ANGSTSTÖRUNGEN

Can Kulens

WMM, 59. Jahrgang (Ausgabe 1/2015; S. 21-24)

Zusammenfassung: Angststörungen - Dieser Artikel soll dem Truppenarzt Informationen geben, wie er Angstpatienten ein hilfreicher Partner sein kann. Neben einem kurzen Überblick über Diagnostik und Therapieempfehlungen bei Angststörungen wird der Fokus vor allem auf die Inhalte Empathie, sinnvolle Kommunikation und Stärkung des Vertrauens des Patienten gelegt.

Da nicht jeder Truppenarzt über eine psychiatrische und/oder psychotherapeutische Ausbildung verfügt, können gerade Informationen über diese letztgenannten Themen helfen, den Kontakt mit Angstpatienten mit mehr Sicherheit und Vertrauen aufzubauen. Die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung ist Aufgabe von Spezialisten, jedoch ist der gut informierte Truppenarzt eine wichtige und entscheidende Stütze in der Behandlungskette von Angststörungen.

1. Klassifikation

Die Leitlinien Angststörung (Registernummer 051 – 028: Stand: 15.04.2014, gültig bis 15.04.2019, geben einen umfassenden Überblick über den Symptomenkomplex. In Tabelle 1 (Kurzbeschreibung der häufigsten Angststörungen nach ICD- 10 (WHO, 1991)) findet sich jeweils eine Kurzbeschreibung der häufigsten Angststörungen.

2 . Diagnostik
Diagnostisch wegweisend ist bei Angststörungen stets die sorgfältige Anamnese. Der enge Bezug zu Auslösesituationen führt von der organischen Diagnose weg und ebnet den Weg für ein psychodynamisches Verstehen.
Zur Unterstützung der Diagnostik existieren wissenschaftlich validierte kurze Fragebögen zum „Case-Finding“/Screening von Angststörungen:

  • für psychische Symptomatik allgemein, Angststörungen einschließend: Patient Health Questionnaire (PHQ-D): 70 Fragen, im Internet frei verfügbar, unkomplizierte Auswertung (siehe Internetlinks unten),
  • getrennt für alle Angststörungen: Mini-International Neuropsychiatric Interview (MINI) (Sheehan et al., 1998),
  • für alle Arten von Angststörungen und Depressionen: Patient Health Questionnaire for Depression and Anxiety (PHQ-4) (Kroenke et al., 2009),
  • für die generalisierte Angststörung: Generalised Anxiety Disorder Assessment (GAD-2/GAD-7) (Spitzer et al., 2006).

3. Differenzialdiagnostik
Eine sorgfältige Differenzialdiagnostik ist bei Verdacht auf eine Angststörung von besonderer Bedeutung. Ein wesentlicher Grund besteht in der engen Kopplung zwischen dem psychischen Kernsymptom Angst und der vegetativen Begleitsymptomatik, die dem Patienten oft zusätzliche Sorge bereitet und zu hypochondrischen Entwicklungen führen kann. Diese Abklärung sollte bereits im Rahmen der ersten Kontakte geplant und intensiv mit dem Patienten durchgesprochen werden. Ansonsten fühlt sich dieser ggf. in seiner Symptomatik nicht ernst genommen. Differenzialdiagnostisch zu erwägen sind vor allem:

  • Lungenerkrankungen (z. B. Asthma bronchiale, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung),
  • Herz-Kreislauferkrankungen (Angina pectoris, Myokardinfarkt, Synkopen, Arrhythmien),
  • neurologische Erkrankungen (komplex-partielle Anfälle, Migräne, Migraine accompagnée, Multiple Sklerose,Tumoren u. a.,
  • endokrine Störungen (Hypoglykämie, Hyperthyreose, Hyperkaliämie, Hypokalziämie, akute intermittierende Porphyrie, Insulinom, Karzinoid, Phäochromozytom) Weitere Krankheitsbilder (periphere Vestibularisstörung, benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, u. a.).

Ein Basisprogramm zu Ausschlussdiagnostik bei Angst sollte in jedem Fall ein EKG und Langzeit-EKG, eine Labordiagnostik (Schilddrüsenhormone!) sowie eine Lungenfunktionsprüfung, Langzeitblutdruckmessung und Belastungs-EKG einschließlich zusammenfassender internistischer Bewertung beinhalten, ggf. ergänzt um ein cerebralses MRT.
Weiterhin sollte daraufhin geachtet werden, dass Symptome der Angst auch bei folgenden Konstellationen auftreten können:

  • Bei Einnahme von Arzneimitteln gegen psychische Erkrankungen (Neuroleptika), M. Parkinson und Hirnleistungsstörungen sowie bei Einnahme von bestimmten Antibiotika (besonders Ciproflaxacin).
  • Bei Konsum von Alkohol und Drogen: Suchterzeugende Substanzen greifen in den Gehirnstoffwechsel ein und verändern dadurch die Wahrnehmung, das Denken und die Psyche. Ängste, Wahnideen oder tiefe Depressionen gehören mit zu den Folgen von Alkoholmissbrauch und Drogensucht.

4. Prävalenz
Angststörungen sind in der Bundeswehr, ähnlich der Zivilbevölkerung, ein häufiges Phänomen und betreffen 8 - 11 % aller Soldaten (12-Monatsprävalenz).

5. Sensibilisierung von Angststörungen
Angststörungen werden oft nicht erkannt, da viele Patienten eher über Schmerzen, Schlafstörungen oder andere somatische Beschwerden, als über Angst klagen (Wittchen et al., 2002). Aus diesem Grund ist es sinnvoll, Patienten mit Verdacht auf eine Angststörung einige kurze Fragen zu stellen.
(Siehe Tabelle 2: Sensibilisierung von Angststörungen)

Ein solches Vorgehen/Screening kann auch für weitere psychische Störungen angewendet werden, wie z. B. für Depressionen oder Zwangstörungen.

6. Therapieempfehlungen
Die Empfehlungen der Leitlinien-Angststörungen sind in den Tabellen 3 und 4 zusammengefast. Ausführlichere Informationen unter http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-028. html.
In Tabelle 5 sind nur die Arzneimittel, die einen Empfehlungsgrad A erhalten haben, aufgeführt. Genauere Informationen sind unter http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-028. html zu finden.
Auf die längerfristige Verordnung von Anxiolytika sollte wegen des Abhängigkeitspotenzials verzichtet werden. In der akuten Krisensituation stellen diese (z. B. Lorazepam expidet 3 x 0,5 mg bis 3 x 1 mg täglich) aber eine sinnvolle Unterstützung dar. Im späteren Verlauf kann es auch sinnvoll sein, dem Patienten einen Notfallumschlag mit einer Tagesdosis auszuhändigen, da diese ihm ein Sicherheitsgefühl vermittelt, das die Ausbreitung leichterer Angstattacken unterbinden kann.

7. Empathie als Kernkompetenz
Empathie ist die Fähigkeit, körperliches Empfinden, Emotionen und Gedanken eines anderen Menschen nachempfinden zu können.

Zu den körperlichen Empfindungen gehören Herzrasen oder schneller, unregelmäßiger Herzschlag, Schweißausbrüche, Atemnot, Schluckbeschwerden, Schmerzen in der Brust, Hitzewallungen, Kälteschauern, Frösteln, Kribbeln an Fingern, Mund oder Lippen, Übelkeit oder Missempfindungen im Magenbereich (Unruhegefühl), Bauchschmerzen und Würgereiz.

Zu den Emotionen gehören Gefühle von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit oder das Gefühl, in Ohnmacht zu fallen.
Gedanken wie „Ich falle gleich in Ohnmacht“ oder „Mir wird gleich was schlimmes passieren“ können Bestandteile einer Angststörung sein.
Die Empathie hilft uns, das Verhalten anderer schneller und intuitiver zu verstehen. Daher gilt:

  • Wer den Patienten nicht emotional erreicht, wird ihn auch intellektuell nicht gewinnen können. Verwenden Sie eine Sprache, die für einen Nicht-Mediziner auch verständlich ist. Der Arzt sollte nicht nur rein grammatikalisch die Position des Patienten übernehmen, sondern sollte auch in dessen Erlebniswelt und Sprachwelt eintauchen und diese anwenden.
  • Empathisches Verstehen bedeutet, dass der Arzt verstanden hat, was den Patienten bewegt. Dieses Verständnis offenbart sich in der Wortwahl. Einzelne Worte vermitteln nicht nur Informationen, sondern wecken Assoziationen. Wer an Panik leidet, benutzt Beschreibungen wie „in Ohnmacht fallen“ oder „ein Zittern im Körper“, wer soziale Ängste hat, empfindet z. B. „Peinlichkeit“; wenig empathisch wäre es in beiden Fällen, nur von „Beschwerden“ zu sprechen.
  • Selbstverständlich kann auch durch non-verbale Kommunikation Empathie ausgedrückt werden: Zuwendung zu dem Patienten, eine offene Körperhaltung und ein angemessener Blickkontakt sind hilfreiche Stützen für eine vertrauenswürdige Arzt-Patient-Beziehung.
  • Empathie lebt von der Glaubwürdigkeit. Informationen, die in Bildern und/oder in Worten ausgedrückt werden, sollten stets präzise, aktuell und nachprüfbar sein.

8. Praktisches Vorgehen
Für den ersten truppenärztlichen Kontakt mit einem Angstpatienten empfiehlt sich das folgende Vorgehen, das individuell variieren kann:

a. Sorgfältige Anamnese, welche vor allem Auslösesituationen umfassen sollte,

b. differenzialdiagnostische Abklärung unter Einbindung des Patienten,

c. Psychoedukation: Wie entsteht Angst und wie wird sie aufrecht erhalten bzw. verstärkt sich selbst? Es gibt verschiedene Modelle eines „Kreislaufs der Angst“, die in zahlreichen Selbsthilfebüchern erläutert sind. Diese sind kostenfrei erhältlich, z. B. bei Krankenkassen oder Pharmaunternehmen,

d. Erlernen eines Entspannungsverfahrens (zum Beispiel Atementspannung oder Progressive Muskelentspannung) und Motivation des Patienten, diese konsequent 3 - 4 x täglich zu üben; Anleitungen sind im Internet oder als App kostenfrei erhältlich,

e. Beratung des Patienten bzgl. einer Medikation, f. Beratung bzgl. ambulanter oder stationärer Psychotherapie.

Die Schritte 5 und 6 erfolgen im Allgemeinen in einer Fachärztlichen Untersuchungsstelle (FU) 6B eines Bundeswehrkrankenhauses.

Weitere therapeutische Empfehlungen: 

  • Aufzeigen von Auswegen: Was kann der Patient durch eigenen Beitrag tun, um das Therapieergebnis zu verbessern. Oder was kann er tun bei möglichen Nebenwirkungen.
  • Klare Kommunikation! Versuchen Sie, dosiert den Patienten zu euphorisieren/motivieren. Seine Compliance wird dadurch gefördert und die Wirksamkeit der verordneten Arzneimittel/ Therapiemethode wird erhöht.

9. Zusammenfassung
In diesem Artikel ging es darum, dem Truppenarzt Informationen zu geben, um bei Angstpatienten ein hilfreicher Ansprechpartner zu sein. Ein komprimierter Überblick in der Diagnostik, Klassifikation und den Therapieempfehlungen bei Angststörungen wurden dargeboten. Ebenso wurde die Bedeutsamkeit der Empathie, der sinnvolle Kommunikation und der Stärkung des Vertrauens des Patienten aufgezeigt. Dieser Artikel will das Interesse wecken, um mehr über diese Thematik zu erfahren. Der gut informierte und ausgebildete Truppenarzt kann eine entscheidende Stütze in der Behandlungskette von Angststörungen werden. Dadurch kann er zu einem zügigen Behandlungsbeginn und zur Vermeidung von Chronifizierungen beitragen.

10. Literatur
Literaturverzeichnis beim Verfasser.

11. Links
Leitlinien Angststörungen:
http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-028.html

PHQ -D-Fragebogen:
www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/medizinische_ klinik/Abteilung_2/pdf/Komplett_PHQ_Fragebogen.pdf

PHQ-D- Auswertung:
www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/ Psychosomatische_Klinik/download/PHQ_Manual1.pdf

Selbsthilfegruppen:
www.angstselbsthilfe.de
www.angst-und-panik.de

Broschüren:
www.bdp-verband.de/bdp/archiv/BDP-Broschuere-Angst.pdf http://akdae.de/Arzneimitteltherapie/Patientenratgeber/ AngstZwang.pdf

 

Tabelle 1: Kurzbeschreibung der häufigsten Angststörungen nach ICD-10 (WHO, 1991)

Tabelle 2: Sensibilisierung von Angststörungen

Tabelle 3: Mögliche Therapieformen

Tabelle 4: Psychotherapie und sonstige Maßnahmen

Tabelle 5: Arzneimittel bei Angststörungen

 

 

Datum: 20.03.2015

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2015/1

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