„Armies are always prepared to fight the last war.“ – Winston S. Churchill
„Massiver Artillerieschlag auf unseren rechten Nachbarn, Brigadeversorgungspunkt, ca. 700 m Entfernung. Überall Einschläge von Splittern. Mehrere Zelte unseres luftbeweglichen Rettungszentrums Role 2B sind perforiert und die luftgefüllten Stützen kollabiert. OP- und Intensivzelt nicht mehr nutzbar. Gleichzeitig Auftrag Sanitätseinsatzbataillons (SanEinsBtl) 53, Marschbereitschaft bis x (Angriffsbeginn des Feindes) + 22 herzustellen, anschließend neuen Einsatzraum hinter Forward Edge of Battle (FEBA) zu beziehen und dort Einsatzbereitschaft unseres Rettungszentrums bis spätestens x + 36 herzustellen. Eigene Ausfälle mittlerweile acht Soldaten, davon zwei gefallen.
Wir schreiben x + 14 an Kriegstag 1, nachdem der Feind die Grenze zu unserem Bündnispartner Blauland überschritten hat. Unser Rettungszentrum Role 2B luftbeweglich ist im Rahmen des SanEinsBtl 53 der Panzergrenadierbrigade 53 unterstellt, die als Vorausverband der NATO-Kräfte in Blauland stationiert ist. Vor unserer Brigade greifen Feindkräfte in Stärke einer Division mit zwei mechanisierten Regimentern nebeneinander an, um die Voraussetzung für den Stoß der nachfolgenden Kräfte gegen die Hauptstadt Blaulands zu schaffen. Unsere Brigade verzögert mit zwei Bataillonen nebeneinander in einer Tiefe von 45 km über einen Zeitraum von 34 Stunden, um im Anschluss den vor uns angreifenden Feind in einem Gegenangriff zu zerschlagen. Verzögerungslinie (Vzö Linie) ALPHA ist bis x + 12, Vzö Linie BRAVO bis x + 26 zu halten. Es gilt den Feind so zu verzögern und abzunutzen, dass die eigenen Hauptkräfte der Allianz ihre Verteidigungsstellungen bezogen und eingerichtet haben, um anschließend den Feind über die Landesgrenze Blaulands zurück zu drängen.
Die Erkundung ergab, dass keine geeignete feste Infrastruktur für unsere Behandlungseinrichtung zur Verfügung steht. Der Kommandeur unseres SanEinsBtl 53 hat sich daher entschieden, mit seinen drei Forward Surgical Elements (FSE, Role 2F) bereits hinter der ersten Vzö Linie ALPHA die sanitätsdienstliche Unterstützung so sicherzustellen, dass der Abbau bis x +10 abgeschlossen ist, hinter der zweiten Vzö Linie BRAVO zwei Role 2B luftbeweglich (vergleiche Abb. 1) so einzusetzen, dass der Abbau bis x + 22 abgeschlossen ist und eine Role 2B hybrid (Modulare Sanitätseinrichtungen [MSE] = Container und Zelte) bereits hinter der FEBA aufzubauen. Anschließend will er mit allen drei Role 2B die Verteidigung unterstützen und die drei Role 2F als Reserve für den Gegenangriff bereithalten. Zum jetzigen Zeitpunkt sind unsere drei Role 2F und die beiden in der Vzö eingesetzten Role 2B durch Wirkung indirekten Feuers bereits weitgehend zerschlagen.“
Soweit der fiktive Bericht eines angenommenen Angriffs auf einen unserer Verbündeten. Der geneigte Leser wird unschwer diesen Bericht mit einem realen Szenario zu verbinden wissen.
Worum geht es dem Autorenteam mit diesem Szenario und diesem Artikel?
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr (SanDstBw) hat sich über die letzten Jahrzehnte zu dem Leit- und Referenzsanitätsdienst der NATO für die Sicherstellung hochwertiger und durchhaltefähiger Rettungsketten im internationalen Krisenmanagement entwickelt. Diese Einsätze stellten in den letzten 25 Jahren für die Streitkräfte der NATO die wichtigste Aufgabe dar.
Komplexe und leistungsfähige Sanitätseinrichtungen auf Basis luftbeweglicher Zelte für Anfangsoperationen, Rettungszentren (Role 2) und Einsatzlazarette (Role 3) als modulare Sanitätseinrichtungen auf Basis eines Mix aus Containern und Zelten sowie feste Infrastruktur wurden nach bewährten Mustern in den verschiedensten Einsatzländer errichtet. Im Einsatzgebiet operierende Kräfte wurden durch Rettungsmediziner mittels beweglicher Arzttrupps (BAT) begleitet – der Patiententransport erfolgte überwiegend per Hubschrauber. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und der Angriff im Donbas 2014 sowie spätestens die Vollinvasion Russlands in die Ukraine 2022 haben innerhalb der NATO zu einer Refokussierung von Fähigkeiten und Einsatzgrundsätzen auf die Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) geführt. Die täglichen Eindrücke aus der Ukraine präzisieren den Bedarf nach Erneuerung von Hardware, Kompetenzen und Mindset.
Dabei gilt es, Erfolge und Misserfolge beider Kriegsparteien gründlich auszuwerten ohne den Fehler zu machen, Handlungsweisen vollumfänglich auf die eigene Weiterentwicklung zu transferieren. So wäre bei Übertragung der Eindrücke aus der Ukraine die Annahme falsch, dass Kriegführung im 21. Jahrhundert ausschließlich durch starre Fronten im Sinne des Ersten Weltkrieges gekennzeichnet ist. Absicht eigener Kräfte wird es immer sein, die Gefechtsführung beweglich zu halten. Entscheidend für die erfolgreiche sanitätsdienstliche Auftragserfüllung ist es daher, auch in einem hochintensiven Gefecht Beweglichkeit und eigene Handlungsfähigkeit zu erhalten und Verzahnung, wann immer möglich, zu vermeiden. Gleichzeitig müssen eigene Kräfte so geschützt sein, dass sie auch bei durchgängiger Wirkung indirekten Feuers für die weitere Gefechtsführung erhalten bleiben. Dieser Artikel will Auswirkungen dieser Lage auf die erforderliche Weiterentwicklung von Sanitätseinrichtungen auswerten und die Notwendigkeit eines radikalen Umbruchs verdeutlichen.
Beweglicher Einsatz von Sanitätseinrichtungen am Beispiel Verzögerungsgefecht Brigade
Wir haben bewusst unsere fiktive Ausgangslage am Beispiel Verzögerung gewählt, da keine andere taktische Aktivität so hohe Ansprüche an Beweglichkeit, Koordination und Flexibilität der sanitätsdienstlichen Unterstützung stellt. Was sind die Grundzüge der Verzögerung?
Zweck der Verzögerung ist es Zeit zu gewinnen, den Feind zu lenken und feindliche Kräfte abzunutzen.
Man gibt also bewusst und geplant Raum gegen Zeit auf. Die Kampfkraft der Truppe soll, wo immer möglich, für die Anschlussoperation erhalten bleiben. Die Verzögerungskräfte müssen vermeiden, überrascht zu werden und sich mit dem Feind zu verzahnen oder gar eingeschlossen zu werden. Dies bedingt hohe Mobilität und Schutzniveau aller beteiligten eigenen Kräfte. Was bedeutet dies für sanitätsdienstliche Einrichtungen? Nehmen wir unser fiktives Beispiel, das hinsichtlich Raum, Kräften und Zeit einer großen Übung der Landstreitkräfte entnommen wurde. Die Verzögerung des Feindes in Divisionsstärke erfolgt in einer Tiefe von 45 km von der Aufnahme der Verzögerung bis zur FEBA. Die zu gewinnende Zeit beträgt 34 Stunden. Zwecks Koordinierung des Gefechtes wird der Raum in seiner Tiefe in zwei zusätzliche Verzögerungslinien gegliedert. Die erste Vzö Linie ALPHA soll bis x + 12, die zweite Vzö Linie BRAVO bis x + 26 gehalten werden. Wir müssen in der Brigade im hochintensiven Gefecht und hohem Druck des Feindes durch Artillerie und Drohnen mit Ausfällen von 4 % also ca. 200 Verwundete pro Kampftag, davon 70 % operationspflichtig rechnen. Der Aufbau unserer drei Role 2F, die aus einem geschützten Container Rettungsstation, mobil auf Anhänger, einer mobilen Versorgungspalette und einem luftaufblasbaren Zelt bestehen, dauert ca. eineinhalb Stunden, der Aufbau der beiden Role 2B luftbeweglich jeweils etwa fünf bis sechs Stunden. Entscheidend im Verzögerungsgefecht sind aber insbesondere die Abbauzeiten der Einrichtungen, da diese zwingend für den weiteren Verlauf des Gefechtes erhalten bleiben müssen. Für den Abbau ist zu berücksichtigen, dass der entlastende Verwundetentransport abgeschlossen sein muss, sowie Abbauzeiten von zwei Stunden für die Role 2F und sechs bis acht Stunden für die Role 2B luftbeweglich anzusetzen sind. Erfahrungen aus mehreren Übungsvorhaben mit der Einspielung von Übungsverwundeten haben uns gezeigt, dass der Abbauaufwand einer im Einsatz befindlichen luftbeweglichen Einrichtung ungleich höher als der Aufbau ist. Generationen von Sanitätsoffizieren haben immer wieder ausschließlich Aufbauzeiten gelernt und zu Grunde gelegt. Über die Bedeutung von Abbauzeiten sprechen wir erst seit der Refokussierung auf LV/BV. Im Falle unserer Role 2B bedeutet dies, dass mit dem Abbau spätestens nach x + 14 begonnen werden müsste. Dies geht einher mit maximal 14 Stunden Einsatzzeit von insgesamt 34 Stunden Verzögerung, wobei die ersten Verwundeten die Einrichtung erst nach ein bis zwei Stunden erreichen werden. Nach Beginn des Abbaus müssten zudem Verwundete über bis zu 30 km bis zu der Behandlungseinrichtung rückwärts der FEBA transportiert werden. Ein weiterer Aspekt der sanitätsdienstlichen Lagebeurteilung ist die Vulnerabilität luftbeweglicher Zelteinrichtungen gegen indirektes Feuer. Die russischen Artillerie- und Drohnenkapazitäten sind erheblich und stellen einen wesentlichen Eckpfeiler der feindlichen Einsatzgrundsätze dar. Bei einer Breite des Gefechtsstreifens von 20–30 km ist die räumliche Enge von Kampftruppen und verschiedensten Einrichtungen der Führungs- und Einsatzunterstützung nicht zu vermeiden. Ohne über potenzielle unmittelbare Angriffe auf Sanitätseinrichtungen zu sprechen, kann ein Artillerieschlag auf den Nachbarn in 700–1000 m Entfernung verheerende Auswirkungen auf die Zelthüllen und insbesondere die luftgefüllten Stützen haben. Von einem Erhalt der Einsatzfähigkeit für die Folgeoperation kann hier keine Rede mehr sein.
Nutzung von fester Infrastruktur als Lesson Identified aus dem Ukrainekrieg?
Jeder Sanitätssoldat lernt in seiner Ausbildung, dass, wo immer möglich, auch geeignete feste Infrastruktur genutzt werden sollte. Lessons Identified aus der Ukraine scheinen diesen Einsatzgrundsatz zu bestätigen. Dort werden Keller als Infrastruktur für Behandlungseinrichtungen genutzt. Man verbleibt teilweise über mehrere Tage in diesen Kellerstrukturen, da der Frontverlauf sich nur geringgradig bewegt. Tatsächlich erlaubt eine Hüllenunabhängigkeit des Sanitätsgeräts auch die sanitätsdienstliche Unterstützung auch in solcher festen Infrastruktur, erweitert somit die Flexibilität des Einsatzes und ist somit eine Option, die in Abhängigkeit von der Operationsplanung im Führungsprozess zu berücksichtigen ist. Aber auch bei dieser Option besteht ein erheblicher Zeitbedarf für Auf- und insbesondere Abbau. Eine genaue Zeitkalkulation ist zudem schwierig, da dies erheblich von Bauweise, Zugängen und Größe abhängig ist.
Können wir diese Lesson Identified auf unsere Einsatzgrundsätze übertragen? Die Stärke unserer Landstreitkräfte liegt im beweglichen Gefecht – verzögern, zeitlich begrenzt verteidigen, werfen oder zerschlagen des Feindes im Gegenangriff. Ständiges Bewegen bietet weniger Ziele für feindliches, indirektes Feuer und spart Leib und Leben, aber auch Material. Das Beziehen fester Infrastruktur kostet wertvolle Zeit. Abladen des Materials, Transport zur festen Infrastruktur, Verbringung durch enge Türöffnungen und Treppen in die Tiefe der Infrastruktur. Zeit, die wir bereits bei ebenerdiger Infrastruktur benötigen, erst recht aber bei der Verbringung in Kellergeschosse. Zeit, die wir im Rahmen unseres Verzögerungsgefechtes nicht haben.
Quantensprung zu hochmobilen, geschützten Behandlungseinrichtungen
Das oben dargestellte Dilemma betrifft durch die Bank alle Sanitätsdienste der NATO. Fehlende Mobilität und die Vulnerabilität von Zeltsystemen reduzieren die sanitätsdienstlichen Handlungsmöglichkeiten für ein bewegliches Gefecht auf Brigadeebene bei allen Bündnispartnern. Das Autorenteam will den geneigten Leser aber nicht depressiv zurücklassen, da der Silberstreif eines Quantensprungs hochmobiler, geschützter Einrichtungen bereits erkennbar ist. So hat die Firma Rheinmetall für die Ukraine eine hochmobile Role 2F gefertigt (siehe Abb. 2). Diese nutzt allerdings 3:1-Container, was erneut Verlust von Zeit für Auf- und Abbau und zudem eine Einschränkung im Schutzniveau bedeutet.
Die Fähigkeitslücke hochmobiler Systeme für den SanDstBw wurde wie oben angesprochen identifiziert, die notwendigen Rüstungsdokumente erstellt und seit einigen Wochen befindet sich das Projekt in der Ausschreibung. Was sind die Erwartungen und Handlungsmöglichkeiten, die sich mit hochmobilen geschützten Rettungszentren verbinden? Geschützte 1:1-Behandlungscontainer auf geschützten Lastkraftwagen, die mittels Verbindungsschleusen miteinander gekoppelt werden, bedürfen keinerlei vorbereitenden Aufbaus mehr. Mit Hilfe von Hydraulik werden Anpassungen an unebenes Gelände vorgenommen. Das Koppeln erfolgt weitgehend automatisiert. Eine Aufbauzeit und Herstellen der Einsatzbereitschaft für ein Role 2B mit Aufnahme, zwei OP, gleichzeitig OP-Vorbereitung, Intensivcontainer und Labor innerhalb von 30 Minuten ist realisierbar. Bei Abbau müssen die letzten Verwundeten nicht zwingend verlegt werden; die einzelnen Elemente entkoppeln und stellen Marschbereitschaft innerhalb von 30 Minuten her. In unserem Verzögerungsgefecht verlängert sich die Einsatzzeit in der Vzö Linie BRAVO um ca. sieben Stunden, somit deutliche Erhöhung der Überlebenswahrscheinlichkeit verwunderter Soldaten (siehe Abb. 3). Die Hülle des Rettungszentrums schützt vor Kollateralschäden durch indirektes Feuer auf militärische Nachbarn. Die Wahrscheinlichkeit, die Einrichtung auch im weiteren Verlauf des Gefechtes verfügbar zu haben, steigt signifikant. Es gibt weltweit aktuell keine Behandlungseinrichtungen, die die Trias aus Schutz, Mobilität und medizinischer Funktionalität derart realisieren. Der Erfolg dieses Rüstungsprojektes wäre ein Quantensprung für die sanitätsdienstliche Versorgung im mechanisierten Gefecht.
Ausblick
Hochmobile geschützte Systeme sind zunächst im jetzigen Rüstungsprojekt auf sechs Systeme Role 2B beschränkt. Ein erfolgreiches Rüstungsprojekt würde aber den Weg zu geschützter Mobilität auch von Role 2F und Role 1-Einrichtungen deutlich aufzeigen. Sowohl die Role 1 als auch die aktuelle Interimslösung Role 2F basieren auf der Kopplung von aufgesetzten Containern mit Zelten. Dies bedingt Zeitverlust und Vulnerabilität. Koppelbare, hochmobile und geschützte Systeme sind auch für diese Einrichtungen der Weg in die Zukunft und können so zugleich eine neue Familie austauschbarer und modularer Sanitätseinrichtungen aufwachsen lassen. Entscheidend für die Finanzierung und Priorisierung dieser neuen Einrichtungen ist die Erkenntnis, dass Landstreitkräfte nur dann zukünftige Kriege gewinnen können, wenn Sanitätseinrichtungen dem Gefecht hochbeweglich folgen können.
Im Sinne des oben genannten Churchill-Zitats: Wir haben nun die Chance, uns besser auf den nächsten Krieg vorzubereiten.
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3/2024
Für die Verfasser:
Generalarzt Dr. B. Most
Kommando Sanitätsdienstliche Einsatzunterstützung
Sachsen-Anhalt-Kaserne
Zeitzer Str. 112
06667 Weißenfels
E-Mail: BrunoMost@bundeswehr.org