Back to Life – Die Abteilung Interdisziplinäre Rehabilitation

D. Lison, A. Schaffranek-Mondroch, A. Lison

Stabsunteroffizier Heiko G. hatte Glück im Unglück. Als seine Truppenärztin von seinem schweren Verkehrsunfall erfährt, bei dem er eine Amputationsverletzung des rechten Oberschenkels erleidet, nimmt sie umgehend Verbindung mit dem Geschäftszimmer der Abteilung Interdisziplinäre Rehabilitation auf und erhält einen systematischen teilhabeorientierten Fragebogen, aus dem das Rehateam am Zentrum für Sportmedizin der Bundeswehr (ZSportMedBw) orientierend möglichen Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsfähigkeit und Hinweise zur Prognose entnehmen kann. Am Folgetag wird Heiko G. Thema der täglichen interdisziplinären Telefonkonferenz und erhält noch im Primärkrankenhaus einen Anruf der Abteilungsleiterin am ZSportMedBw. „Das war nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie echt wichtig“, wird er später sagen. „In so einer Situation brauchst Du eine Perspektive, um klarzukommen“. Nach Entlassung aus der stationären Versorgung und der Anschlussheilbehandlung erhält er einen Termin zum Erstkontakt, der dem persönlichen Kennenlernen und der Planung der ersten Maßnahmen seiner Rehabilitation am ZSportMedBw dient. Dazu lernt Heiko jetzt die Fachärztin für Allgemeinmedizin kennen, die zukünftig seine Reha koordinieren wird. Der Orthopäde bespricht mit ihm, einem zivilen Orthopädietechniker und einem der in der Betreuung Amputationsverletzter erfahrenen Physiotherapeuten den Übergang von der bisherigen Interims- zur Endversorgung mit Prothese. Auch den Sozialdienstmitarbeiter, der eine dauerhafte Präsenz an der Dienststelle hat, lernt er kennen.

Rehabilitation: teilhabeorientiertes Management von Krankheitsfolgen

Mit dem 2020 in Kraft gesetzten Konzept „Medizinische Rehabilitation“ hat das ZSportMedBw den Auftrag erhalten, wesentliche Impulse für die Weiterentwicklung der Rehabilitation im Sanitätsdienst zu setzen und in sehr komplexen Fällen die medizinisch dienstlich orientierte Rehabilitation durchzuführen. Da die mit Einrichtung der Abteilung Interdisziplinäre Rehabilitation 2017 geschaffenen beiden Dienstposten hierfür nicht ausreichen, war von Anfang an der Aufbau eines komplexen Qualitäts­managements in einem dienststellenübergreifenden Ansatz erforderlich, um die Entwicklung der am militärischen Bedarf ausgerichteten Rehabilitationsmaßnahmen am ZSportMedBw nachhaltig in die Praxis umzusetzen. Dieser Prozess wird auch heute noch fortgeschrieben. Basis hierfür waren die UN-Behindertenrechtskonvention und die fachlichen Standards ziviler Fachgesellschaften, die die Einführung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), validierter Assements, regelmäßiger apparativer Diagnostik und transparenter Entscheidungsbäume bedingte: Wir betreuen SoldatInnen, deren Dienst- und Verwendungsfähigkeit nach einer Verwundung bzw. Verletzung im oder außerhalb des Dienstes stark gefährdet ist („besondere dienstliche Problemlage“), die nach einer schwereren Erkrankung eine komplexe individualisierte Hilfsmittelversorgung benötigen oder die bei Vorliegen einer einsatzbedingten psychischen Störung eine zusätzliche körperliche Begleitsymptomatik entwickelt haben und von der Wehrpsychiatrie zu uns empfohlen werden.

Die erforderlichen Maßnahmen aus den Bereichen Allgemein-, Ernährungs- und Stressmedizin, Orthopädie, Sozialdienst und supportive Psychotherapie ergeben sich aus den gemeinsam mit dem Patienten festgelegten Zielen, die seine zuvor mit der ICF strukturiert erfassten Teilhabestörungen reduzieren sollen. Dieses „patient shared decision making“ charakterisiert die Rolle des Patienten im Mittelpunkt des Rehateams. Sollten im Verlauf der Rehabilitation der erkennbare Wille zur Wiedereingliederung, Adhärenz und Zielerreichung fehlen, muss bei negativer Prognose die Rehabilitation beendet und durch Therapie oder Pflege ersetzt werden.

Rehabilitation ermöglicht Teilhabe
Rehabilitation ermöglicht Teilhabe
Quelle: Bundeswehr/Andreas Lison

Teilhabestörungen erkennen

Heiko G. liest auf seinem barrierefreien Unterkunftszimmer aufmerksam den Entwurf für seine Rehabilitationsziele durch, die am Ende der bevorstehenden dreiwöchigen sportmedizinischen interdisziplinären Intensivreha stehen könnten. Er weiß, ab morgen wird er im Rahmen der orthopädischen Visite und in den Einzelterminen bei der Allgemeinmedizinerin die Gelegenheit haben, zu ergänzen, Änderungswünsche vorzubringen und zu erfragen, was er nicht verstanden hat. In den letzten zwei Tagen hat er hierfür das Assessment durchlaufen und viele Gespräche geführt, durch die er sich als Mensch wahrgenommen fühlt. In der interprofessionellen Teamsitzung wurden alle Informationen visualisiert und zusammengefügt. An dessen Ende entstand die Landkarte mit ihren Meilensteinen, die es ihm als Teammitglied ermöglicht, seinen rehabilitativen Weg zu erkennen und zu beschreiten. Am Tag zuvor war bereits eine erste Schaftanpassung erfolgt, er wird sich darauf einstellen müssen, dass dies erst der Anfang eines lebenslangen Prozesses ist. Sein Physiotherapeut hat ihn auf ein umfangreiches Training vorbereitet, seine Allgemeinmedizinerin auf einen anhaltenden Bewältigungsprozess. Jetzt sitzt er mit den anderen zu rehabilitierenden Kameradinnen und Kameraden im Seminarraum des Zentrums. „Begrüßung und Kennenlernen“ steht auf dem Programm, um Rehabilitation zu verstehen und ein Team auch mit den Mitpatienten werden, von denen ein jeder seine eigenen Herausforderungen zu bewältigen hat.

Black Box Krankheitsbewältigungsprozess

Medizinische Rehabilitation von SoldatInnen bedarf vor dem Hintergrund der Landes- und Bündnisverteidigung der Unterstützung des zivilen Bereiches. Die enge Kooperation des Sanitätsdienstes mit den Berufsgenossenschaftskliniken ist hierin begründet und muss zwingend weiterentwickelt werden. Gleichzeitig wurde logischerweise entschieden, eine rehabilitationsmedizinische Eigenkompetenz zu entwickeln. Dies leitet sich aus der Erkenntnis ab, dass über eine gelingende Krankheitsbewältigung das soziale Kapital der Einrichtung maßgeblich entscheidet. Für SoldatInnen bedeutet dies, Verständnis für den militärischen Kontext zu erhalten, mit ihresgleichen die körperliche Leistungsfähigkeit zu adressieren, ganzheitlich von militärischen Behandlern gesehen zu werden. Die starre Struktur- und Prozessqualität, wie sie nicht selten im zivilen Gesundheitssystem anzutreffen ist, begrenzt da häufig besonders die in späten beruflich orientierten Rehabilitationsphasen befindlichen SoldatInnen mit besonders komplexen Teilhabestörungen. Heiko G. beginnt zu verstehen, dass Rehabilitation sich im Unterschied zur Therapie nicht primär mit den Ursachen eines Gesundheitsproblems beschäftigt, sondern mit dessen Folgen für alle Lebensbereiche. Und er beginnt zu verstehen, dass sein Rehaerfolg auch von seiner aktiven Auseinandersetzung mit seiner Krankheitsbewältigung abhängen wird. Was wie zufällig aussieht, bedeutet seit Jahren das bewusste Einbringen der „military added value“: Die Förderung des sozialen Kapitals durch offene Räume in der Physiotherapie, Ausbildung in der Gruppe zu vielfältigen Themen im Zusammenhang mit Behinderung und Barrieren, die Interdisziplinarität und die Nutzung unseres gemeinsamen soldatischen Kontextes und Sprache.

Reha ist ein Recht

Donnerstagnachmittag im Seminarraum des ZSportMedBw. Das Rehateam hat sich getroffen, um mit Heiko G. über die letzten drei Wochen zu sprechen und zu überprüfen, ob die Zwischenziele, die zu Beginn formuliert worden waren, erreicht werden konnten. Seine Meinung ist dabei wichtig. Und er weiß, dass sein Weg noch lang ist. Als Teammitglied kennt er seine Pflichten, doch auch sein Recht auf Rehabilitation mit einem Recht auf Früherkennung, auf Information und auf Arbeit. Er will im Dienst bleiben und seine Fähigkeiten einbringen. Wenn dies nicht gehen sollte, dann will er einen guten Start in das zivile Leben haben. Das kann gelingen, wenn Sanitätsdienst, Sozialdienst und Personalführung zusammenwirken, wenngleich er keinen qualifizierten Einsatzunfall erfahren hat. Denn das Recht auf Rehabilitation ist unabhängig von der Ursache und von der Diagnose. Das liegt in unserer Verantwortung. 


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