Grenzerfahrungen des Selbst und psychische Erkrankungen von Soldatinnen und Soldaten in Auslandsverwendungen
Jede Auslandsverwendung von Soldatinnen und Soldaten erweitert deren Tätigkeitsspektrum, ist jedoch auch mit Risiken und Wagnis verbunden. Aufgrund der langjährigen truppenärztlichen Versorgung des o. a. Personenkreises soll in diesem Artikel über entsprechende Grenzerfahrungen des Selbst und psychische Erkrankungen berichtet werden.
Jede Auslandsverwendung von Soldatinnen und Soldaten erweitert deren Tätigkeitsspektrum, ist jedoch auch mit Risiken und Wagnis verbunden. Aufgrund der langjährigen truppenärztlichen Versorgung des o. a. Personenkreises soll in diesem Artikel über entsprechende Grenzerfahrungen des Selbst und psychische Erkrankungen berichtet werden.
Ausgangsfrage
Kann es sein, dass die Seele von Soldatinnen und Soldaten in einer Auslandsverwendung viel Energie darauf verwenden müssen, Gefühle der Angst, der Ungeschütztheit, der Bindungslosigkeit abzuwehren? Kommt es vor, dass Soldatinnen und Soldaten an dem Versuch der Integration verwirrender Fremdheitserfahrungen scheitern und fern von zu Hause psychisch erkranken bzw. in schwere Krisen geraten? Sind dies Gefährdungen, die jede Soldatin bzw. jeden Soldaten treffen können, oder bedarf es besonderer seelischer Konstitutionen oder situativer Konstellationen, dass Soldatinnen und Soldaten in der Ungeborgenheit der Fremde ihre eigene Balance verlieren? Stellt eine Auslandsverwendung eine viel höhere Belastung dar, als wir in den Streitkräften, vor uns selbst und anderen zugeben?
Eigentlich ist eine Auslandsverwendung und das Überschreiten von Grenzen ja mit der Sehnsucht verknüpft, die Fesseln des Alltags in Deutschland über Bord zu werfen und etwas Neues zu wagen. Wer den sicheren Hafen verlässt und fortgeht, der träumt davon, neue Herausforderungen zu meistern und von fernen Ländern zu erfahren. Eine Auslandsverwendung kann zudem als eine paradigmatische Erfahrung bezeichnet werden und als Chance der Selbstvergewisserung. Denn wer als Soldatin oder Soldat Abschied von seiner Heimat in Deutschland nimmt und ins Ausland versetzt wird, der kann aus der Distanz auf das Eigene schauen, kann sich im Kontakt der Fremde neu erfahren, kann bislang eingenommene Positionen und alte Fixierungen als wandelbar erleben.Was aber, wenn diese Distanz misslingt, das Infrage stellen der gewohnten Identität zum Verlust des inneren Gleichgewichts, zur ernsthaften psychischen Destabilisierung führt? Wenn die Haltetaue abhandenkommen und das Selbst sich als wenig gefestigt erweist? Wenn die Soldatin bzw. der Soldat in einer Auslandsverwendung in der Konfrontation mit der Fremde ihr bzw. sein Leben als fragwürdig zu halten beginnt, ihr bzw. sein mitgebrachtes Selbst als Fiktion, als Illusion erlebt? Wenn sie oder er tagträumend am Meer spazieren geht und dabei an den anderen Schauplatz des Seins, ins Unbewusste gerät und den Boden unter den Füßen verliert? Wenn dem genüsslichen Baumeln der Seele ein bedrohliches Taumeln folgt und der gesunde Geist der Welt sie bzw. ihn verlässt? Dann stellt sich die Frage, ob die Erfahrung der Fremde als besondere Auslösesituation einer psychischen Erkrankung, Störung oder Krise angesehen werden kann.
Aspekte der Fremde
Eine neue Verwendung im Ausland anzutreten, festgelegte Rollen hinter sich zu lassen und vorzustoßen in Räume voller Erwartungen und Versprechungen – dieser Aufschein an Möglichkeiten ist Dreh- und Angelpunkt eines zerbrechlichen Soldatenglücks und gefahrvoller Moment seelischen Scheiterns. Die Konfrontation mit fremden sozialen und kulturellen Strukturen wirft für die Soldatinnen und Soldaten in einer Auslandsverwendung Fragen der eigenen Herkunft, der Zugehörigkeit und der Stellung ihres Selbst in der Welt auf. Zwischen ihnen und den Einheimischen setzt ein Balance-Akt ein von Nähe und Distanz bzw. von Neugier und Abwehr ein, der Verunsicherung, Infragestellung bzw. Überprüfung der eigenen Existenzform bzw. der jeweiligen Lebensweise bedeutet.
Problematisch wird es, wenn keine konkrete Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden mehr gelingt und die Fremde nur noch als projektive Basis dient, auf der man all das, was unverständlich und uneinfühlbar scheint, kontrollieren oder bekämpfen muss. Die Fremde hat dabei zwei Gesichter: einladen, mit vielen neuen Möglichkeiten lockend und zugleich mysteriös und bedrohlich. Als Projektionsfläche verführt die Fremde zu unterschiedlichsten Fantasien und zu der Ahnung, dass das Leben auch ganz anders sein könnte.
m dem Fremden den Stachel des Bedrohlichen zu nehmen, sollten Soldatinnen und Soldaten Handlungsstrategien der Assimilation bzw. auf dem Weg des Lernens eine affektive Teilhabe an der Fremde entwickeln. Auf diese Weise können sie das Unvertraute überwinden, das Nicht-Dazugehörige durch Offenheit integrieren. Ein fremder Ort verliert an Irritation, wenn man sein Terrain strukturiert, um sich nicht im Labyrinth zu verirren. Ebenso sollte man die Fremdheit der Sprache minimieren, indem man sie lernt. Auch sollten sie sich Kenntnisse über kulturelle, religiöse, und soziale Bedingungen des Landes erwerben.Auf vielen Wegen mag es gelingen, Orientierung zu erlangen, eine innere Landkarte der Fremde zu entwickeln. Doch auch wenn man die Fremde zum Gegenstand des Wissens macht, wird man ihre Fremdheit nie bezwingen, weil man nicht trennen kann zwischen der konkreten Fremde (in ihrer ethnischen, kulturellen und sozialen Dimension) und den Wünschen und Ängsten , die man auf die Fremde projiziert. So bietet sich die Fremde dafür an, Vorstellungsanlass zu sein für die Bearbeitung wunschhafter oder angstvoller Fantasien: Wird die Fremde als bessere Variante potenzieller Lebensformen gesehen, dann konzentrieren sich darauf die eigenen Wünsche; wird sie als schlechtere Möglichkeit angesehen, ist sie geeignet, all die Ängste auf sich zu ziehen, die das projizierende Subjekt bei der Erfahrung der Fremde empfindet.
Schließlich kann Fremdheit nicht nach dem Grad der Ferne, der größeren oder geringeren Distanz gemessen werden. Das Verhalten eines Menschen in einem fernen Land mag Soldatinnen und Soldaten weniger befremden als das eigentümliche Verhalten eines Nachbarn zuhause in Deutschland. Gäbe es eine gleitende Skala der Andersheit, die vom Nahen zum Fernen reicht, so würde die Fremdheit in der äußersten Fernzone, aber auch in der engsten Nahzone besonders deutlich wahrgenommen werden. Vielleicht führt das Abprallen an der Fremde zu einem verstärkten Zurückgeworfensein auf das Eigene; vielleicht kann nur Soldatinnen und Soldaten, die nicht von der Infragestellung ihres Selbst absorbiert sind, dem Reiz der Fremde offen begegnen; und vielleicht gelingt denjenigen, die sowohl Unvertrautes als auch Bekanntes in der Schwebe zu halten vermögen, eine angemessene Neugier und Resonanzfähigkeit gegenüber der Fremde.
Aspekte des Selbst
Im Vorhergehenden ist davon gesprochen worden, dass Soldatinnen und Soldaten in einer Auslandsverwendung im psychiatrischen Sinn psychisch erkranken können. Trennungen und Verlusterfahrungen gilt es zu bewältigen, mögliche Zweifel an der bisherigen Lebensgestaltung zu reflektieren, Momente der Einsamkeit und Entwurzelung zu durchleben. Das kann Gefühle des Ungeschütztseins, Angstzustände, depressivem dissoziative, wahnhafte oder psychotische Erlebnisformen zu Folge haben. Es zeigt sich, dass nicht nur prädisponierte, schon vor einer Versetzung ins Ausland psychisch auffällige Soldatinnen und Soldaten gefährdet sind, sondern auch seelisch gesunde Bundeswehrangehörige können betroffen sein, wenn ihre Psyche die Integration der Fremdheitsberührung nicht meistert. Die Irritation der neuen Situation besteht dann darin, dass sich die sorgfältige Aufbauarbeit eines eigenen, unverwechselbaren Selbst als illusionär herausstellen könnte.
Auslandsverwendungen können also die innere Konstitution labilisieren, die Wahrnehmung von Raum, Zeit und Weltverbundenheit erschüttern und tiefe existenzielle Verstörungen verursachen. Mancher Momente können dabei nicht nur als Erkrankung im medizinischen Sinne konzeptualisiert werden, sondern eher um Vorgänge der Irritation des Selbst im Bedingungsgefüge des Wahrnehmungs- und Orientierungsvermögens in der Fremde.
Der Begriff es Selbst scheint in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Als Leitbegriff überlagert das Selbst den Begriff der Identität, wenn von der inneren Struktur einer Person einschließlich ihrer bewussten und unbewussten Handlungen, ihrer Beziehungs- und Kontinuitätserfahrungen, ihrer Lebensorientierung und Zugehörigkeit die Rede ist. Das Selbst umfasst die Körper-, Sinnes- und Beziehungserfahrungen bis hin zu den Überzeugungen und Werthaltungen, die Soldatinnen und Soldaten für sich einnehmen.
In einer Zeit pluralisierter Lebenswelten, in der Traditionen und Rollenerwartungen in Auflösungen begriffen sind und unterschiedliche Vorstellungen darüber existieren, wie gelingendes Leben aussehen könnte, fühlt sich die einzelne Soldatin bzw. der einzelne Soldat insbesondere in einer Auslandsverwendung mehr denn je dazu aufgefordert, Schöpfer und Gestalter seines Selbst zu sein. Tagtäglich flimmern neue identitätsstiftende Angebote am Horizont auf, und doch ist die Gegenwart geprägt von Zukunftsängsten, Zersplitterungen, Entwurzelungen und zentrifugalen gesellschaftlichen Entwicklungen, deren Versuche der Integration immer brüchiger werden. Identität kann da nicht mehr helfen, gefragt ist eher ein dynamisches Selbst, das in der Lage ist, sich den wandelnden Anforderungen zu stellen, sich gewissermaßen ständig neu zu entwerfen.
Selbstsorge
Die Übernahme der Selbstsorge, körperlich, seelisch, geistig, ist von besonderer Bedeutung für Soldatinnen und Soldaten in einer Auslandsverwendung. Alle Aspekte der Klugheit - Rücksicht, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht - sind hier am Platz. Sich um Klugheit zu bemühen heißt abzuwägen, einzuschätzen, Sensibilität zu gewinnen, ein Gespür zu entwickeln, verfügbare Kenntnisse heranzuziehen und sich um eine Aufklärung von Zusammenhängen zu bemühen, soweit das momentane Wissen reichen kann, aufmerksam auf das zu werden, was einem fehlt, oder umgekehrt, was einem gut tun würde. Sensibilität und Gespür halten das Selbst davon ab, sich in eine Situation zu begeben, in der Leben eng wird, und halten es dazu an, immer aufs Neue danach zu fragen: Welche Möglichkeiten des Lebens gibt es, wo kann ich sie finden und, falls sie nicht zu finden sind, welche lassen sich erfinden? Es gilt, Möglichkeiten, Kräfte und Potenziale ausfindig zu machen oder erst zu schaffen. Das Leben – gerade in der Ferne – aufgrund der Sorge für sich selbst bewusst zu gestalten, erfordert persönliche Antworten auf Fragen der Art: Was ist das Schöne, für das es sich zu leben lohnt, über die bloße Nützlichkeit und unmittelbare Vorteilhaftigkeit hinaus? Was ist der Sinn, der eine unablässig sprudelnde Quelle für dieses Leben darstellt? Wie lässt sich Freude im Leben finden, die das Traurigsein nicht ausschließt? Wo ist das profunde Glück zu erfahren, das nicht von zufälligen Lüsten abhängig ist? Wie können Beziehungen zu anderen gestaltet werden, in deren Netz es sich leben lässt?
In Wahrheit zu leben kann nur heißen, dasjenige Leben zu realisieren, das nach bestem Wissen und Gewissen, nach langer Überlegung und immer neuem Abwägen für das richtige gehalten und mit dem gesamten Lebensvollzug verantwortet werden kann. Keine objektive, sondern eine subjektive Wahrheit steht dabei in Frage, stimmig für das Selbst, verbunden mit einer Wahl, die zu treffen ist, und einer Bereitschaft, dieser Wahl zu folgen und nicht darauf zu warten, dass andere zu denselben Einsichten kommen wie das Selbst; nicht nur, weil darauf lange gewartet werden kann, sondern auch, weil die eigenen Einsichten fehlerhaft sein könnten. In diesem Sinne sollten Soldatinnen und Soldaten wahrhaftig sein gegenüber sich selbst, mutig, heiter und gelassen: Darin ist der Sinn zu finden, der mehr als alles andere leben lässt und Ressourcen und Kräfte zur Verfügung stellt, mit deren Hilfe auch große Schwierigkeiten und Belastungen durchzustehen sind.
Denn das Geheimnis dieses Lebens ist wesentlich in der Bereitschaft zu einer Anstrengung, dem Bemühen um Gelassenheit, mit all den Varianten aus der Familie des Lassens, die verfügbar sind, verbunden: offen lassen, zulassen, geschehen lassen, wachsen lassen, jemandem etwas überlassen, sich auf jemandem verlassen etc.
Gelassenheit ist der Gegenbegriff zum modernen Voluntarismus und Aktivismus und besteht darin, lassen zu können statt immer wollen zu müssen, gelegentlich passiv zu bleiben statt immerzu nur aktiv zu sein. Die notwendige Voraussetzung hierfür ist, zur Passivität als eine Option der Lebensgestaltung neben der Aktivität in der Lage zu sein. Dann wird das Selbst des wirklichen Lebens bewusst mächtig, der passiven Wahl, die getroffen wird, um auf einen aktiven Zugriff oder ein Eingreifen zu verzichten.
Das Selbst von Soldatinnen und Soldaten in Auslandsverwendungen, die sich um Gelassenheit bemühen, lernen dann zu unterscheiden zwischen dem, was in ihrer Macht steht, und dem, was sich ihrem Zugriff gänzlich entzieht, um sich auf Ersteres zu konzentrieren und die Fähigkeit zur Hinnahme des Letzteren zu entwickeln. Keineswegs im Sinne einer unterschiedslosen Hinnahme von allem, sondern ganz so, wie dies im Gelassenheitsgebet von 1943 des deutsch-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr zum Ausdruck kommt: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Resilienz
Resilienz zielt auf psychische Gesundheit trotz Risikobelastungen, d. h. auf Bewältigungskompetenz, an. Unter Resilienz werden dabei Möglichkeiten subsummiert, mit schwierigen Lebenssituationen bis hin zu Traumen, aber auch Erkrankungen umzugehen, ohne daran zu zerbrechen (Abb. 1).
Eigenschaften, die Soldatinnen und Soldaten gerade in Auslandsverwendungen haben sollten, die das Puzzle ihres Lebens, ihres Ichs, aus eigener Kraft immer wieder zusammenfügen, sind folgende (Tab. 1):
Das ist das Gerüst, das Soldatinnen und Soldaten gerade in Auslandsverwendungen halten kann, wenn sie in Krisensituationen standhalten (sollen). Studien belegen, dass man mittels Disziplin und Ausdauer seine Resilienz steigern kann; die sieben Säulen des „Resilienz-Konzeptes“ sind (Tab. 2)
Als Hauptansatzpunkte zur Förderung der Resilienz auf der individuellen Ebene können daher folgende Aspekte der Förderung akzentuiert werden (Tab. 3)
Auf der Beziehungsebene rücken folgende Aspekte der Resilienzförderung in den Fokus: autoritativer Führungsstil; konstruktive Vorgesetzten-Kommunikation; Vorgesetzten-Kompetenzgefühl; Vorgesetzten-Konfliktlösestrategien; positives Vorgesetzten-Modellverhalten, sowie effektive Erziehungstechniken.
Für eine Umsetzung dieser Förderaspekte in der truppenärztlichen bzw. –psychologischen Praxis liefern einige Präventionsprogramme im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements bereits erste positive Anhaltspunkte. Zukünftig wird es entscheidend sein, diese punktuellen Förderaspekte weiterführend auszuarbeiten und in ein Gesamtkonzept der Resilienzförderung zu integrieren sowie in die Praxis umzusetzen.
Stigmatisierung
Studien zeigen, welche Folgen Stigmatisierung (als Ausdruck von Abwertung und Ausgrenzung) und sozialer Diskriminierung oder die Angst davor haben können. Mehr als 70 % der Betroffenen zieht es vor, ihren Mitmenschen nichts von ihrer Erkrankung zu erzählen. Dies erhöht – insbesondere auch im militärischen Umfeld und bei Auslandsverwendung – zusätzlich die Barrieren, die notwendige professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es ist deshalb möglich, dass noch mehr Soldatinnen und Soldaten in Auslandsverwendungen von psychischen Störungen betroffen sind als bislang angenommen. Zudem setzt das Verschweigen die Betroffenen unter zusätzlichen Stress, der sich wiederum negativ auf die Erkrankung auswirkt. Es ist daher wichtig, der Stigmatisierung und Diskriminierung von Betroffenen konsequent entgegenzuwirken.
Schweigepflicht
Ohne die ärztliche Schweigepflicht könnte keine Soldatin und kein Soldat mehr bei der Truppenärztin bzw. dem Truppenarzt unbefangen über Beschwerden und Probleme sprechen. Das ärztliche Schweigen ist aus diesem Grund in der Musterberufsordnung für Ärzte streng geregelt. Allerdings sind Ärztinnen und Ärzte zur Offenbarung befugt, soweit sie von der Schweigepflicht entbunden worden sind oder soweit die Offenbarung zum Schutz eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist. Im Einzelfall muss Ärztinnen oder Ärzte sorgfältig abwägen, was überwiegt: der grundsätzlich gewährleistete Schutz des persönlichen Lebens- und Geheimnisbereichs oder die Gefahr für andere.
Zudem wäre ohne die Schweigepflicht die Psychotherapie am Ende. Und dann müsste sich die Gesellschaft fragen, wie sie mit all den psychisch Angeschlagenen umgehen wolle, die sich aus Furcht einer Therapie entzögen und die mit einer Behandlung ein normales Leben führen könnten.
Fazit
Grenzfahrungen des Selbst und psychische Erkrankungen sind die zweithäufigste Ursache, warum Soldatinnen und Soldaten in Auslandsverwendungen vom Dienst bzw. ihrem Arbeitsplatz fernbleiben. Es kann jeden treffen. Daher ist es wichtig, offen über Probleme zu sprechen und nach Wegen zu suchen, angemessen mit ihnen umzugehen. Denn je mehr die Betroffenen Probleme verbergen, desto stärker verfolgen sie sei. Nur was aufgedeckt wird, kann erleuchtet und geheilt werden. Es erfordert jedoch Mut und Demut der Betroffenen, sich ihren Grenzerfahrungen des Selbst und/oder psychischen Erkrankungen und Krisen zu stellen, sie anzuschauen, sich mit ihnen auszusöhnen, nach ihrem Sinn zu fragen und in das eigene Leben zu integrieren sowie die medizinischen und psychischen Hilfen anzunehmen, die die Wissenschaft bereitstellt. Vielleicht werden diese zu einer Begleiterin, die die betroffenen Soldatinnen und Soldaten immer wieder daran erinnern, authentisch zu leben, aus tieferen Wurzeln ihre Kraft zu beziehen.
Der LSO SKA als zuständiger Truppenarzt für die Soldatinnen und Soldaten in Auslandsverwendungen hat letztlich die Aufgabe, Hoffnung zu vermitteln (Abb. 2) und den Betroffenen zu helfen, dass sie gut für sich selbst sorgen, damit sie für die Zukunft vorsorgen und das Leben meistern können. Vom Ursprung her besteht die Therapie darin, den Betroffenen zu dienen, damit diese zu ihrem wahren Selbst finden, zu ihrer Bestimmung, ihrer eigenen Wahrheit und Lebenssinn, ihrer Heilung. Wenn dies gelingt, wird damit auch ein Beitrag zu einer menschlicheren und barmherzigen Welt geleistet.
Datum: 02.11.2015
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2015/3