippenregion überschreiten an ihre Grenzen. Insbesondere Defekte, die neben der Oberlippe auch die Columella einschließen, können mit den konventionellen Fächerlappen nicht versorgt werden. Die modifizierte Schnittführung des von uns beschriebenen bilateralen Nasolabiallappens liefert jedoch genügend Gewebe sowohl zur dreischichtigen Rekonstruktion der gesamten Oberlippe als auch zur kutanen Deckung der Columella. Der bilaterale Nasolabiallappen erwies sich als zuverlässig, sicher und hinsichtlich des Rekonstruktionsergebnisses als stabil. Wir beobachteten weder eine Mikrostomie oder Schwierigkeiten beim Herausnehmen und Einsetzen der Zahnprothese, noch wies die Patientin ein Artikulationsdefizit auf. Die Aufnahme flüssiger und fester Nahrung war bei suffizientem Lippenschluss problemlos möglich. Das kosmetische Ergebnis wurde von der Patientin als sehr zufriedenstellend geschildert.

4. Schlussfolgerung

Zusammenfassend hat sich der bilaterale Nasolabiallappen zur dreischichtige Rekonstruktion von ausgedehnten Oberlippendefekten unter Einbeziehung der Columella in Rahmen von einzeitigen Eingriffen sowohl unter kosmetischen als auch funktionellen Aspekten bewährt.

 

Literatur:

  1. Abbe R: A new plastic operation for the relief of deformity due to double harelip. Med Rec 1898; 53: 477-481. 
  2. Ahmet A, Aydan A, Oygar A: Total upperlip reconstruction with bilateral fujimori gate flap. Plast Reconstr Surg 2003; DOI: 10.1097/01.PRS.0000041599.99985.8E. 
  3. Constantinidis J, Federspil P, Iro H: Die funktionell und ästhetisch orientierte Rekonstruktion von Lippendefekten. HNO 2000; 48: 517-526. 
  4. Converse JM, Wood-Smith D: Techniques for the repair of defects of the lips and cheeks. In: Converse JM (ed) Reconstructive plastic surgery. Philadelphia: Saunders 1977; 1544 
  5. Estlander JA: Eine Methode, aus der einen Lippe Substanzverluste der anderen zu ersetzten. Arch f klein Chirurgie 1872; 14: 622. 
  6. Fujimori R: “Gate flap” for the total reconstruction of the lower lip. Br J Plast Surg 1980; 33: 340-345. 
  7. Gillies HD, Millard DR: Principles and art of plastic surgery. Boston: Little Brown 1957; 507 
  8. Karapandzic M: Reconstruction of lip defects by local arterial flaps. Br J Plast Surg 1974; 27: 93-97.
  9. Narsete TA: V-Y advancement flap in upper-lip reconstruction. Plast Reconst Surg 1999; 105(7): 2264-2266. 
  10.  Renner GJ, Zitsch RP: Reconstruction of the lip. Otolaryngol Clin North Am 1990; 23: 975-990. 
  11. Stein SAV: Lip repair (Cheiloplasty) performed by a new method. Hospitals Meddelelser 1848; 1: 212-216. 
  12. Weerda H, Härle F: Spezielle Lappentechniken im Lippenbereich. HNO1983; 29: 27-33.

Datum: 01.12.2010

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2011/1

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