Simulatorinduzierte Befindlichkeitsstörungen bei Heeresfliegern
Der Nutzen von Simulatoren in der Ausbildung zum Hubschrauberpiloten wird durch das potentielle Auftreten von Befindlichkeitsstörungen getrübt. Bei dem Phänomen der Simulatorkrankheit handelt es sich um körperliche Missempfindungen, die nur bei oder nach Simulatorflug und nicht bei einem vergleichbaren realen Flug auftreten. Häufigste Symptome sind räumliche Desorientierung, Übelkeit, Schwindel, Kopfschmerzen und Schweißausbrüche, welche oft unmittelbar und ohne Vorwarnung auftreten. Das Auftreten von Simulatorkrankheit kann den Nutzen des Simulators negativ beeinflussen. Neben einer Ablehnung des Simulators durch Probanden mit einmal erlittener Simulatorkrankheit und negativem Übungstransfer spielt besonders das Wiederauftreten von Symptomen nach einer Phase der Symptomfreiheit („Flashbacks“) eine Rolle für die Flugsicherheit. In Studien an der Heeresfliegerwaffenschule in Bückeburg wurden daher zwei wesentliche Fragestellungen untersucht:
- Korreliert das Auftreten von subjektiven Befindlichkeitsstörungen – ermittelt durch Fragebögen - mit objektiven Gleichgewichtsstörungen – ermittelt durch Posturographie?
- Nach welcher symptomfreien Zeit können Flashbacks noch auftreten? Wie gravierend sind diese?
In drei Studien konnte gezeigt werden, dass subjektive Befindlichkeitsstörungen und Gleichgewichtsstörungen nicht miteinander korrelieren und dass relevante Flashbacks maximal bis 6 Stunden nach Simulatorflug auftreten.
1. Einführung
Der zunehmende technische Fortschritt lässt immer komplexere virtuelle Welten zu. Der Einsatz von Simulatoren ist bereits in vielen Ausbildungs- und Trainingseinrichtungen Alltag. In modernen Simulatoren lässt sich fast jede erdenkbare Situation und Umgebung darstellen, ein fast hundertprozentiges Abbild der realen Welt erscheint machbar. Aber eben nur fast… Eine moderne Hubschrauberausbildung ist teuer, laut, umweltbelastend und auch nicht ungefährlich. Seit der Einführung der ersten computergestützten Simulatoren in den 50er Jahren existiert der Wunsch, möglichst viele Ausbildungsabschnitte in einem Hubschraubersimulator durchzuführen, in dem viele der o.a. Nachteile wegfallen oder zumindest deutlich reduziert werden. Mit zunehmender Komplexität der Sichtsysteme trat aber immer häufiger ein gravierendes Problem auf: Simulatorkrankheit [1].
Die Symptome der Simulatorkrankheit gleichen denen der klassischen See- oder Bewegungskrankheit („Motion Sickness“) [2], im wesentlichen Übelkeit, Schwindel, Sehstörungen, Kopfschmerzen und Schweißausbrüche. Im Gegensatz zur klassischen Bewegungskrankheit tritt die Simulatorkrankheit jedoch auch ohne jede Bewegung auf. Als Erklärung dient die so genannte „Cue-Conflict“-Theorie. [3,4,5] Diese geht davon aus, dass im Gehirn Eindrücke aus dem vestibulären und dem visuellen System nicht zur Deckung gebracht werden können und der Organismus somit mit den o.a. Symptomen reagiert. Diese Theorie erklärt sowohl das Auftreten von Befindlichkeitsstörungen bei Systemen ohne Bewegung als auch bei Simulatoren mit Bewegungssystem: Selbst bei eingeschalteter Bewegung passt die gefühlte Bewegung nie ganz zum visuellen Bild, da das Bewegungssystem Rückstellbewegungen in die Simulation einbauen muss. Diese Korrekturbewegungen registriert das Unterbewusstsein und es kann auch bei Simulatoren mit Bewegungssystemen zu Simulatorkrankheit kommen. Letzteres erklärt auch, warum erfahrene Piloten ggü. Flugschülern in der Regel stärker von Simulatorkrankheit betroffen sind: hier passt das dargebotene Bild und die dargebotene Bewegungsillusion nicht zu der über Jahre hinweg erlernten und erlebten Erfahrung („Hosenbodenfliegerei“), der Flug im Simulator – mit und ohne Bewegung – führt bei erfahrenen Luftfahrzeugführern sehr häufig zu Symptomen der Simulatorkrankheit. Simulatorkrankheit ist allerdings nicht nur ein „Schönheitsfehler“, sondern vermag den Trainingseffekt in Frage zu stellen und ggf. sogar die Flug- und Bodensicherheit zu beeinträchtigen.
Vier wesentliche Auswirkungen der Simulatorkrankheit auf den Probanden werden postuliert [6]:
- Weniger Simulatornutzung: Piloten, die negative Erfahrungen mit Simulatorkrankheit im Simulator gemacht haben, sind grundsätzlich wenig bereit, diese ein zweites Mal zu erleben und meiden den Simulator.
- Störungen der Simulatorausbildung: Einmal dadurch, dass das Auftreten von Symptomen der Simulatorkrankheit sicherlich den Ablauf des Trainings im Simulator behindert. Zum anderen besteht die Gefahr, das sich die Piloten im Simulator bestimmte „Vermeidungsstrategien“ angewöhnen, welche – übertragen auf den „Actual-Flight“ – von Nachteil sein können.
- Flugsicherheit: Plötzlich auftretende Symptome nach initialer Beschwerdefreiheit (Flashbacks) können – falls nach Simulatorflug ein Realflug durchgeführt wird- den Piloten so beeinträchtigen, dass er sein Luftfahrzeug nicht mehr sicher beherrscht.
- Bodensicherheit: Auch wenn nach dem Simulatorflug kein „Actual-Flight“ durchgeführt wird, bestehen können durch Flashbacks gefährliche Situationen entstehen, z.B. beim Führen eines Kraftfahrzeugs.
Aufgrund der hier dargestellten Auswirkungen ist eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Simulatorkrankheit“ bei der militärischen Nutzung von Simulatoren unabdingbar. Ziel der in Bückeburg durchgeführten Studien war es,
- zu untersuchen, ob das Auftreten von Simulatorkrankheit bei bestimmten Probanden mit apparativen Methoden vorhersagbar ist. Dies wäre von Vorteil, da so „empfindliche“ Probanden im Vorfeld der Simulatorausbildung bereits identifiziert und speziell geschult werden könnten.
- die Häufigkeit, die Intensität und die maximale zeitliche Verzögerung des Auftretens von Flashbacks zu bewerten, somit das Flugsicherheitsrisiko nach Simulatorflug zu minimieren und als Quintessenz eine einheitliche Karenzzeit für Realflüge nach Simulatorflug festzulegen. Hier sollte möglichst ein internationaler Standard gefunden werden, der einen Kompromiss zwischen operativer Notwendigkeit und Flugsicherheit darstellt.
2. Sichtflugsimulator an der Heeresfliegerwaffenschule in Bückeburg
Die Sichtflugsimulatoren im Hans E. Drebing Simulatorzentrum der Heeresfliegerwaffenschule in Bückeburg wurden von der Firma CAE Elektronik GmbH in Stolberg geliefert. Hierbei handelt es sich um ein Simulatorsystem in modularer Bauweise. Dies bedeutet, dass ein für alle Luftfahrzeugmuster identisches Grundmodul existiert, welches aus einem Basismodul im engeren Sinne, dem Bewegungssystem, dem Lehrermodul, dem Sichtsystem, dem Bildgenerator, einer Kontrollkonsole (extern) und einer Debriefing- Station besteht. Spezifisch für das Luftfahrzeug sind dann nur noch das Cockpitmodul sowie eine typspezifische Software. Die ersten beiden Simulatoren vom Typ Bell UH-1D wurden am 18.02.02 in Betrieb genommen. Bei den Simulatoren handelt es sich um ein Hydraulic Motion System mit 6 Freiheitsgraden. Sie bieten jeweils 8 Projektoren, welche eine Horizontalsicht von 240° und eine Vertikalsicht von 90° generieren. Die Bildgeneratoren erzeugen bei einer Bildwiederholrate von 300 Mega-Pixel pro Sekunde 3200 Polygone bzw. 64 bewegte Objekte gleichzeitig. Es ist ein Seatshaker für Pilot und Copilot vorhanden. Der Simulator verfügt über eine Datenbasis, mit der in hochauflösender Grafik ein Gebiet von 2500 km² dargestellt werden, drei besonders stark frequentierte Zonen im Raum Bückeburg mit einer Größe von 2-6 km² können darüber hinaus noch sehr hoch auflösend dargestellt werden. Die Kontrolle über den Simulator kann wahlweise durch eine Fluglehrerkonsole intern oder durch eine Konsole in einem zentralen Überwachungsraum übernommen werden. Alle ausbildungsrelevanten Abschnitte können aufgezeichnet werden und im Anschluss an einer Debriefingstation ausgewertet werden. Weiterhin ist eine Nachtflugsimulation einschließlich der Verwendung einer modifizierten Bildverstärkerbrille (BiV-Brille) möglich. Das komplette Simulatorsystem hat ein Gewicht von 13,5 t, beim Betrieb von 12 Simulatorsystemen hat die Anlage einen Anschlusswert von 4,1 Megawatt. Eine Vernetzung aller 12 Simulatoren (2x Bell UH-1D, 2x CH 53, 8x EC 135) für gemeinsame Missionen ist ebenfalls möglich.
3. Erste Studie (2002)
3.1. Grundlagen
Die erste Studie fand begleitend zum „Modellehrgang Bell UH-1D“ von April bis Mai 2002 statt. In diesem Lehrgang sollten Erfahrungswerte gesammelt werden, ob ein Nichtflieger allein durch Simulatorausbildung dazu gebracht werden kann, unter Anleitung eine Platzrunde actual zu fliegen. Im Rahmen des Modellehrgangs waren 14 Flugschüler ohne vorherige fliegerische Ausbildung und 9 erfahrene Fluglehrer beteiligt. Dabei hatten die Schüler insgesamt 10 verschiedene Unterrichtseinheiten zu absolvieren, welche alle aufeinander aufbauten. Erst nach zufrieden stellender Absolvierung einer Unterrichtseinheit konnte mit der nächsten Einheit begonnen werden. Die Inhalte der Unterrichtseinheiten im Einzelnen:
- Geradeausflug
- Kurvenflug
- Steigen und Sinken mit konstanter Geschwindigkeit
- Verlangsamen und Beschleunigen bei konstanter Höhe
- Verlangsamen und Beschleunigen im Sink- und Steigflug
- Geschwindigkeitsänderungen bei Steigund Sinkflugkurven
- Vorübung für den Schwebeflug
- Platzflug
- Schwebeflug
- Vorbereitung für den Einweisungs- und Überprüfungsflug
Zum Abschluss der Simulatorausbildung wurde ein realer Platzflug durchgeführt. In den ersten Tagen der Simulatorausbildung wurde die Ausbildungszeit auf 20 Minuten beschränkt, um eine ausreichende Simulatoradaptation bei den Probanden zu erreichen. Die Ausbildungszeit wurde dann sukzessive bis auf maximal 60 Minuten gesteigert. Das Auftreten von Symptomen der Simulatorkrankheit führte zum sofortigen Abbruch der Unterrichtseinheit durch den Fluglehrer, dies hatte keine negativen Folgen für den Probanden.
Abb. 1: Messanordnung
3.2. Methodik
Zur Ermittlung von subjektiven Symptomen der Simulatorkrankheit im Zusammenhang mit den Unterrichtseinheiten wurden die Probanden angewiesen, zu der Unterrichtseinheit eine Stunde nach Ende des Fluges ein Simulator Sickness Questionnaire (SSQ) auszufüllen. [7] Dieser Fragebogen enthielt 16 typische Symptome der Simulatorkrankheit, welchen vier Ausprägungsgrade (keine Symptome, leichte, mittlere oder schwere Symptomatik) zugeordnet werden konnten. Für die statistische Auswertung wurden diese Ausprägungsgrade quantifiziert und Werten von 0-3 zugeordnet. Darüber hinaus wurde im Fragebogen angegeben, wann die Symptome auftraten. (Vor, während, unmittelbar nach und eine Stunde nach dem Flug) Nach 6 Wochen Lehrgang standen von den 23 Probanden 525 SSQ zur Verfügung. Zur besseren Quantifizierbarkeit wurden die Ausprägungsgrade aller SSQ eines Probanden addiert und durch die Anzahl der SSQ eines Probanden dividiert. Die so errechneten Symptomquotienten (SQ) stellten ein Maß für Ausprägung und Häufigkeit aller Beschwerden (ohne Berücksichtigung der Qualität) dar und konnten dann der weiteren Untersuchung zugeführt werden.
Zur Ermittlung eines objektivierbaren Parameters für Symptome der Simulatorkrankheit wurde eine Quantifizierung der Gleichgewichtsregulation auf der Grundlage des Romberg’schen Stehversuches (Posturographie) [8] durchgeführt. Die Messungen erfolgten dreimal im Zusammenhang mit einer Unterrichtseinheit: Unmittelbar vor dem Flug, unmittelbar (maximal 10 Minuten) nach dem Flug und eine Stunde nach dem Flug.
Die Untersuchung der Gleichgewichtsregulation erfolgte in zwei Abschnitten von je 45 Sekunden Dauer auf einer speziellen Messplattform. Die Probanden nahmen eine Körperhaltung entsprechend des Romberg’schen Stehversuches ein. Die Arme wurden in Supinationsstellung der Hände nach vorne ausgestreckt. Im ersten Abschnitt hatten die Probanden zunächst die Möglichkeit, die Gleichgewichtshaltung mittels eines optischen Fixationspunktes zu kontrollieren. Im zweiten Abschnitt sollten die Probanden die Augen schließen, es stand somit keinerlei optisches Gleichgewichts-Feedback zur Verfügung. Die ersten fünf Sekunden eines Durchganges standen den Probanden als „Totzeit“ zu Adaptation an das Messverfahren zur Verfügung, hier erfolgte noch keine Aufzeichnung der Daten. Die Messplattform war mit 4 Ge - wichts sensoren in jeder Ecke ausgestattet, die je nach Gewichtsverlagerung auf der Plattform unterschiedlich belastet wurden. Die Messwerte der Drucksensoren wurden dann einem Auswertecomputer zugeführt und dort weiter aufbereitet. Jede Messung über 45 Sekunden lieferte dann als Ausdruck des Gleichgewichtsverhaltens eine dimensionslose Zahl (mittlerer quadratische Fehler, MQF), welche mit zunehmender Gleichgewichtsinstabilität anstieg.
3.3. Ergebnisse und Diskussion
Im zeitlichen Verlauf der ersten Studie nahmen die MQF der einzelnen Probanden ab. Dies lässt sich zum einen mit einem gewissen Trainingseffekt durch die immer wieder wiederholten Messungen erklären. Andererseits ist auch eine Verbesserung des Gleichgewichtssinnes durch das regelmäßige Flugtraining als Ursache denkbar. Für beide Phänomene finden sich Erklärungen in der Literatur.
Bei allen Untersuchungen waren die MQF mit geschlossenen Augen höher als mit offenen, siehe hier Tabelle 1. Dies zeigt die Relevanz der visuellen Stabilisierung und deckt sich mit der Literatur. [8] Tabelle 1 zeigt auch, dass die MQF der Lehrer stets höher waren als die der Schüler. Dies würde sich mit dem Phänomen decken, dass erfahrene Flieger (Lehrer) mehr Probleme mit Simulatorkrankheit haben als unerfahrene (Schüler), allerdings sind Fluglehrer auch regelmäßig älter als Flugschüler und es gibt in der Literatur auch Belege dafür, dass mit zunehmendem Alter die Gleichgewichtsregulationsfähigkeit ab - nimmt. Es fanden sich darüber hinaus in einer Korrelationsanalyse nach Spearman’s Rho signifikante bis hochsignifikante positive Korrelationen zwischen MQF und anamnestischen Daten bezüglich BMI, Gewicht und Alter. Die Größe scheint keinen Einfluss auf das Gleichgewichtsverhalten zu haben. Diese Ergebnisse sind in Tabelle 2 dargestellt. Auch dieses Phänomen ist in der Literatur belegt.
Der Kernpunkt der ersten Studie war allerdings die Frage, ob das Auftreten von subjektiven Symptomen der Simulatorkrankheit mit objektivierbaren Gleichgewichtsstörungen korreliert.
Die in Tabelle 3 dargestellte Korrelationsanalyse macht deutlich, dass keinerlei statistischer Zusammenhang zwischen Symptomen der Simulatorkrankheit und dem Gleichgewichtsverhalten nachweisbar war. Somit ist als Ergebnis der o.a. Studie die Posturographie nicht als prediktives Verfahren für das Auftreten von Simulatorkrankheit geeignet. Diese Studie hat aber wiederum unterstrichen, dass die Ursachen für Simulatorkrankheit sehr komplex sind und nicht allein auf einer vestibulären Störung beruhen. [9]
4. Zweite Studie 2004
4.1. Grundlagen
Auf Basis der Erfahrungen in der ersten Studie in Bückeburg wurde deutlich, dass Simulatorkrankheit auch in Bückeburg alle bekannten negativen Auswirkungen auf den Probanden haben konnte. Flugmedizinisch sind die physischen Folgen der Simulatorkrankheit kein besonders kritisches Problemfeld. Mit Antiemetika wie Metoclopramid oder Dimenhydrinat, unterstützt durch allgemeine Maßnahmen wie geringe körperliche Betätigung an der frischen Luft, ist das Problem gut beherrschbar, es gibt keine Spätfolgen. Treten die Symptome während oder unmittelbar nach Simulatorflug auf, so werden die Probanden fliegerärztlich betreut und bis zum sicheren Abklingen der Symptome nicht als nicht flugdiensttauglich geführt. Somit ergibt sich hier kein Flugsicherheitsproblem. Gefährlich wird es dann, wenn ein Proband sich zunächst wohl fühlt und dann nach einem symptomfreien Intervall plötzlich Symptome erleidet. (Flashbacks) Aus Sicht der Flugsicherheit sind somit Flashbacks die gefährlichste Folge der Simulatorkrankheit. Diese Flashbacks sollten in der zweiten Studie genauer untersucht werden.
In der ersten Studie konnte auch ein weiteres Phänomen der Simulatorkrankheit verifiziert werden: mit zunehmender Ausbildung im Simulator reduziert sich das Auftreten von Simulatorkrankheit beim einzelnen Individuum. [10] Mit Aufnahme des routinemäßigen Ausbildungsflugbetriebes im Sichtflugsimulator wurde der eigentlichen Ausbildung daher eine „Desensibilisierungsphase“ vorgeschaltet. Der Proband sollte mit der Desensibilisierung „behutsam“ an den Simulator herangeführt werden, so dass nur wenig oder gar keine Simulatorkrankheit auftrat. In der zweiten Studie sollte – neben der Untersuchung der Flashbacks – überprüft werden, ob die Desensibilisierung effektiv ist. Die vor dem Ausbildungsflug gestaltete sich folgendermaßen:
- 1. Tag: 20 min Sichtflug bei Nacht
- 2. Tag: 45 min Sichtflug bei Nacht und 30 min Flug mit Nachtsichtgerät
- 3. Tag: 45 Flug mit Nachtsichtgerät und 20 min Sichtflug bei Tag
- 4. Tag: 45 min Sichtflug bei Tag und 60 min Sichtflug bei Tag
- danach Beginn der Ausbildung mit bis zu 2 x 120 min Sichtflug pro Tag
Wurden am Tag zwei Perioden im Simulator absolviert, so wurden diese auf Vormittag und Nachmittag verteilt. Es wurde mit Sichtflug bei Nacht und Flug mit Nachtsichtgerät begonnen, da hier die visuellen Eindrücke geringer sind und somit weniger Simulatorkrankheit auftritt.
4.1. Methoden
Die Probanden wurden gebeten, parallel zur Ausbildung einen Fragebogen mit Tabellen auszufüllen. Dieser ist in Tabelle 4 dargestellt. Für jede absolvierte Flugperiode war eine solche Tabelle auszufüllen, die Fragebögen wurden anonymisiert. Es wurde nach 3 ausgewählten Symptomen (Übelkeit, Schwindel, Sehstörungen) sowie nach einem weiteren Symptom in freier Beschreibung gefragt. Diese Symptome sollten zu insgesamt 7 verschiedenen Zeitpunkten mit 4 Ausprägungsgraden bewertet werden. Weiterhin sollten die Symptome in ihrer Ausprägung folgendermaßen bewertet werden:
0 = keine Symptomatik
1 = leichte Symptomatik: Es treten zwar Symptome auf, diese können allerdings vollständig ausgeglichen werden, führen allenfalls zu einer leichten Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens. Teilnahme am Flugdienst wäre noch möglich.
2 = mittlere Symptomatik: Es treten Symptome auf, die das Allgemeinbefinden schon erheblich beeinträchtigen. Einfache Tätigkeiten des normalen Lebens sind noch möglich. Eine Teilnahme am Flugdienst wäre nicht mehr möglich.
3 = starke Symptomatik: Deutliche Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens. Teilnahme am Flugdienst und Teilnahme am Straßenverkehr nicht mehr möglich. Ruhen notwendig.
Zusätzlich wurde nach dem Alter, dem geflogenen Luftfahrzeugmuster (Bell UH-1D, CH- 53 oder EC 135) und den Flugregeln (Sichtflug Tag/Nacht, Flug mit Nachtsichtgerät) gefragt.
4.2. Ergebnisse und Diskussion
Nach Ende der zweiten Studie hatten insgesamt 120 Probanden 946 Perioden absolviert. Im Rahmen der Auswertung der Studie wurden aber nur die ersten 7 Perioden jedes Probanden (Desensibilisierungphase) betrachtet. Es wurde für jede Periode ein „Beschwerdescore“ ermittelt, dazu wurden alle Beschwerdeausprägungen von allen Piloten für eine bestimmte Periode gemittelt. Da nicht jede Periode gleich lang war, wurde der Beschwerdescore durch die Dauer der Periode dividiert und somit zeitkorrigiert. Tabelle 5 zeigt die zeitkorrigierten Beschwerdescores pro Periode.
Die Auswertung zeigt, die Beschwerdeintensität von der 1. bis zur 7. Periode um knapp 80% sinkt, die Beschwerden aber nicht komplett verschwinden. Dies lässt folgende Schlüsse zu:
Selbst mit sehr kurzen und wenig reizintensiven Perioden zu Beginn der Desensibilisierung lässt sich das Auftreten von Simulatorkrankheit nicht verhindern.
Mit der Maßnahme der Desensibilisierung lässt sich das Auftreten von Simulatorkrankheit aber drastisch reduzieren, Desensibilisierung ist also notwendig!
Ein Teil der Probanden leidet auch in der letzten Desensibilisierungsperiode noch an Simulatorkrankheit, hier gilt es dann seitens der Fluglehrer das folgende Ausbildungsprogramm entsprechend zu adaptieren.
Als zweiter Punkt sollte in der Studie das Auf treten von Flashbacks untersucht werden. Beim Auftreten von Flashbacks muss zwischen kombinierten und isolierten Flashbacks unterschieden werden, was im Folgenden an zwei fiktiven Beispielen erläutert werden soll. In Tabelle 6 ist ein Beispiel für ein kombiniertes Flashback dargestellt. Solche Phänomene traten bei 39 von 946 Perioden (4%) im Rahmen der zweiten Studie auf. Diese Zahl mag inakzeptabel hoch erscheinen, jedoch ist bei der Interpretation folgendes zu beachten: Definitionsgemäß handelt es sich zwar bei dem in Tabelle 6 dargestellten Phänomen der plötzlich nach initialer Symptomfreiheit nach 6 Stunden wieder aufgetretenen Sehstörungen um ein Flashback, der Patient beklagte aber durchgängig Schwindel und hätte damit ohnehin nicht real fliegen dürfen. Das in Tabelle 6 dargestellte Beispiel ist zwar für den Probanden sicher unangenehm, aus Sicht der Flugsicherheit aber unbedenklich. Eine andere Situation – ein isoliertes Flashback – ist in Tabelle 7 dargestellt. Hier treten nach 6 Stunden Sehstörungen nach zunächst kompletter Beschwerdefreiheit auf. Eine solche Situation bei einem Piloten im Realflug kann flugsicherheitsrelevant sein. In der zweiten Studie traten bei 3 von 946 Perioden isolierte Spät- Flashbacks (= Flashbacks, die später als 6 Stunden nach Ende des Simulatorfluges noch auftraten) in einer leichten Ausprägung auf, dies entspricht einem Anteil von 0,32 %. Bei den Symptomqualitäten handelte es sich zweimal um Kopfschmerzen und einmal um ein leichtes Schwindelgefühl, was die Piloten – und somit auch die Flugsicherheit – aber nicht sonderlich beeinträchtigte. Als wesentliches Ergebnis der zweiten Studie bleibt festzuhalten, dass das Auftreten von isolierten Flashbacks später als 6 Stunden nach Simulatorflug zum Einen äußerst selten ist und andererseits nur eine leichte Symptomatik ohne Flugsicherheitsrelevanz auftritt.
5. Dritte Studie 2006
5.1. Einleitung
Bis zur Auswertung der Ergebnisse der zweiten Studie gab es bezüglich der Karenzzeit nach Simulatorflug international deutliche Unterschiede. Während französische Piloten bereits 6 Stunden nach Simulatorflug wieder actual fliegen durften, durfte ein deutscher Pilot erst nach 12 Stunden wieder fliegen. Hier gab kam es besonders im Bereich des Deutsch-Französischen Ausbildungszentrums „TIGER“ in LeLuc, Frankreich zu Friktionen, eine Harmonisierung der Karenzzeiten war wünschenswert.
Auf Basis der Ergebnisse wurde durch den General der Heeresflieger festgelegt, dass beschwerdefreie Piloten bereits 6 Stunden nach Ende des Simulatorfluges actual fliegen dürfen. Somit wurden die Karenzzeiten an die der französischen Piloten angepasst. Gleichzeitig wurde aber durch den Leitenden Fliegerarzt des Heeres eine erneute Studie zur Verifizierung der Ergebnisse der zweiten Studie in Auftrag gegeben.
5.2 Methoden
Es erfolgte keine Veränderung der Versuchsanordnung gegenüber der zweiten Studie. Auch der Aufbau der Desensibilisierungsphase blieb gleich. Im Gegensatz zur zweiten Studie war allerdings die Verifizierung der Desensibilisierungsphase nicht mehr Gegenstand der Untersuchung. Die dritte Studie diente rein der Überprüfung der Häufigkeit von Flashbacks. Die Teilnehmer an der Studie wurden auf diesen Umstand hingewiesen und gebeten, besonders sensibel für eventuell auftretende Flashbacks zu sein und diese zu dokumentieren.
5.3. Ergebnisse und Diskussion
Nach dem Ende der dritten Studie hatten insgesamt 53 Piloten 510 Perioden absolviert. Bei einer dieser 510 Perioden (0,2%) wurde durch den Probanden nach 6 Stunden eine leichte Sehstörung beschrieben. Die Häufigkeit des Auftretens von Flashbacks war also mit der zweiten Studie vergleichbar.
6. Fazit
Im Rahmen von ausbildungsbegleitenden Studien wurde das Phänomen „Simulatorkrankheit“ an der Heeresfliegerwaffenschule zwischen 2002 und 2005 näher untersucht. In insgesamt drei Studien wurde geprüft, ob ein prediktives Verfahren für das Auftreten von Simulatorkrankheit zum Zwecke der individuellen Ausbildungsgestaltung etabliert werden kann, ob Ausbildungsansätze zur Reduzierung der Simulatorkrankheit möglich sind und wie häufig sicherheitsrelevante Flashbacks nach Simulatorflug auftreten. Als Ergebnis lässt sich zusammenfassen, dass die Posturographie nicht als prediktives Verfahren für das Auftreten von Simulatorkrankheit geeignet ist, da die gemessenen Gleichgewichtsabweichungen nicht mit den Symptomausprägungen der Simulatorkrankheit korrelierten. Weiterhin konnte eine am Anfang der Simulatorausbildung vorgeschaltete „Desensibilisierungsphase“ das Auftreten von Simulatorkrankheit deutlich reduzieren. Abschließend konnte nachgewiesen werden, dass keine flugsicherheitsrelevanten Flashbacks später als 6 Stunden nach Ende des Simulatorfluges auftraten.
Simulatoren werden in der zukünftigen Hubschrauberführeraus- und Weiterbildung einen immer größeren Stellenwert bekommen. In Einzelfällen werden auf 1 Stunde realen („actual“) Flug je nach Luftfahrzeugmuster bis zu 7 Stunden Simulatorausbildung kommen. Bei der Interpretation der oben angeführten zweiten und dritten Studie muss berücksichtigt werden, dass die Ausbildung immer mit Probanden durchgeführt wurde, die eine „klassische“ Hubschrauberführerausbildung – ohne Simulatoranteile – durchlaufen haben. Erst seit einigen Monaten ist die Simulatorausbildung fester Bestandteil der Hubschrauberführergrundausbildung. Möglicherweise hat ein Pilot, der von Anfang an sowohl den Simulator als auch das reale Luftfahrzeug kennen gelernt hat, weniger Probleme mit Simulatorkrankheit. Diese Frage kann hier nicht abschließend geklärt werden und muss ggf. in weiteren Studien erörtert werden.
Literatur:
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Datum: 30.06.2008
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2008/2