„...Meinungen offen sagen...“
Interview Frau Heike Lange, Geschäftsführerin Beta-Verlag und Flottenarzt Dr. Hartmann, Chefredakteur WM, mit dem Inspekteur des Sanitätsdienstes, Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner
WM: Herr Generalarzt, in den ersten Monaten nach dem Amtsantritt eines Inspekteurs steht gemeinhin eine grundlegende Bestandsaufnahme im neuen Verantwortungsbereich an. Wie haben Sie dabei den Sanitätsdienst der Bundeswehr vorgefunden? Konnten Sie einen konkreten Einblick in die künftigen Herausforderungen gewinnen?
InspSan: Ich bin ja nicht von außerhalb gekommen – plötzlich und unerwartet, sondern habe, basierend auf vielen Verwendungen, durchaus einen fundierten Einblick in das, was die Angehörigen des Sanitätsdienstes beschäftigt und welche Leistungen der Sanitätsdienst erbringt. Natürlich bin ich als Inspekteur derzeit noch in der Einarbeitungsphase – zumindest gefühlt. Ich habe einen Sanitätsdienst vorgefunden, der national wie international eine hohe Reputation hat und mit exzellenter Qualität in den Auslandseinsätzen und in Deutschland arbeitet. Wir müssen dabei aber mit immer weniger verfügbarem Material auskommen. Deshalb kann es durchaus an der einen oder anderen Stelle einige Einschränkungen geben.
Die Bundeswehr definiert daneben mit Blick auf Landes- und Bündnisverteidigung für den Sanitätsdienst einen höheren Anspruch an Unterstützung für große und schnell verfügbare Truppenteile. Hier muss ich ganz klar feststellen: Derzeit ist der Sanitätsdienst darauf nicht ausgerichtet. Wir brauchen eine entsprechende Anpassung des Gesamtsystems, um zukunftsfähig zu sein und in den nächsten Jahren diese Herausforderungen und Aufgaben auch zu bewältigen.
WM: Die Erwartungen der Politik an den Sanitätsdienst, an Sie persönlich sind sehr hoch. Dabei erlaubt eine langfristige Perspektive durchaus ein strukturiertes und zielgerichtetes Handeln in der Zukunft. Empfinden Sie das als Herausforderung oder als Chance?
InspSan: Eigentlich als beides. Ich bin ein optimistisch geprägter Mensch, daher sehe ich die Aufgaben und Herausforderungen der nächsten Jahre durchaus als Chance. Jeder Wandel, jede Veränderung bietet solche Möglichkeiten, die wir nutzen müssen. Das bedeutet aber auch Anstrengungen: Die Politik, die Bundeswehr, die Gesellschaft erwarten, dass der Sanitätsdienst seine Qualität erhält. Und dabei nicht stehen bleibt, denn Stillstand ist Rückschritt. Unser Sanitätsdienst ist, wie auch die anderen Org-Bereiche, über Jahrzehnte durch einen Sparzwang geprägt gewesen. Das beeinflusst uns durchaus, unser Material, unsere Strukturen und unsere Fähigkeiten. Von heute auf morgen kann ich das nicht verändern. Wir müssen deshalb auch bereit sein, zielgerichtet nach Potenzialen zu suchen. Ein Beispiel hierfür ist die Digitalisierung und der technische Fortschritt ganz allgemein. Die Digitalisierung ist aus meiner Sicht ein absolutes Zukunftsthema, auch für den Sanitätsdienst. Hier haben wir enormen Nachholbedarf in Bezug auf unsere Datenhaltung und unsere Unterstützungsmöglichkeiten für das Gesamtsystem Gesundheitsversorgung der Bundeswehr. Digitalisierung erleichtert uns die Arbeit für die Patienten. Sie ermöglicht aber auch die gezielte Forschung als Grundlage für die Weiterentwicklung des Systems. Sie ist in beide Richtungen eine gute Maßnahme und birgt ein Potenzial, das wir unbedingt nutzen müssen.
WM: Auf die Bundeswehr und den Sanitätsdienst kommen in der Zukunft komplexe Aufgaben zu, z. B. bei der Verbesserung der personellen und materiellen Einsatzbereitschaft. Worin sehen Sie das strategische Ziel und mit welchen Schritten wollen Sie Ihren Verantwortungsbereich dorthin weiterentwickeln?
InspSan: Eine Strategie ist langfristig ausgerichtet. Wir müssen für den Sanitätsdienst strategisch denken, neue Fähigkeiten aufbauen und das Gesamtsystem Sanitätsdienst, personell, materiell und in den Bereichen Ausbildung und Vorbereitung der Einsatzbereitschaft in Teilschritten weiterentwickeln, ausplanen und umsetzen. Und das bedeutet, dass wir neben dem Nahziel 2023, das Zwischenziel 2027 und das Fernziel 2031 der Streitkräfte im Fokus haben müssen. Strategisch gedacht muss ich den Sanitätsdienst der Bundeswehr so aufstellen, dass er im Jahr 2031 und den darauffolgenden Jahren mit der gleichen Qualität und Verlässlichkeit agieren kann wie heute, oder sogar noch besser. Das ist das Ziel, dem sich alles unterordnet: Personal, Material und auch die Ausbildung.
WM: Die Welt, unsere Welt im Sanitätsdienst, beschleunigt sich mit hohem Tempo. „Stillstand ist Rückschritt“, haben Sie einmal gesagt. Wir alle wissen, dass die „Kundenzufriedenheit“ in den Krankenhäusern und Sanitätszentren hoch ist, dass der Sanitätsdienst im Einsatz sich überzeugend darstellt und dass wir international bestens aufgestellt sind.
Wie wollen Sie unser kostbarstes Gut, unser Personal, das Garant für diese Leistungen ist und sich dabei durchaus hochengagiert einbringt, mitnehmen in solche weitergehenden dynamischen Prozesse – ohne es zu überfordern?
InspSan: Ich glaube nicht, dass unser Personal durch die Anforderungen der Weiterentwicklung überfordert wird – im Sinne von geistiger Überforderung. Ich erlebe durch alle Dienstgradgruppen hindurch, dass unsere Frauen und Männer zukunftsorientiert sind und zu einem hohen Anteil sogar Treiber der Entwicklungen für die Zukunft sind. Und vor allem wollen unsere Soldatinnen und Soldaten mitgestalten. Dieses Engagement müssen wir aufnehmen und nutzen.
Aber es würde das Personal überfordern, wenn wir die Anforderungen an das Jahr 2031 mit dem gleichen Personalumfang und dem gleichen Material bewältigen wollten. Das ist aber abwegig. Ich glaube, dass unser Personal bereits jetzt Zukunftschancen antizipiert und aufgeschlossen ist – diese Einstellung ist ein Schatz, den es zu heben gilt. Mir ist dabei wichtig, unseren Soldatinnen und Soldaten eine Zukunftsperspektive zu geben: Eine Entwicklungsperspektive mit erstklassiger Ausbildung und modernem Gerät. Wir brauchen eine Ausstattung und eine Befähigung, auf die wir stolz sein können, auch im Vergleich mit anderen Nationen oder dem zivilen Bereich.
WM: Worauf basiert nach Ihrer Meinung Attraktivität in den verschiedenen Bereichen des Sanitätsdienstes und Wohlbefinden am Arbeitsplatz? Gibt es hier noch Potentiale?
InspSan: Unser Personal kann fachlich und militärisch hohe Qualität liefern, Qualität, die dem Standard im zivilen Bereich oder in anderen Armeen entspricht und noch darüber hinaus. Um zukunftsfähig zu sein, dürfen wir uns darauf aber nicht ausruhen: Wir müssen unserem Personal eine ganz konkrete Perspektive geben. Ausreichendes und modernes Material muss zur Verfügung stehen oder zumindest eine genaue Prognose, wann es verfügbar sein wird. Wir müssen aber noch mehr in die Ausbildung und die Qualifikation investieren, zumal dies auch eine Frage der Wertschätzung unseres Personals ist. Mehr noch: Weiterbildung, Ausbildung, Qualifikation sind Werte an sich, die dem System zu Gute kommen. So müssen wir uns darüber Gedanken machen, ob und wieweit beispielsweise Assistenzberufe eine Akademisierung erfahren sollen. Auf diesem Gebiet beschäftigt mich aber auch noch ein anderer Aspekt: nämlich die Notwendigkeit einer langfristigen Attraktivitätserhaltung. Noch haben wir genügend Bewerberinnen und Bewerber für den Sanitätsdienst. Aber aus demographischen Gründen kann die Bewerberlage in fünf Jahren gänzlich anders aussehen. Nach Umfragen stellen sich 50 % der jährlichen Schulabgänger für ihre Zukunft ein Studium vor. Wir bieten aber nur für 15 % unserer Berufsanfänger pro Jahr ein Studium an. Dieses offensichtliche Missverhältnis zwischen den Interessierten für ein Studium und dem, was der Sanitätsdienst an tatsächlichen Berufsanfängermöglichkeiten anbieten kann, müssen wir auflösen, weil wir einen großen Teil möglicher Kandidatinnen und Kandidaten sonst nicht für eine Karriere bei uns ansprechen. Ich möchte deshalb in Richtung eines Angebots gehen, was andere Nationen schon lange machen, nämlich einen akademisierten Start für Teile der Assistenzberufe anbieten: für z. B. Notfallsanitäter, Angehörige von Krankenpflege- oder Medizinisch-technischer Assistenzberufe oder auch für Medizingerätetechniker. Eine entsprechende angepasste Laufbahngestaltung würde uns attraktiver für den Anteil der Schulabgänger machen, der derzeit nicht angesprochen wird, weil es für sie derzeit keine Angebote gibt. Und dies würde zur Zukunftssicherheit entscheidend beitragen.
WM: Die Verpflichtungen der sanitätsdienstlichen Unterstützung für die VJTF in 2019 und vor allem in den Folgejahren erfordern einen deutlichen Aufwuchs an einsatzbereiten Elementen der Rettungskette sowohl personell wie auch materiell.
Mit welchen konkreten Maßnahmen wollen sie hier vorgehen, um zusätzliche Soldatinnen und Soldaten zu generieren und sie mit dem notwendigen Equipment auszustatten?
InspSan: Wie ich eben schon ausführte, haben wir – was die Generation des derzeitigen Personalumfangs betrifft, keine größeren Probleme. Es gibt nur wenige Qualifikationen, die derzeit nicht in ausreichender Quantität generiert werden können. Bei den Assistenzberufen im Sanitätsdienst, wie Notfallsanitäter, Gesundheits- und Krankenpfleger, aber auch den Sanitätsoffizieren stoße ich in den nächsten Monaten an die Obergrenze der verfügbaren Dienstposten. Bei Unteroffizieren, die Berufssoldaten werden wollen, habe ich ebenfalls eine gute Bewerberlage. Dagegen beobachten wir bei den Sanitätsoffizieren eine gewisse Zurückhaltung bei der Bewerbung zum Berufssoldaten. Hier müssen wir gezielt, kurz- bis mittelfristig die Attraktivität verbessern. Selbstverständlich müssen auch entsprechende neue Dienstposten geschaffen werden.
Hinsichtlich des Materials muss ich zunächst feststellen, dass wir für VJTF 2019 nur unter Aufbietung aller Kräfte, z. B. die verfügbaren Fahrzeuge zum geschützten Verwundetentransport bereitstellen können. Das ist unbefriedigend und deshalb ist es natürlich eines meiner wichtigsten Ziele dafür zu sorgen, dass im Laufe der im Fähigkeitsprofil der Bundeswehr detailliert beschriebenen Schritte es zu einer Verbesserung der materiellen Ausstattung kommt. Das betrifft vor allem die mittleren und schweren geschützten Verwundetentransportfahrzeuge, aber auch die ungeschützten Verwundetentransportfahrzeuge, die seit über 40 Jahren im Einsatz sind und nun das Ende ihrer Lebensdauer erreicht haben. Auch diese müssen ersetzt werden.
WM: Gerade in Beschaffungsvorhaben zeigt sich oft eine gewisse systembedingte Schwerfälligkeit. Gibt es Ansätze zu schnelleren Lösungen?
InspSan: Es gibt insgesamt in der Bundeswehr Ansätze, die Materialbeschaffung zu beschleunigen. Wir haben im Sanitätsdienst grundsätzlich zwei Materialkategorien. Einmal die sogenannte grüne Ausstattung, also beispielsweise Material und Fahrzeuge, die eine lange Lebensdauer haben. In diesem Bereich ist es für uns relativ unkritisch, wenn die regulären Rüstungsprozesse und Beschaffungsabläufe greifen.
Der Sanitätsdienst setzt aber überall „weißes“, also sanitätsspezifisches, medizinisches Spezialgerät ein, das sich ganz anders in seinem Regenerationszyklus verhält. Die Zyklen sind viel kürzer, weil in diesem Bereich die technologische Entwicklung sehr viel schneller läuft. Hier muss ich in kürzeren Zeiträumen Material ersetzen können. Und dafür ist das System, das darauf ausgerichtet ist, Geräte alle 20 bis 25 Jahre zu ersetzen, nicht geeignet. Ich brauche schnellere Verfahren, um die Qualität der Leistung, der Versorgung, z. B. auch in unseren Kliniken, sicherzustellen. Daran arbeiten wir derzeit und ich hoffe, dass wir für diese spezifischen „weißen“ Bereiche einen besonderen Beschaffungsweg für die Regeneration in einem kürzeren Rhythmus gestalten können. Nur so können wir verhindern, dass wir gegenüber dem zivilen Sektor ins Hintertreffen geraten.
WM: Multinationalisierung ist eines der Stichworte für die Zukunftsorientierung des Sanitätsdienstes.
Was ist erreicht worden in den letzten Jahren und wie stellen Sie sich weitere konkrete Schritte in der nahen Zukunft vor, v. a. auch auf den Gebieten der Ausbildung, Einsatzvorbereitung und der Durchführung von Einsätzen?
InspSan: Eines ist ganz klar: Der Sanitätsdienst ist seit vielen Jahren multinational aufgestellt und es gibt fast keinen Einsatz, in dem wir nicht mit unseren Partnern zusammen agieren. Das ist also nichts Neues für uns, damit haben wir gute Erfahrungen gemacht, es ist bereichernd für alle und entspannt zudem manche Ressourcensituation. Denn die Lasten in den derzeit laufenden Einsätzen werden damit geteilt.
In möglichen zukünftigen Einsätzen der Landes- und Bündnisverteidigung werden größere Kapazitäten des Sanitätsdienstes für das jeweilige nationale Kontingent benötigt. Die Mangelsituation anderer Nationen im nationalen Bereich wird ein gegenseitiges Unterstützen dann eher schwieriger machen. Somit ergeben sich durch Multinationalität in diesen Einsatzszenarien kaum Einsparmöglichkeiten von erforderlichen Ressourcen.
Aber wir können zielgerichteter Einsätze planen und realisieren, wenn die Sanitätsdienste der Verbündeten gemeinsame Standards, gemeinsame Verfahren, gemeinsame Ausbildungsstandards und sehr ähnliches Material haben. Personal wie Material können dann, unabhängig von der Herkunft, problemlos und ohne große Vorbereitungsausbildung zusammengebracht werden. Das bedeutet, dass wir daran arbeiten müssen, die Sanitätsdienste in der NATO, primär aber im europäischen Pfeiler der NATO, zu synchronisieren. Hierzu bauen wir derzeit ein multinationales Steuerungselement für die gemeinsame Entwicklung der Sanitätsdienste auf. Ich hoffe, alle Partnernationen aus Europa und der NATO für die Idee gewinnen zu können. Die Initial Operating Capability dieses Elements ist für Oktober 2019 vorgesehen. Derzeit stimmen wir das Konzept mit den Nationen ab. Die volle Operationsfähigkeit soll bis zum Jahr 2021 erreicht werden.
WM: Mit welchen Sanitätsdiensten verbündeter und befreundeter Staaten sehen Sie Schwerpunkte in der Zusammenarbeit?
InspSan: Hier muss man unterschiedliche Ebenen sehen. Strategische Partner sind in der NATO die großen Nationen, also USA, Frankreich und Großbritannien. Im Rahmen der Standardisierung und der Entwicklung, die ich gerade dargestellt habe, sind das vor allem Frankreich und die Niederlande, aber auch alle unsere Nachbarn in Europa. Mit vielen dieser Nationen kooperieren wir schon heute intensiv und fördern die Zusammenarbeit auch auf Ebene der Truppe und der Einrichtungen.
WM: Gibt es Ansätze, auch im Bereich des Austausches von Sanitätsoffizieranwärterinnen und –anwärtern zielgerichtet eine internationale Vernetzung zu fördern?
InspSan: Das machen wir ja schon und das ist aus meiner Sicht eine wirklich gute Entwicklung. Ausbildungs- und studientechnisch tauschen wir uns bereits mit dem französischen Sanitätsdienst aus. Wir können dabei aber immer noch besser werden. Wir brauchen in der Zukunft mehr Soldatinnen und Soldaten in entsprechenden Positionen, die ganz persönliche Erfahrungen und Prägungen haben aus ihrem jeweiligen Partnerland. Natürlich braucht multinationale Verflechtung auch seine Zeit. Ich möchte den internationalen Austausch aber nicht auf Sanitätsoffiziere beschränkt wissen. Er sollte sich auch auf Truppenoffiziere und Fachdienstoffiziere des Sanitätsdienstes und auch auf Unteroffiziere in den medizinischen Assistenzberufen erstrecken.
WM: Der technologische Fortschritt zeigt sich plakativ in der zunehmenden Digitalisierung auch in der Medizin.
Wo stehen wir hier im Sanitätsdienst und wie wollen Sie weiter vorgehen, um zu einer Vernetzung unserer Arbeitsbereiche und letztlich auch zu einer Entlastung unseres Personals zu kommen?
InspSan: Der Sanitätsdienst ist derzeit nur in kleinen Inseln digitalisiert, z. B. in den Bundeswehrkrankenhäusern. Mit einer Digitalisierungsinitiative wollen wir weit über die bisherige bloße IT-Unterstützung von Organisation und Administration hinaus ein Gesundheitssystem entwickeln, in dem alle Gesundheitsdaten des Soldaten, die während seiner gesamten Dienstzeit entstehen, in einem konsistenten Datenpool zusammengeführt werden. Und überall dort, wo diese Daten in der Behandlung benötigt werden, sollen sie medienbruchfrei verfügbar sein. Dies ist die Ideallösung für die Zukunft, natürlich vergesellschaftet mit den gesamten IT-Unterstützungsmöglichkeiten für Praxisorganisation und Patientenverwaltung. Das ist die Grundidee, auch für den Einsatz. Wenn uns das gelingt, alle gesundheitsrelevanten Daten des Soldaten von der Erstuntersuchung im Karrierecenter bis zum Ausscheiden aus der Bundeswehr in einem zentralen Datenerhaltungssystem zu erfassen, dann können wir nicht nur die Behandlungsabläufe verschlanken, sondern haben dann auch die Möglichkeit, unser System der Patientenversorgung wissenschaftlich zu untersuchen. Damit werden wir in der Lage sein, konkrete Verbesserungspotenziale zu erkennen. Bisher ist nur durch die Untersuchung von Einzelfällen in mühsamer Recherchearbeit eine Gesamtaussage zu erarbeiten. Auch das muss sich ändern.
WM: Sie haben mehrfach eine positiv konnotierte Diskussions- und sogar Streitkultur im Sanitätsdienst angemahnt. Was verstehen Sie darunter, welche Ebenen sollen besser miteinander kommunizieren? Sollte es vielleicht neue Foren der zielgerichteten Diskussion im Sanitätsdienst geben? Können hier Medien wie die WEHRMEDIZIN UND WEHRPHARMAZIE eine Rolle spielen?
InspSan: Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass konstruktiver Streit nichts Negatives ist. Für mich ist der Begriff „Streitkultur“ positiv gefärbt. Streit bedeutet für mich, dass verschiedene Meinungen gegeneinander abgewogen werden, auch emotional argumentativ abgewogen werden. Dass man für seine Überzeugung kämpft, indem man dafür Argumente sucht und einbringt. Gegenpositionen sind aus meiner Sicht gewollt und wünschenswert. Nur durch das offene Vertreten von gegensätzlichen Positionen ist der Sanitätsdienst in der Lage, eine bessere Lösung für das jeweilige Problem zu finden.
Wenn andere Ideen nicht artikuliert werden, dann werde ich nicht gezwungen, mich selbst zu hinterfragen. Dann habe ich keine Chance, eine vielleicht bessere Lösung zu finden. Daher brauchen wir dieses System des konstruktiven Streits, des Meinungsaustauschs, um besser zu werden. Ich würde mir wünschen, dass ein solcher Diskurs über alle Dienstgradgruppen hinweggeht. Ich bin nicht fixiert darauf, nur die Meinung der Generale zu hören. Es geht darum, dass Menschen mit Erfahrungen und Wissen ihre guten Ideen, die förderlich für das Gesamtsystem sind, einbringen können. Und das umfasst auch die Fachleute auf der Ebene der Unteroffiziere. Daher ermuntere ich immer, egal wo ich bin, Meinungen offen zu sagen. Ich fühle mich mit dieser Art Gedankensport wohl und kann dadurch lernen und besser werden.
Ich erwarte, dass alle Vorgesetzten ähnlich denken und handeln. Sie sollen eine offene Diskussion zulassen. Ich erhoffe mir, dass wir einen Ideenfluss von unten nach oben und wieder zurück durch das ganze System organisiert bekommen. Wir müssen überlegen, wie wir das unterstützen, beispielsweise durch eine Rubrik „Denkanstöße“ oder auch ein Forum „pro und contra“ in der WEHRMEDIZIN UND WEHRPHARMAZIE. Es soll dabei nicht darum gehen, zu polemisieren, sondern durch einzelne Aufsätze zum Nachdenken zu animieren oder Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. In der nächsten oder auch in der gleichen Ausgabe ließe sich dann eine gegensätzliche Meinung publizieren, sodass eine Diskussion zustande käme.
WM: Gleiches gilt für die postulierte transparente Fehlerkultur. Das ist ein populäres Thema und wird leider selten erfüllt bzw. implementiert. Wie stellen Sie sich dies für den Sanitätsdienst vor, an welchen Merkmalen könnte man eine solche Fehlerkultur erkennen?
InspSan: In der Medizin trägt Fehlerkultur zur Verbesserung von Verfahren und Abläufen bei der Behandlung bei. Insofern ist Fehlerkultur nicht nur wünschenswert, sondern auch absolut erforderlich.
Fehlerkultur heißt im Truppenalltag, dass ich von meinen Soldaten erwarte, dass sie „Mitdenken“ und „Verantwortung übernehmen“. Dann muss ich aber auch bereit sein, Fehler, die daraus entstehen, einzukalkulieren. Ich möchte die Menschen ermuntern zu handeln, zu entscheiden und bin mir dabei im Klaren, dass dabei Fehler gemacht werden können. Hierzu gehört auch die Verantwortung dafür, mögliche negative Folgen zu übernehmen. Das ist mir aber lieber, als Fehlervermeidung durch Nichthandeln.
WM: Eine Frage zu den Werten im Sanitätsdienst. Jede Organisation, die sich ändert, braucht einen Anker, eine Stabilität, ein Wertesystem, an dem sich die Angehörigen orientieren können. Wie definieren Sie das Wertefundament, das zum Erreichen der Ziele des Sanitätsdienstes trägt?
InspSan: Das in den letzten Jahren implementierte Leitbild des Sanitätsdienstes ist nach wie vor valide und zielführend. Es spiegelt das wider, was den Sanitätsdienst ausmacht. Wir sind als militärischer Gesundheitsdienst beiden Seiten verpflichtet. Einmal der sanitätsdienstlichen Versorgung von Soldaten, aber eben auch dem übergeordneten militärischen Auftrag. Wir sind eben auch Teil eines militärischen Systems und können uns nicht freimachen von militärischen Notwendigkeiten, Rahmenbedingungen und Aufträgen. Das gilt es zu vereinen, im sanitätsdienstlichen System aber auch individuell in jedem einzelnen Angehörigen des Sanitätsdienstes. Gerade dieser persönliche Spagat ist nicht einfach. Wir Älteren sind es deshalb der jüngeren Generation schuldig, mit Beispiel voran zu gehen, vorzuleben und zu erläutern. Hier muss jeder seinen eigenen Weg suchen und finden. Dennoch haben wir mit unserem Leitbild eine moralische Richtschnur, an der sich alle Angehörigen des Sanitätsdienstes orientieren und verpflichtet fühlen können.
WM: Herr Generalarzt, wir bedanken uns bei Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen für die Zukunft nur das Beste.
Flottenarzt Dr. Hartmann
Chefredakteur Wehrmedizin und Wehrpharmazie
Datum: 02.04.2019
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 1/2019