Delegation ärztlicher Tätigkeiten
- Das "Westersteder Arztmodell" tritt an gegen den Ärztemangel
Der Klinikalltag zeigt: Zivile und militärische Krankenhäuser müssen wegen Personalmangel Stationen schließen und eine wichtige Berufsgruppe für die medizinische Heilbehandlung, der Arzt, wird zur Mangelware. Das „Deutsche Ärzteblatt“ verzeichnet für das Geschäftsjahr 2006 eine Steigerung der Stellenanzeigen für klinische Fachgebiete um 20 Prozent, im Akutbereich sogar um 50 Prozent. Der Ärztemangel scheint allgegenwärtig – aber haben wir einen Ärztemangel in Deutschland, oder setzen wir unsere Ärzte nur falsch ein? Mit der Umsetzung des DRG-Systems werden die an deutschen Kliniken tätigen Ärzte durch Dokumentationsaufgaben zusätzlich belastet. Neben der DRG-Dokumentation arbeiten Ärzte zusätzlich zur Stations- und OP-Tätigkeit noch als „DRG-“ und „Qualitätsmanagementbeauftragte“ und koordinieren unter anderem als Fallmanager den Ablauf der Untersuchungen. Eine Studie des Deutschen Krankenhausinstitutes fand in einer Untersuchung einen durchschnittlichen Dokumentationsaufwand von circa 3 Stunden pro Arzt und Tag. Zukünftig wird durch die steigende Anzahl von Behandlungsfällen pro Krankenhausbett die administrative Arbeitsbelastung im ärztlichen Bereich weiter zunehmen. Um den Krankenhausbetrieb bei kürzeren Liegezeiten, steigenden Fallzahlen und vakanten Arztstellen ohne Reibungsverluste aufrechtzuerhalten, muss geprüft werden, wie die Ärzte effektiv von nichtärztlicher Arbeit entlastet werden können. Das Ziel des Westersteder Arztmodells ist Realisierung der Maxime: „Ärzte sollen nur der Tätigkeit nachgehen, für die sie ausgebildet wurden!"
Das Krankenhausbarometer 2007 des DKI (Deutsches Krankenhausinstitut) zeigt, dass eine Neustrukturierung des ärztlichen Dienstes für Krankenhäuser eine strategisch überlebenswichtige Relevanz hat. Zur Zeit erproben oder planen circa 39% der Krankenhäuser ab 600 Betten, 23% der Krankenhäuser zwischen 300 und 599 Betten und 14% der Krankenhäuser zwischen 50 und 299 Betten eine neue Aufgabenverteilung im ärztlichen Dienst. Eine Entlastung der Ärzte von Codiertätigkeit steht zunächst im Vordergrund. Verschlüsselten nach dem Krankenhausbarometer 2006 noch 65,2 Prozent der Ärzte die Diagnosen und Prozeduren selbst, so wurde nach dem Krankenhausbarometer 2007 diese Tätigkeit schon zu 46,6 Prozent delegiert.
Umsetzung im Bundeswehrkrankenhaus Westerstede
Folgend beschriebenes Modell wurde im Bundeswehrkrankenhaus Bad Zwischenahn seit September 2006 erprobt und wird im neuen Bundeswehrkrankenhaus Westerstede mit Aufnahme der klinischen Tätigkeit ab 30.06.2008 weiter fortgeführt. Der Arzt soll dabei vollkommen von der Abrechnungsdokumentation im KIS (Krankenhausinformationssystem) sowie weiteren administrative Abläufen befreit werden und die Tätigkeiten werden an speziell geschultes Pflegepersonal übergeben. Die Entlastung von administrativen Tätigkeiten beginnt am Aufnahmetag. Hierzu wurden zunächst zwei Krankenschwestern zwei Monate lang im Controlling, in Dokumentation und DRG-Abrechnung geschult. Zeitgleich wurde auf der Station für Innere Medizin ein Ist-Ablauf der medizinischen Dokumentation und Abrechnung durch Mitarbeiter des Controllings aufgestellt. Besonderer Wert wurde dabei darauf gelegt, dass nicht schon beim Erstellen des Ist-Zustandes Verbesserungen einfließen. Anschließend wurde durch die Mitarbeiter des Controllings unter Einbeziehung der Ärzte und des Pflegepersonals ein Soll-Zustand definiert. Ab Mitte November 2006 nahmen die im Controlling zu Dokumentations- und Casemixassistenten (DCA) ausgebildeten Krankenschwestern in einer Erprobungsphase auf der Station für Innere Medizin die Abrechnungsdokumentation auf, um so den theoretisch festgelegten Sollzustand umzusetzen. Hierzu nehmen die DCAs an den morgendlichen Kurvenvisiten, Stationsvisiten und der Mittagübergabe des Pflegepersonals teil. Kernelement ist, die DCA in den medizinischen Prozess zu integrieren. Aufgenommen werden ab dem Tag der Aufnahme zunächst die Hauptdiagnosen, behandlungsrelevante Nebendiagnosen und alle Prozeduren. Kein Arzt soll diese Dokumentationstätigkeiten mehr selbst im KIS (Krankenhausinformationssystem) vornehmen müssen. Nur eine spätere Freigabe ist noch notwendig. Während der ärztlichen Visite können die DCAs auf obere und untere Grenzverweildauern hinweisen, den Ein- oder Austritt aus den klinischen Behandlungspfaden feststellen oder die Dokumentation und abrechnungsrelevante Arzneimittel und Blut ergänzen (siehe Abb. 1).
Abb. 1: Dokumentations-CM-Assistent auf Station
Die Ärzte gewinnen so Zeit für das wichtige Bedside-Teaching während der Facharztausbildung oder Patientengespräche. Im Januar 2007 wurde das Konzept der DCAs auf zwei Stationen für Orthopädie und Unfallchirurgie des damaligen Bundeswehrkrankenhauses Bad Zwischenahn ausgedehnt. Auch hier erfolgte zunächst eine Dokumentation des Istzustandes und Darstellen eines Sollzustandes der medizinischen und Abrechnungsdokumentation. Zwei DCAs betreuen nun gemeinsam eine internistische und drei orthopädisch-unfallchirurgische Stationen im Bundeswehrkrankenhaus Westerstede.
Erfahrungen mit dem „Westersteder Arztmodell“
Das „Westersteder Arztmodell“ ermöglicht Ärzten, mehr Zeit am Patienten zu verbringen und so schneller in ihrer Facharztausbildung voranzukommen. In Auslandseinsätzen können die Ärzte so mehr klinische Erfahrung einbringen, tiefgreifende Erfahrungen zum deutschen Codier- und Abrechnungssystem werden jetzt und zukünftig keinen Soldaten in einer Notfallsituation retten.
Die Entlastung der Ärzte von administrativen Arbeiten steigert die Berufszufriedenheit und erhöht die Attraktivität der Weiterbildungseinrichtung. Unternehmen werben zur Zeit und zukünftig verstärkt, wie bereits in der Wirtschaft seit vielen Jahren, um „High Potentials“. Dabei gilt es, hervorragendes Personal durch Konzepte zu gewinnen und zu halten. Das „Westersteder Arztmodell“ ermöglicht schnellere Lernfortschritte durch eine Konzentration auf ärztliche Kernkompetenzen.
Der Behandlungsprozess im Krankenhaus wird durch die Entlastung der Ärzte von nichtapprobationsgebundener Tätigkeiten günstiger. Einer der größten Effizienzkiller in deutschen Akutkliniken ist zur Zeit der nicht bestimmungsgemäße Einsatz von Personal.
Ohne Mehrkosten kann durch speziell geschultes Personal 3% Mehrerlös generiert werden:
- durch Beachtung der oberen und unteren Grenzverweildauer
- sowie durch zusätzlich kodierte Nebendiagnosen und Prozeduren.
Für ein mittelgroßes Krankenhaus mit 50 Mio. € Umsatz bedeutet das Festhalten am bisherigen Abrechnungsprozess einen jährlichen Erlösausfall von 1,5 Mio. €. Die Kosten für alle nicht dokumentierten und nicht abgerechneten, aber erbrachten Leistungen fallen voll an und verschlechtern jede Effizienzbetrachtung.
Erfolgsfaktoren für die Delegation der Abrechnungsdokumentation im Bundeswehrkrankenhaus Westerstede sind dabei:
- gut ausgebildetes Personal mit medizinischer Vorerfahrung,
- Betrachtung des Gesamtprozesses der medizinischen Behandlung und Anpassen der Prozesse für jede Fachrichtung und Abteilung und eine
- Berufsgruppen- und hierarchieübergreifende Erarbeitung des Sollzustandes.
Der Einsatz von Dokumentationsassistenten ist dabei eine neuralgische Stelle im Krankenhaus. Hier werden die Erlöse dokumentiert und die Rechnungen geschrieben. Daher sollte an dieser Stelle in Bundeswehrkrankenhäusern Zivilpersonal sitzen, um eine kontinuierliche, unterbrechungsfreie Arbeit zu gewährleisten. Jeder Personalwechsel und jede Unterbrechung führt zu direkten Erlösverlusten. Soldaten haben durch Ausübung ihrer militärischen Verpflichtungen (Inübunghaltung, Auslandseinsätze usw.) eine geringere Nettojahresarbeitszeit im Bereich der Dokumentationstätigkeit und tiefgreifende Erkenntnisse im Codier- und Abrechnungssystem bringen keine verbesserte Patientenversorgung im Auslandseinsatz.
Ausblick
Mit dem „Westersteder Arztmodell“ hat das Bundeswehrkrankenhaus Westerstede angefangen, dem zivilen Wandel zur Neuordnung des ärztlichen Dienstes zu folgen, um Ärzten mehr Zeit für die Ausübung der ärztlichen Kernkompetenz, der Behandlung am Patienten, zu geben. In Zukunft müssen komplette Behandlungsketten darauf überprüft werden, Tätigkeiten vom Arzt auf das Pflegepersonal und folgend natürlich Tätigkeiten vom Pflegepersonal auf Stationsassistenten zu delegieren.
Eine Studie des DKI (Deutsches Krankenhausinstitut) aus dem Jahr 2008 nennt als weitere ärztlich delegierbare Tätigkeiten unter anderem: die Dokumentation für Qualitätssicherung, Vorbereiten von Arztbriefen, venöse Blutentnahmen, Insulinapplikation nach ärztlicher Anweisung, Hakenhalten im OP, Entfernen von Reddon-Saugdrainagen und Anhängen von Kurzinfusionen. Wichtig ist hierbei, den Gesamtprozess zu betrachten und nicht einzelne Berufsgruppen. Werden Ärzte isoliert betrachtet und nicht der Gesamtprozess, so kommt es schnell zu einer Überarbeitung des Pflegepersonals. Entsprechend werden zukünftig folgende Tätigkeiten von Pflegepersonal an Stationshilfen delegiert werden müssen: unkomplizierte Patiententransporte, Holund Bringedienste, Austeilen und Zureichen von Mahlzeiten, Körperpflege des Patienten sowie Anmelden und Koordination von diagnostischen Untersuchungen. Stationshilfen werden so unabdingbar notwendig für einen effizienten Krankenhausbetrieb.
Fazit
Das „Westersteder Arztmodell“ demonstriert erfolgreich, wie die Ausbildung- und Inübunghaltung verbessert und gleichzeitig Mehrerlöse generiert werden können. Das Ergebnis ist eine gesteigerte Effizienz und Effektivität. Betrachtet werden dabei berufsgruppenübergreifend die Prozesse im Krankenhaus. Prozessverbesserungen sind dabei keine Einmal-, sondern eine Daueraufgabe des modernen Krankenhausmanagements.
Datum: 01.10.2008
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2008/3