Die Rolle der Bw(Z)Krhs im Rahmen der Re-Fokussierung auf Landesverteidigung / Bündnisverteidigung
Aus dem Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr Inspekteur: Generaloberstabsarzt Dr. U. Baumgärtner)
Seit der Annexion der Krim, der Machtprojektion Russlands bis zu den Grenzen des Bündnisgebietes der NATO, aber auch mit Erstarken des Terrors des sogenannten IS ist klar: Die Bundeswehr und damit auch der Sanitätsdienst sind nicht nur im Krisen- und Konfliktmanagement gefordert. Die lange vernachlässigte Landes- und Bündnisverteidigung rückt wieder in den Vordergrund. Dafür ist der Sanitätsdienst weder personell noch materiell hinreichend aufgestellt. Die notwendigen Anpassungsmaßnahmen betreffen viele Bereiche des Sanitätsdienstes, so auch die Bundeswehrkrankenhäuser.
Was bedeutet Re-Fokussierung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr?
Um die erforderliche Umsteuerung zu leisten, war es Ziel, zunächst ein neues konzeptionelles Soll zu ermitteln. Dem Weißbuch-Prozess aus dem Jahr 2016 folgend und parallel zur Erarbeitung der neuen Konzeption der Bundeswehr wurde dazu unter Leitung des Planungsamtes der Bundeswehr ein vorläufiges Fähigkeitsprofil der Bundeswehr (VFPBw) entwickelt. Dieses beschreibt bis über das Jahr 2030 hinaus auf konzeptionell-planerischer Ebene die notwendigen Fähigkeiten der Bundeswehr auf der Zeitachse. Diese „nationale Ambition“ soll in drei Zwischenschritten (2023/2027/2031) erreicht werden und wird grundsätzlich unabhängig von aktuellen Strukturen oder quantitativen Vorgaben festgelegt. Darin sind auch die sanitätsdienstlichen Fähigkeiten enthalten, um den für den Gesamtansatz notwendigen Beitrag des Sanitätsdienstes zur Landes- und Bündnisverteidigung in der erforderlichen Qualität und Quantität zu erreichen.War die Bundeswehr und damit auch der Sanitätsdienst bislang darauf ausgerichtet, zweimal 10.000 Soldatinnen und Soldaten in zwei Einsatzgebieten in abgestufter Durchhaltefähigkeit zu unterstützen, haben sich die Anforderung nun grundlegend geändert. Kann heute noch das klinische Personal für die Behandlungseinrichtungen in Stabilisierungsoperationen im Kosovo, Afghanistan oder in Mali ohne tiefgreifende Einschnitte in den Versorgungsaufträgen der Bundeswehrkrankenhäuser oder wesentliche Einschränkungen ihrer Fähigkeiten geleistet werden, ist die Frage legitim, ob dies auch für die Zukunft gilt.
Dazu hat die beim Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr im November 2016 eingerichtet Arbeitsgruppe „Re-Fokussierung SanDstBw“ die Erfordernisse der sanitätsdienstlichen Unterstützung der Bundeswehr in der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) untersucht, Ableitungen für das Fähigkeitsprofil getroffen und weiteren Untersuchungsbedarf identifiziert und koordiniert. Diese beinhalten unter anderem folgende Themenbereiche: Patiententransport, Versorgungsebene 1, Versorgungsebene 4, Missionspakete Internationales Krisen-/Konfliktmanagement und Humanitäre Hilfe, bi-/multinationale Kooperationen, Kooperation DRK, Erhöhung der Reaktionsfähigkeit, hybride Bedrohungen, Verwundungs-, Verletzungs- und Erkrankungsmuster, Force Health Protection, Informationsarbeit und historische Erfahrungen, Infrastruktur, Ausbildung LV/BV, IT-Unterstützung und Kommunikationserfordernisse bei LV/BV, Dimension Cyber-/Informationsraum, personeller und materieller Aufwuchs, Reservisten und Führungsstruktur Inland.
Planungsleitend war insbesondere das Aufkommen von Patienten in einem BV-Szenario auf der Basis der Planungsvorgaben der NATO, mit den im NATO Defence Planning Process akzeptierten Ziele und ergänzenden nationalen Bedarfen. Diese Planung geht von einem Gegner mit militärischen Fähigkeiten mindestens „auf Augenhöhe“ aus, der gewillt und fähig ist, das volle Spektrum möglicher Wirkmitteln einzusetzen. Neben der kinetischen Waffenwirkung in der direkten Auseinandersetzung waren also auch Aspekte der „Hybriden Kriegsführung“, der Schutz rückwärtiger Räume oder z. B. Herausforderungen des Cyber-/ Information-Warfare zu berücksichtigen. Nicht unerwähnt bleiben dürfen dabei auch die unterschiedlichen Rechtszustände der Landesverteidigung in Abgrenzung zur Bündnisverteidigung.
Während in der Landesverteidigung auch Sicherstellungsgesetze zum Tragen kommen – Stichwort „DRK-Gesetz“ –, muss derzeit davon ausgegangen werden, dass beim Bündnisfall unterhalb der Schwelle der Landesverteidigung diese Maßnahmen nicht greifen und Grundbetriebsaufgaben auch in den Bundeswehrkrankenhäusern weitestgehend fortzusetzten sind. Zu welchem Zeitpunkt können und müssen also laufende Einsätze abgebrochen werden, um einer mehr oder weniger existenzielle Bedrohung unser Zivilgesellschaft mit vereinten zivilen und militärischen Mitteln entgegen treten zu können? Wann und wie könnten oder müssten die Bundeswehrkrankenhäuser reagieren, wenn zum einen das militärische Personal für den Einsatz in den Einsatz-Behandlungseinrichtungen benötigt wird, zeitgleich aber immer noch die vereinbarten Leistungen für das zivile Gesundheitswesen zu erbringen sind?
Welche Rolle haben die Bundeswehrkrankenhäuser heute und künftig?
Betrachtet man die historische Entwicklung des „Systems Bundeswehrkrankenhaus“ von der Zeit des „Kalten Krieges“ bis heute, wird der Wandel in der Rolle unserer Häuser offensichtlich. Zu der Zeit, als Deutschland noch Kern-Region oder rückwärtiges Gebiet einer möglichen kriegerischen Auseinandersetzung unser Wehrpflicht-Armee mit dem „Ost-Block“ war, stellten 13 Bundeswehrkrankenhäuser die flächendeckende klinische Versorgung als „Krankenhäuser der ersten Stunden“ sicher. Noch bis 1990 verfügte die Bundeswehr zudem planerisch über 126 Reservelazarettgruppen mit 126.000 Betten. Heute sind es nur noch fünf Krankenhäuser mir weniger als 2.000 Betten. Nach wie vor leitet sich deren Bedarf im Wesentlichen aus zwei Kernaufträgen ab: Der Notwendigkeit, das für Einsatzlazarette und Rettungszentren erforderliche Personal ihrer Häuser in hinreichender Qualität und Quantität zeitgerecht zur Verfügung stellen zu können. Zum anderen dienen sie der abschließenden klinischen Versorgung und Rehabilitation der im Einsatz oder Grundbetrieb zu Schaden gekommenen Soldaten und Soldatinnen. Aus diesen Erfordernissen leitet sich auch ihre Einbindung in das zivile Gesundheitssystem ab. Kompetenzerwerb und -erhalt des akademischen und nichtakademischen Personals werden sich auch in Zukunft nur über den arbeitstäglichen Umgang mit schwer- und schwerstkranken Patienten erreichen lassen, die hinsichtlich Ihrer Verletzungsmuster, Erkrankungsbilder und Fallschweren eine geeignete Vorbereitung auf deren Rollen beim Einsatz im gesamten Aufgabenspektrum der Bundeswehr erlauben.Für die Anforderungen der letzten 10 bis 15 Jahre, als Stabilisierungsoperationen mit vergleichsweise geringen Patientenzahlen und wenigen Einsatzbehandlungsrichtungen die Messlatte darstellten, waren fünf Bundeswehrkrankenhäuser und der Verzicht auf Reserven in einen Sanitätsdienst mit etwa 19.000 Dienstposten vielleicht gerade noch hinlänglich.
In einem Szenario der Bündnisverteidigung, in dem der Sanitätsdienst der Bundeswehr womöglich mehrere hundert Patienten pro Tag im Einsatz – und in der Folge auch zuhause in Deutschland – zu versorgen hätte, wären die Bundeswehrkrankenhäuser in ihrer heutigen Dimension und Rolle – diese Einschätzung muss erlaubt sein – vermutlich hoffnungslos überfordert; insbesondere auch dann, wenn zusätzlich die bereits angesprochenen Aspekte einer möglichen hybriden Bedrohung zu tragen kommen und die vereinbarten Leistungen im zivilen Gesundheitswesen weiter zu erbringen sind.
Die Rolle der Bundeswehrkrankenhäuser in der Bündnisverteidigung wird folglich weiterhin folgende wesentlichen Aufgaben umfassen:
- Abstellung Personal für Role-2/3 Behandlungseinrichtungen im Einsatz
- Sicherstellung der Versorgungsebene 4 sowie Fortführung des zivilen Versorgungsauftrags im Rahmen der vertraglich zugesicherten Kapazitäten
- Sicherstellung der Versorgungsebene 4 für die DEU Joint Operations Area (Host Nation Support) für alliierte und eigene Kräfte
- Integration von Unterstützungskräften vergleichbar DRK-Gesetz bei Landesverteidigung
- Weiterführung der Aus-, Fort- und Weiterbildung sanitätsdienstlichen Fachpersonals
Welche Anforderungen ergeben sich daraus?
Um die mit der Re-Fokussierung des Sanitätsdienstes verbundenen Anforderungen an das künftige „System Bundeswehrkrankenhäuser“ zu identifizieren, diese vor dem Hintergrund des Machbaren zu bewerten, die Folgerungen abzuleiten und schnellstmöglich anzugehen, laufen mittlerweile erste Untersuchungen. Fest steht bereits, dass die Bundeswehrkrankenhäuser nicht in der Lage sein werden, diese Herausforderung alleine zu bewältigen. Für die Spitzenlast der Patientenversorgung in der Bündnis-/Landesverteidigung würden selbst 20 Krankenhäuser der Größe unseres Zentralkrankenhauses in Koblenz nicht ausreichen. Wenn zudem nicht davon ausgegangen werden kann, dass neue Bundeswehrkrankenhäuser gebaut werden, bleiben nur wenige Optionen: Kooperationsvereinbarungen, Sicherstellungsübereinkommen oder gar bi- und multinationale Abkommen und der Aufbau einer leistungsstarken Verteilorganisation. Sicher wird man auch „Reserve“ neu denken oder etwa das Thema „Gesamtverteidigung“ zeitnah angehen müssen. Auch den aktuellen Personalkörper unserer Bundeswehrkrankenhäuser könnte man unter dem Stichwort „resiliente Strukturen“ neu bewerten. Zudem bedürfen Fragen nach den Fähigkeiten zur Behandlung von Kampfstoffverletzten einer Antwort.
Folgerungen für die Fähigkeitsentwicklung
Die Folgerungen für die Neu-Ausrichtung der Bundeswehrkrankenhäuser betreffen alle Gestaltungsbereiche und Planungskategorien. Beispielhaft auch Fragen der Organisation oder des Personals: Welche Strukturen sind im Bündnis- oder Verteidigungsfall die geeigneten, um die Aufgabe der Rolle 4 für das zu erwartende Patientenkollektiv und deren Verletzungsmuster weiterhin erfolgversprechend erfüllen zu können? Hierbei geht es nicht nur um die Anzahl von Dienstposten oder Personal, sondern auch um das Feststellen und Unterscheiden der erforderlichen Verwendungsreihen, Ausbildungshöhen oder fachlichen Qualifikationen.
Wie gestalten wir die notwendigen Kooperationen oder Rückversicherungs-Pläne mit zivilen Partnern, den anderen Hilfsorganisationen, oder müssten unsere Krankenhäuser im Rahmen der Gesamtverteidigung womöglich selbst zusätzliche Aufgaben übernehmen?
Deutschland verfügt über eine leistungsstarke Gesundheitsversorgung, wobei das verfügbare und geeignete Personal für die Gesundheitsversorgung weiterhin eine kritische Ressource in Deutschland darstellen wird. Reservisten werden für die Rückversicherung sicherlich eine große Rolle spielen können, auch wenn diese bei der Landesverteidigung vielleicht in Ihren eigenen Krankenhäusern oder Praxen gebraucht werden, um mögliche zivile Verwundete zu versorgen. Ist es realistisch, dass sich die Bundeswehr über Erlasse oder Gesetze den regelhaften, prioritären Rückgriff auf zivile Ressourcen der klinischen Versorgung sichert? Vermutlich kommen hier eher vertragliche Vereinbarung über die Bereithaltung klinischer Ressourcen mit zivilen Krankenhausträgern, wie den Berufsgenossenschaften, in Deutschland zum Tragen, die mit Akutkliniken auf eine qualitativ hochwertige Behandlung von (Arbeits-)Unfällen spezialisiert sind und als Partner zur Sicherstellung der Traumaversorgung von Soldatinnen und Soldaten dienen könnten. Vielleicht könnte man ja sogar – wenn dies im Interesse des Bundes ist – die mit der Neuordnung der Krankenhauslandschaft freifallenden Bettenkapazitäten oder Infrastrukturen für Zwecke der LV/BV nutzen.
Hinsichtlich der Aus-, Fort- und Weiterbildung ergeben sich ebenfalls neue Perspektiven. Es gilt nicht nur die Ausbildung oder Curricula auf die Belange der LV/BV anzupassen. Übungen und einsatzgleichen Verpflichtungen nehmen absehbar zu, so dass es sich anbietet, diese zunehmende für die Weiterbildung von Fachpersonal zu nutzen. Dies dient zudem der Interoperabilität mit internationalen und zivilen Partnern.
Auch die Infrastruktur unserer Häuser ist zukunftsweisend auszurichten. Dies betrifft bauliche Erfordernisse, wie etwa zur Absicherung, für Reservekapazitäten oder besondere Patientenlagen bei ABC-Ereignissen. Nicht zu vergessen: die IT-Infrastruktur und die Digitalisierung, um sich gegen Cyber-Attacken zu wappnen bzw. eine größere Anzahl an Verwundeten und deren bruchfreie medizinische Dokumentation bewältigen zu können.
Schlussendlich verlangen die glaubhafte Vorsorge und – schlimmstenfalls – die wirksame Wahrnehmung der komplexen, bereichsübergreifenden Aufgaben der Gesundheitsversorgung bei der Landes- und Bündnisverteidigung für die Angehörigen der Bundeswehr und ggf. mitzuversorgender Patientenkollektive anderer Nationen oder der Zivilbevölkerung nach einer geeigneten Führungsorganisation. Hier sind insbesondere die bestehenden sanitätsdienstlichen Initiativen der NATO und der Europäischen Union (EU) zu betrachten. Es gilt, das bereits ins Leben gerufene Framework Nations Concept (FNC) Projekt „Multinational Medical Coordination Centre (MMCC)“ im Sinne eines „European Medical Coordination Center (EMCC)“ fort zu entwickeln. Damit ließe sich das Projekt der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) der EU für ein gemeinsames sanitätsdienstliches „Hauptquartier“ wirkungsvoll unterstützen. Der sanitätsdienstliche Pfeiler der NATO wie auch der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU könnten bezogen auf die sanitätsdienstliche Unterstützung in und für Europa nachdrücklich gestärkt werden. Letztlich wird sich nur ein europaweit harmonisierter und koordinierter Sanitätsdienst den möglichen, kommenden Herausforderungen erfolgreich stellen können.
Fazit
Im laufenden „Enablement of SACEUR´s AOR“ nimmt der Sanitätsdienst der Bundeswehr aufgrund der geographischen Lage Deutschlands, aber auch dank seiner ausgezeichneten Fähigkeiten und Möglichkeiten, eine zentrale Rolle in der Führung und Durchführung der militärischen Gesundheitsversorgung ein. Die Bundeswehrkrankenhäuser sind und bleiben dabei die Flaggschiffe des Sanitätsdienstes in der Grundaufstellung der Bundeswehr wie auch im künftigen sanitätsdienstlichen Fähigkeitsprofil. Sie enthalten unverzichtbare Fähigkeiten, Kräfte und Mittel zum Erfüllen der Aufgaben der Bundeswehr. Neben ihrer Rolle in der Sanitätsbasis Inland und Teil der „sanitätsdienstlichen Drehscheibe“ im Zentrum Europas sind sie nach wie vor unersetzlich für den sanitätsdienstlichen Beitrag zum nationalen Risiko- und Krisenmanagement, für Heimatschutz und Host Nation Support, insbesondere aber für die Landes- und Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO als konzeptionell anspruchsvollste Aufgabe. Eine Änderung des Mindsets, wieder hin zu LV/BV, ist unumgänglich. Jetzt gilt es, auch unsere Bundeswehrkrankenhäuser auf die mit der Bündnisverteidigung verbundenen, besonders herausfordernden Aufgaben zu re-fokussieren. Als Teil der Verbesserung der personellen wie materielle Einsatzbereitschaft unseres gesamten Sanitätsdienstes und seines unentbehrlichen Aufwuchses müssen wir sie auf die gesamte Breite des Auftragsspektrums der Bundeswehr im In- und Ausland auszurichten.
Anschrift f.d.Verf.:
Oberstarzt Dr. Eike Dybilasz
Unterabteilungsleiter I
Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr
Falckenstein-Kaserne
Von-Kuhl-Straße 50
56070 Koblenz
E-Mail: EikeDybilasz@bundeswehr.org
Datum: 09.02.2019
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 4/2018