PRIMÄRVERSORGUNG SPINALER SCHUSSVERLETZUNGEN
Primary treatment of spinal gunshot injuries
Aus der Abteilung Neurochirurgie (Leitender Arzt: Oberstarzt Prof. Dr. U. Kunz) am Bundeswehrkrankenhaus Ulm (Chefarzt: Oberstarzt Dr. A. Kalinowski)
Chris Schulz, René Mathieu, Ulrich Kunz und Uwe Max Mauer
WMM, 57. Jahrgang (Ausgabe 11/2013: S. 301-305)
Zusammenfassung
Hintergrund: Die Häufigkeit spinaler Schussverletzungen im ISAF-Einsatzgebiet nimmt zu. Therapierichtlinien mit höherem Evidenzniveau existieren bisher nicht. In den letzten Jahren haben sich Änderungen der Vorgehensweise bei dieser Verletzung ergeben.
Methoden: Zusammenfassende Wertung der klinischen Verläufe von 30 behandelten Fällen seit 2000 und Literatur-Review zu den aktuellen therapeutischen Strategien.
Ergebnisse: Initiale komplette neurologische Ausfälle sind operativ kaum beeinflussbar. Sekundär auftretende oder progrediente Störungen stellen aber eine operative Therapieindikation dar. Die prophylaktische operative Entfernung von Projektilen zur Vermeidung von infektiösen Komplikationen wird nicht empfohlen, eine antibiotische Behandlung reicht zumindest in der Frühphase aus. Kortikoide bringen keinen Profit.
Schlussfolgerungen: Weiterhin existiert keine hohe Evidenz. Vielfach muss aufgrund der häufigen Begleitverletzungen eine individuelle Therapiestrategie gefunden werden.
Schlagwörter: Schussverletzung, Wirbelsäule, spinales Trauma.
Summary
Background: Spinal gunshot injuries are rare in Germany. High class evidence guidelines for diagnostic and therapeutic strategies do not exist but the recommendations changed during the last years.
Methods: Report on the experiences of 30 treated cases since 2000 and literature review focussing on the recommended procedures.
Results: Aim of the therapy is the prevention of secondary complications. Operative manipulation of the wound should be reduced to the minimum. Prophylactic removal of retained projectiles is not recommended, antibiotic treatment is sufficient in the primary situation. The initial neurological disturbances usually cannot be influenced. Secondary evolving or progressing deficits are treatable. Steroids show no benefit but higher infection rates.
Conclusions: Despite growing literature no guidelines reaching higher evidence levels are available. An individual treatment strategy has often to be planned according to the high rate of associated thoraco-abdominal injuries.
Keywords: gunshot injury, spine, spinal trauma.
Einführung
Spinale Schussverletzungen machen in Westeuropa weniger als 1 % der behandelten Wirbelsäulentraumata aus, während in den USA etwa 10 % der Wirbelsäulenverletzungen auf Schusswirkungen zurückgeführt werden (dritthäufigster Verletzungsmechanismus nach Verkehrsunfällen und Stürzen [1]). In der internationalen Literatur zeigt sich für die Operationen Iraqi Freedom und Enduring Freedom bei den amerikanischen und britischen Streitkräften eine Zunahme spinaler Verletzungen [2, 3].
Abb. 1: Häufigkeit neurochirurgischerspinaler Eingriffe im
Einsatzlazarett Mazar-e-Sharif.
So lag die Rate an Wirbelsäulenverletzungen nach kampfassoziierten Verwundungen von US-Soldaten zwischen 2005 – 2009 bei 11,1 % [4]. Die Rate an spinalen Verletzungen unter den Gefallenen US-Soldaten in diesem Zeitraum betrug sogar bei 38,5 % [5]. Auch die Auswertung der OP-Statistik der Teileinheit Neurochirurgie im Einsatzlazarett (ELAZ) Mazar-e-Sharif dokumentiert eine Zunahme von operationspflichtigen Wirbelsäulenverletzungen von 2008 – 2013 (Abb. 1). Dabei haben nicht nur die spinalen Frakturen, sondern auch die Schussverletzungen zugenommen.
Die Behandlungsstrategien bei spinalen Schussverletzungen beruhen bisher im Wesentlichen auf zwei Grundlagen:
- den Erfahrungen früherer kriegerischer Auseinandersetzungen,
- exemplarischen Fallberichten und retrospektiven Fallserien in der Literatur.
Studien mit höherem Evidenzniveau zu diagnostischen und therapeutischen Vorgehensweisen bei dieser Verletzung existieren bisher nicht [6].
Methoden
Die nachfolgend erläuterten diagnostischen und therapeutischen Vorgehensweisen resultieren einerseits aus einem Review der aktuellen Literatur (keine der berücksichtigten Arbeiten stammt aus der Zeit vor 1980; 20/37 der zitierten Arbeiten sind nach 2000 publiziert worden). Andererseits sind auch retrospektive Auswertungen der Autoren (die Behandlungsergebnisse von 30 spinalen Schussverletzungen aus dem zivilen und militärischen Bereich seit dem Jahr 2000 betreffend) in die Empfehlungen eingeflossen [7 – 10, 37].
Ergebnisse
Evakuation
In der Rettungs- und Stabilisierungsphase sollte versucht werden, einen möglichst umfassenden neurologischen Status zu rekonstruieren und zu dokumentieren. Neben den aktuellen Befunden ist dabei auch der zeitliche Verlauf neurologischer Ausfälle von Bedeutung [11]. Spinale Schussverletzungen treten selten isoliert auf. In circa 25 – 65 % der Fälle von spinaler Schussverletzung liegen klinisch relevante thorakale oder abdominale Begleitverletzungen vor [2, 12] und etwa 10 % der Patienten überleben die primäre Phase der Intensivtherapie nicht [13].
Erst der anästhesiologisch stabile Verletzte wird überhaupt ein Kandidat für eine invasivere Diagnostik und eventuelle operative Interventionen an der Wirbelsäule. Insbesondere bei vitaler Bedrohung wird das Vorgehen daher zunächst nach den Regeln der ATLS und/oder der Damage Control Surgery (DCS) ausgerichtet [14]. Wir empfehlen zudem spätestens beim Eintreffen im Klinikbereich die Fotodokumentation der Schusswunden, Wundabstriche zu entnehmen und den Tetanus-Schutz zu überprüfen.
Bildgebende Diagnostik
Aus der Konstellation der Schusswunden und konventionellen Röntgenbildern in verschiedenen Ebenen allein ist eine spinale Beteiligung nicht immer sicher abzuleiten. Den besten und schnellsten Überblick bietet das Spiral-CT des betroffenen Wirbelsäulenabschnitts. CT-Rekonstruktionen in allen drei Ebenen sind sinnvoll [8]. Sofern sich bei eindeutigen neurologischen Störungen keine unmittelbare Beteiligung der knöchernen Wirbelsäule erkennen lässt, muss auch an kavitationsbedingte Schädigungen gedacht werden. In solchen Fällen wäre zwar ein MRT nötig, was bei unklarer Beladung mit unter Umständen ferromagnetischen Fremdkörpern aber riskant sein kann. Dass sich aber zumindest in einem Teil der Fälle mittels MRT bei vertretbarem Risikopotenzial relevante Konsequenzen für die Weiterbehandlung ableiten lassen, wurde bereits belegt [15].
Therapiestrategien
Antibiotika
Geschosse sind trotz der Hitzeentwicklung im Lauf der Waffe nicht prinzipiell steril. Einerseits führen Querschlag und der Kontakt des Projektils mit Kleidung und Haut zur Kontamination. Andererseits können durch kavitationsassoziierte Unterdruckphänomene Partikel bis tief in die Schusswunde gezogen werden. Die Schussverletzung sollte daher als potenziell kontaminiert angesehen werden, womit sich die Frage nach einer antibiotischen Behandlung ergibt [16].
Spinale Schussverletzungen ohne Perforation der Viszeralorgane müssen neben der chirurgischen Wundsanierung nicht zwangsläufig prophylaktisch mit Antibiotika behandelt werden. In unkomplizierten Fällen resultiert auch ohne längere antibiotische Therapie keine erhöhte Infektionsrate [17]. Bei unkomplizierten Wunden reicht wahrscheinlich die einmalige i. v.-Gabe für den Zeitraum der chirurgischen Sanierung aus. Bei ausgedehnten Weichteilverletzungen kann additiv die kurzzeitige orale Applikation eines Cephalosporins erwogen werden, eventuell auch eine längerfristige gegebenenfalls resistogrammgerechte parenterale Gabe [18].
Bei spinalen Schussverletzungen mit Perforation der Viszeralorgane wird die Indikation zur antibiotischen Prophylaxe weiter gestellt. Die Empfehlungen bewegen sich dabei im Bereich einer ein- bis zweiwöchigen Breitspektrum-Antibiose bei Kombinationsverletzungen von Wirbelsäule und Gastrointestinaltrakt, insbesondere des Kolons [19, 20, 21]. Die alleinige Breitspektrum-Antibiose hinsichtlich der Prävention spinaler Infekte nach transperitonealen Wirbelsäulenschusstraumen zeigt sogar eine geringere Infektionsrate gegenüber einer zusätzlichen operativen Projektilentfernung [22].
Zusammengenommen ist die längerfristige antibiotische Behandlung insbesondere bei transperitonealen und transpharyngealen Wirbelsäulenschussverletzungen empfehlenswert.
Kortikosteroide
Die weit überwiegende Mehrzahl der Autoren hat keinen positiven Effekt auf das neurologische Ergebnis durch die Steroidgabe bei spinaler Schussverletzung gesehen [23]. Manche Autoren fanden dabei zusätzlich kein erhöhtes lokales und systemisches Infektionsrisiko [24], andere hingegen sahen zwar mehr lokale aber nicht mehr systemische Infektkomplikationen [20]. Wiederum andere fanden neben einer erhöhten Rate von lokalen und systemischen Infektionen auch eine hohe Rate von typischen steroidassoziierten Nebenwirkungen [25].
Zusammenfassend muss anhand der bisherigen Datenlage von der Steroidgabe bei spinalen Schussverletzungen abgeraten werden.
Wunddébridement
Für begrenzte spinale Weichteiltraumen reicht initial die Lavage und Drainage der Wunde; die offene Wundbehandlung wird dabei empfohlen [26, 27]. Eine komplexe Situation stellt die Kombination von größerem Weichteildefekt und offenem Liquorsystem dar, speziell bei zusätzlich vorliegender Wundkontamination. Hier stehen die Methoden der offenen Wundbehandlung den Anforderungen des primären Verschlusses der Weichteile oberhalb von Liquorfistelungen gegenüber. Der Verschluss solcher Fistelungen an der Dura gelingt meist nicht absolut wasserdicht, womit sich einerseits Vakuumbehandlungen verbieten. Andererseits wird durch die offene Wundbehandlung ohne Vakuumsysteme die potenzielle Keimeintrittspforte in den Liquorraum nicht ausreichend „abgedichtet“. In solchen Fällen sollte neben dem möglichst guten direkten Verschluss der Liquorfistel ein vollständiger Verschluss auch der Weichteile angestrebt werden. Eine sogfreie Ablaufdrainage in der Wundhöhle ist unproblematisch. Gegebenenfalls kann dem Liquoraustritt in den Wundbereich zusätzlich mittels einer mehrtägigen lumbalen Liquordrainage vorgebeugt werden.
Die operative Wundsanierung entwickelt sich zunehmend weg von der exzessiven Primärversorgung. Welche Strukturen erhalten werden können und welche nicht, zeigt häufig erst der zeitliche Verlauf. Die initiale Exzision von vermutlich avitalem Gewebe (speziell innerhalb des Spinalkanals) ist kontraindiziert, stattdessen sollte besser ein „second“ oder „third look“ unter kontrollierten Bedingungen erfolgen.
Spinale Geschossentfernung
Die Geschossentfernung zur Infektionsprophylaxe wird aktuell eher abgelehnt. Die Infektrate bei konservativer Therapie mit verbleibendem Geschoss im Bereich der Wirbelsäule liegt Studien übergreifend bei 7 – 10 % und damit tendenziell sogar unterhalb derjenigen nach Operation, selbst wenn durch das Projektil Abdominalorgane mitverletzt wurden [19, 28, 29].
Die Geschossentfernung zur Verbesserung neurologischer Ausfälle muss differenziert betrachtet werden. Initial bereits bestehende neurologische Störungen sind meist unumkehrbar. Insbesondere Para- oder Tetraplegien sind mit einer operativen Geschossentfernung quasi nicht restituierbar. Allenfalls für inkomplette Läsionen, speziell zwischen BWK12 und LWK4 [28], und dann am ehesten noch für sekundär progrediente Ausfälle ist ein begrenzter klinischer Gewinn durch die Entfernung von Geschossen erreichbar [23, 30]. Da zum Beispiel durch eine Geschossmigration solche sekundär progredienten Ausfälle gelegentlich erst im Verlauf auffallen [31], ist eine Operation zur Geschossextraktion auch erst mit entsprechender Verzögerung zu indizieren. Projektile, die keine neurologischen Störungen verursachen, können in situ belassen werden [32].
Bislang gibt es also keinen wissenschaftlichen Beweis eines Vorteils einer frühzeitigen spinalen Geschossentfernung. Bei Auftreten sekundärer infektiöser oder neurologischer Komplikationen ist die Entfernung von Projektilen oder Fremdkörpern zwar eindeutig indiziert. Prophylaktisches Operieren ist hingegen nicht sinnvoll.
Spinale Dekompressionsoperation
Die primären Folgen der Schussverletzungen des Myelons oberhalb von BWK12 sind in ihrer Endgültigkeit durch eine Dekompression nicht beeinflussbar [20]. Selbst neurologische Ausfälle ohne direkte schussbedingte Verletzung des Myelons sind einer dekompressiven Operation nicht zugänglich [33]. Zwischen der Anzahl neurologisch verbesserter Patienten nach operativer oder konservativer Behandlung findet sich zumeist kein signifikanter Unterschied. Jedoch kann eventuell das Ausmaß der funktionell-neurologischen Verbesserung in der Gruppe der Operierten größer sein [30, 34]. Im Vergleich zum konservativen Vorgehen steht diese Chance auf Verbesserung aber einem höheren Komplikationsrisiko gegenüber (im Schnitt < 10 % versus > 20 % [23]). Es existiert bislang nur eine prospektive Studie zur spinalen Dekompression, die belegt, dass lediglich in der Region zwischen BWK12 und LWK4 in gewissem Umfang eine neurologische Verbesserung erzielt werden kann [28]. Schusstraumen der Cauda equina und einzelner spinaler Nervenwurzeln können häufig konservativ angegangen werden, die Ergebnisse sind dabei nicht schlechter als nach einer Operation [17, 35].
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die operative Rückenmarks- oder Nervenwurzelentlastung nach spinaler Schussverletzung weiterhin kontrovers beurteilt wird. Die Laminektomie war schon in den kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts weit überwiegend erfolglos. Die modernen technisch-operativen Behandlungsmöglichkeiten haben diesbezüglich zwar immer wieder zu neuem Enthusiasmus geführt, resultierten jedoch bisher nicht in einer nachweislichen Verbesserung der Therapieergebnisse. Vereinfacht kann gesagt werden, dass bei kompletten neurologischen Läsionen das funktionelle Langzeitergebnis in aller Regel schlecht ist, während inkomplette Läsionen eine bessere Prognose haben – jedoch unabhängig davon, ob eine operative Dekompression vorgenommen wird oder nicht.
Falldarstellung
Fall 1
US-Soldat nach einem Feuergefecht: Einschuss lateral abdominal rechts; Ausschuss lumbal paramedian links; Direkttransport per Helikopter zu Role 3 Mazar-e-Sharif.
Verletzungen (Abb. 2): kleines Retroperitonealhämatom (konservativ behandelt); im LWS-CT: knöcherne Destruktion des Wirbelgelenkes LW1/2 links mit verbliebenen intraspinalen Geschossanteilen. Vor Transportbeginn keine motorischen Ausfälle dokumentiert. Im Einsatzlazarett Mazar-e-Sharif innerhalb von 3 h zunehmende Paraparese der Beine.
Neurochirurgisches Vorgehen in Role 3 Mazar-e-Sharif: Sofortige Laminektomie LWK1; Fragmentektomie, Entfernung eines epiduralen Hämatoms, intraspinale Blutstillung und Duraverschluss. Keine Spondylodese. Postoperativ nur minimale Parästhesien linke Fußsohle, sonst neurologisch unauffällig. Keine transkutane Liquorfistel, keine Meningitis. Über Bagram Air Field Verlegung nach Landstuhl (dort dorsaler Fixateur interne). Weiterer Verlauf nicht bekannt.
Fall 2
ANA-Soldat nach einem IED-Anschlag und nachfolgendem Feuergefecht: Einschuss Leistenregion links und mehrere Splitter, Fremdpartikel etc. über die Rumpfoberfläche verteilt. Ausschuss thorakal dorsolateral links (Abb. 3).
Verletzungen: Hämatopneumothorax rechts (Thoraxdrainage in Role 2 Kunduz), freie Flüssigkeit intraabdominal (Laparotomie
in Role 2 Kunduz) und im konventionellen Röntgenbild LWK3-Fraktur (Wunden oberflächlich in Role 2 Kunduz versorgt, keine neurologischen Störungen dokumentiert). Neurochirurgisches Vorgehen in Role 3 Mazar-e-Sharif: Im LWS-CT Spaltbruch von LWK3 mit Spinalkanal komprimierendem Hinterkantenfragment.
Initial keine operative Therapie. Nach kardiopulmonaler Stabilisierung und Extubation zwar geringfügige und nicht progrediente sensible Störungen an beiden Beinen, jedoch keine motorischen Ausfälle (gehfähig) und keine Sphinkterstörungen. Im zeitlichen Verlauf keine transkutane Liquorfistel oder Meningitis. Unter diesen Voraussetzungen erfolgte keine spinale Revision. Nach "second" und "third look" im Abdomen sowie fortschreitender Sanierung der oberflächlichen Wunden wurde der Patient in das ANA-Hospital Mazar-e-Sharif verlegt. Weiterer Verlauf nicht bekannt.
Fall 3
US-Soldat nach Feuergefecht: Einschüsse von ventral thorakal rechts und abdominal links. Ausschüsse thorakal dorsal rechts, abdominal lateral rechts und lumbal dorsolateral rechts (Abb. 4).
Verletzungen: Hämatopneumothorax rechts (Thoraxdrainage vor Eintreffen in Role 2 Maymaneh), freie Luft und kreislaufrelevante Blutung intraabdominal (Laparotomie in Role 2 Maymaneh durch amerikanisches FST) sowie im konventionellen Röntgenbild Schussfraktur LWK5 mit intraspinalem Verhalt von Geschossanteilen (Wunden oberflächlich in Role 2 Maymaneh versorgt; Unfähigkeit von Bein- und Fußbewegungen beidseits bereits auf Role 1 dokumentiert).
Neurochirurgisches Vorgehen in Role 3 Mazar-e-Sharif: Im LWS-CT massive Destruktion von LWK5 und kranialen Teilen des Sakrums.
Initial keine operative Therapie, da der Patient zunächst kardiopulmonal zu stabilisieren war. Nach Extubation (erwartungsgemäß) Feststellung von Blasen- und Mastdarmsphinkterstörungen, L5-Plegie und leichtgradiger L4-Teilparese beidseits. Keine transkutane Liquorfistel, keine Meningitis. Unter diesen Voraussetzungen keine spinale Revision. Wundverschluss im Rahmen einer einmaligen Revision an den Austrittswunden. Über Bagram Air Field (dort ebenfalls keine OP durch amerikanische Neurochirurgen) Verlegung nach Landstuhl; weiterer Verlauf nicht bekannt.
Diskussion und Schlussfolgerungen für die Einsatzversorgung
Das Evidenzniveau der bisher existierenden Studien zu spinalen Schussverletzungen wird aktuell als gering beziehungsweise sehr gering eingestuft. Die hier abgegebenen Empfehlungen haben demzufolge auch für die Indikationen in den Einsatzgebieten keinen Leitliniencharakter. Einen Behandlungsstandard gibt es bislang nicht. Die Empfehlungen sollen vielmehr den derzeitigen Erkenntnisstand und die aktuellen Kontroversen aufzeigen.
Auf der Ebene Role 1 kommt außer dem sterilen Verband einer spinalen Schusswunde sowie der Einleitung von Lagerung und Transport auf geeigneten Immobilisationstragen keine weitere Therapie in Betracht. Auch die Gabe von Steroiden ist in dieser Phase nicht zu empfehlen.
Frühestens auf der Ebene Role 2 (mit allgemeinchirurgischer Notfallversorgung) kommt eine oberflächliche Wundbehandlung in Frage. An der Wunde selbst sollte dabei primär nur so wenig wie möglich manipuliert werden. Spülung, Drainage und vorsichtiges Débridement der Wunden sind in Kombination mit antibiotischer Therapie zunächst ausreichend. Geschosse im Bereich der Wirbelsäule können initial in situ belassen werden, selbst wenn Darmanteile verletzt wurden. Prophylaktische Operationen wie Geschossentfernung, Verschluss von Liquorfisteln etc. haben sich in der Primärsituation nicht als hilfreich erwiesen.
Ab der Ebene Role 2+/Role 3 ist in der Regel ein CT einschließlich neuro- oder spezieller unfallchirurgischer Expertise verfügbar. Trotz Vorhandensein dieser prinzipiellen Grundvoraussetzungen für Eingriffe nach Wirbelsäulentraumata sind spinale Dekompressionsoperationen nach Schussverletzungen (nach unserer Auffassung) nur bei sekundär progredienten neurologischen Ausfällen sinnvoll. Man muss sich im Gegenzug dann jedoch über eine erhöhte Komplikationsrate im Klaren sein, die es gegen den potenziellen Profit einer Operation abzuwägen gilt. Inkomplette aber stabile neurologische Störungen bessern sich durch operative Maßnahmen meistens nicht. Bei initial bestehenden hochgradigen neurologischen Ausfällen ist keine relevante Rückbildung zu erwarten – unabhängig davon, welche Therapie zur Anwendung kommt [23]. Amerikanische Militär-Neurochirurgen empfehlen dagegen die Dekompression und Stabilisation bei komprimiertem Spinalkanal innerhalb von 24 – 48 Stunden nach Schussverletzung – selbst wenn die neurologischen Ausfälle geringfügig, inkomplett und stabil sind. Diese Autoren räumen allerdings ein, dass in der Literatur bislang keine zweifelsfreie Evidenz für ein besseres neurologisches Ergebnis nach einer Dekompressionslaminektomie besteht [30].
Sekundäre Komplikationen sind nach spinalen Schusstraumen nicht ungewöhnlich [36]. Sie sollten sekundär auf der Ebene Role 4 behandelt werden. Ein "second look" beziehungsweise eine geplante Revision unter höchstmöglichem technischen Standard sind allemal einer unzureichenden und gegebenenfalls unumkehrbaren Anbehandlung vorzuziehen. Selbst instabile Schussfrakturen ohne neurologische Störungen können beispielsweise verzögert nach Repatriierung im Heimatland entsprechend den Strategien bei stumpfen Wirbelsäulenverletzungen definitiv versorgt werden, ohne dass dabei dem betroffenen Soldaten Nachteile dadurch entstehen [37].
Interessenkonflikt
Keiner der Autoren gibt einen Interessenkonflikt an.
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Bildquelle: Fotos 2 - 4: Flottillenarzt Dr. Chris Schulz, Aufnahmen aus ELAZ Mazar-e-Sharif
CT-Aufnahmen: Radiologie ELAZ Mazar-e-Sharif
Datum: 01.12.2013
Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2013/11