Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie (AINS) im maritimen Umfeld

Aus der Abteilung X (Leiter: Oberstarzt Dr. G. Hölldobler) des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg¹ (Chefarzt: Generalarzt Dr. J. Hoitz), der Sanitätsakademie der Bundeswehr München² (Kommandeurin: Generalstabsarzt Dr. E. Franke) und der Abteilung X (Leiter: Oberstarzt Dr. D. Posselt) des Bundeswehrkrankenhaus Westerstede³ (Chefärztin: Oberstarzt Dr. N. Schilling)

Wolfgang Fohr¹, Volker Hartmann², Dirk Posselt³

WMM 59. Jahrgang (Ausgabe 11/2015; S. 360-364)

Zusammenfassung

Mit Ende des kalten Krieges und nachfolgender Umstrukturierung der deutschen Marine hin zu einer „Expeditionary Navy“ mit weltweiten Einsätzen erfährt auch der Bordsanitätsdienst auf Schiffen der Deutschen Marine in Abhängigkeit des Einsatzspektrums eine abgestufte Erweiterung seiner Versorgungsebene.

So stehen in den so bezeichneten Bordfacharztgruppen, die auf Fregatten und den Einsatzgruppenversorgern eingesetzt sind, je ein Sanitätsstabsoffizier mit der Gebietsbezeichnung Anästhesiologie und Chirurgie sowie spezialisierte Pflegekräfte zur Verfügung, die über die allgemeinmedizinische und rettungsmedizinische Versorgung (Role 1) hinaus eine zusätzliche Notfallversorgung im Sinne einer Schockraumversorgung und gegebenenfalls notfallchirurgische und intensivmedizinische Interimsversorgung (Role 1+) ermöglichen.

Der Sanitätsstabsoffizier mit der Gebietsbezeichnung Anästhesiologie bringt sich im maritimen Umfeld mit allen dem Fachgebiet typischen Teilbereichen - Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie - ein.

Stichworte: Bordfacharztgruppe, Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie, Fregatte, Einsatzgruppenversorger

Keywords: board medical team, anaesthesia, intensive care, emergency medicine, pain management, frigate, combat support ship 

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Abb. 1: Anästhesiearbeitsplatz MERZ; EGV „Frankfurt am Main“

Einführung

Seit dem Jahre 1990 werden in Verbänden oder auf einzelnen Schiffen der Deutschen Marine in Einsatzvorhaben mit einem erhöhten Risikoprofil Bordfacharztgruppen zur Unterstützung der Schiffsärzte eingesetzt. Regelhaft geschieht eine solche Einschiffung im Seegebiet des Indischen Ozeans in dem seit 2008 mandatierten maritimen EU Anti-Piraterie-Einsatz „Atalanta“, an dem sich die Deutsche Marine zumeist mit einer Fregatte beteiligt. In diesen weitläufigen Einsatzräumen von der vielfachen Größe Deutschlands stehen den Schiffen nur wenige Anlaufhäfen zur Verfügung, zu dem sind die Möglichkeiten des TACAIRMEDEVAC[1] an Bord der Fregatten limitiert. Der dort zumeist eingeschiffte Bordhubschrauber Typ „Sea Lynx“ ist einerseits nur sehr eingeschränkt für einen qualifizierten Patiententransport nutzbar, andererseits steht er an Bord aus einsatztaktischen Gründen oft nur bedingt zur Verfügung. Der an Bord der Einsatzgruppenversorger verwendete sanitätsdienstlich durchaus geeignete Helikopter Typ „Sea King“ steht ebenfalls nicht regelhaft bereit. Seine Verfügbarkeit ist seit Jahren durch einen fehlenden technischen Klarstand sowie durch erhebliche personelle Fehlstellen eingeschränkt. Der „Sea King“ muss zudem bereits nach 150 Seemeilen Flug - eine in Anbetracht der genannten Raum-Zeitfaktoren geringe Distanz - aufgetankt werden. Die neue Generation Marinetransporthubschrauber vom Typ NH 90 NTH „Sea Lion“ steht noch nicht zur Verfügung. Er soll zukünftig den über dreißig Jahre alten MK 41 „Sea King“ ablösen, ist allerdings für den Einsatz an Bord von Fregatten nicht vorgesehen.

Somit wird zur Sicherstellung einer qualifizierten sanitätsdienstlichen Versorgung in mandatierten Einsätzen an Bord der Kampfschiffe eine Erweiterung der sanitätsdienstlichen Kapazität vorgehalten, deren Fähigkeiten deutlich über der allgemein- und rettungsmedizinischen Versorgungsebene (Role 1) liegen.

Aber auch auf Fregatten beziehungsweise auf begleitenden Einsatzgruppenversorgern ohne aktiviertes Rettungszentrum (RZ) See, wie beispielsweise bei Auslandsausbildungsreisen im Einsatzausbildungsverband (EAV) der Flotte, ergänzen Bordfacharztgruppen den Bord- und Verbandssanitätsdienst bei Passage zentraler Ozeanbereiche und Transitfahrten entlang Küsten mit eingeschränkter Abdeckung durch Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) - z.B. entlang der Ost-und Westküste Afrikas [1].

Die Bordfacharztgruppe

Aufgabe
Die Bordfacharztgruppe hat die Aufgabe, unter Nutzung der personellen, materiellen und infrastrukturellen Gegebenheiten und Möglichkeiten des Sanitätsabschnittes der jeweiligen Einheit sowie zusätzlich bereitgestellten Materials eine erste lebensrettende, chirurgische und intensivmedizinische Versorgung für dringend Behandlungsbedürftige [2] zu leisten. Außerdem soll die Transportfähigkeit eines Patienten an Bord für die Anschlussbehandlung in einer höherwertigen Behandlungseinrichtung erhalten oder wiederhergestellt werden.

Verfügbare Infrastruktur an Bord
Die Schiffslazarette der Fregatten der Typ-Klassen 122, 123, 124 und der Einsatzgruppenversorger sind an Hand von Bauvorschriften nach ähnlichen Grundmustern aufgebaut und konzipiert, unterscheiden sich allerdings typklassenabhängig erheblich hinsichtlich ihrer räumlichen Ausmaße. Sie sind gegliedert in einen Behandlungsraum mit OP-Tisch, Narkose- und Röntgeneinrichtung, einen Vorraum für administrative Zwecke, einen Krankenkojenraum mit zwei bis neun Krankenkojen, hieran angeschlossen sind ein Sanitärraum mit Nasszelle, Toilette und Sterilisator. Von allen Seiten begehbare Intensivkrankenkojen beziehungsweise Betten konnten in die Krankenräume der Schiffslazarette der Fregatten der Typ-Klasse 124 sowie der beiden Einsatzgruppenversorger integriert werden.

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Tab. 1: Zusatzausstattung Bordfacharztgruppe Anästhesie, Fregatte (Auszug)[2]
Auf den Einsatzgruppenversorgern stehen der Bordfacharztgruppe unabhängig von einer Aktivierung des RZ See die dort vorhandenen umfangreichen infrastrukturellen Möglichkeiten einer schwimmenden Role-2-Einrichtung zur Verfügung; für die Bordfacharztgruppen werden in einem solchen Fall einer der beiden containerisierten Operationsbereiche und der Zahnarztcontainer teilaktiviert, so dass hier eigenständige Funktionsbereiche außerhalb des Schiffslazarettes entstehen.

Materielle Ausstattung
Die materielle Ausstattung der Schiffslazarette wurde in den letzten Jahren mehrfach erweitert, modifiziert und dem medizinisch wie technischen Fortschritt angepasst. Auf die derzeitige chirurgische Ausstattung wurde bereits in anderen Publikationen eingegangen [2 - 6].

Dem eingeschifften Anästhesisten steht an Bord der Fregatten und Einsatzgruppenversorger ein modernes Narkosegerät - „Narkoseausstattung, Schiff, Fabius Tiro“ - zur Verfügung (Abbildung 1). Außerdem umfasst die anästhesiologische Ausstattung an Bord derzeit automatische Spritzenpumpen und Infusionssysteme, mobile Beatmungsgeräte (Lifebase III und je nach Ausführung Oxylog 2 000 bzw. 3 000), eine leistungsfähige mobile Absaugeinrichtung (Accuvac), einen halbautomatischen Defibrillator (Zoll M), eine umfangreiche Laborausrüstung inklusive Blutgasanalyse und die Möglichkeiten eines nicht invasiven und invasiven Monitorings (Patientenüberwachungsmonitor Propaq). Das für den Anästhesisten notwendige Sanitätsverbrauchsmaterial („EVG-San“ mit Arzneimitteln, Betäubungsmitteln und Medizinprodukten) steht ebenfalls in ausreichenden Mengen zur Verfügung und ist im Schiffslazarett und in den zugehörigen Lasten an Bord seefest verstaut (siehe Tabelle 1[2]).

Medizinische Geräte und Sanitätsmaterial EVG-San der Bordfacharztgruppe sind inzwischen weitest gehend standardisiert und werden laufend den Erfahrungsberichten und dem aktuellen medizinisch-technischen Entwicklungsstand entsprechend ergänzt und erweitert. Allerdings gibt es in den Schiffslazaretten der Kampfschiffe nur wenig materielle Redundanzen; empfindliche Diagnostik- und Laborgeräte können auch bei bester Pflege und Wartung unter rollenden und stampfenden Schiffsbewegungen in See ausfallen und fordern so das Improvisationsvermögen des gesamten Lazarettteams immer wieder heraus.

Der Bordfacharztgruppe der Schiffe im Einsatz „ATALANTA“ steht für eine differenzierte Flüssigkeit- und Volumentherapie seit 2010 ein Vorrat von 20 Erythrozytenkonzentraten der Blutgruppe 0 negativ in einem speziellen Kühlcontainer (Blutlagerbox / Thermostabilizer RCB 42 P) zur Verfügung. Die zunächst geäußerte Befürchtung, dass Vibration an Bord von Schiffen die Qualität der Blutprodukte erheblich beeinträchtigt, hat sich nicht bestätigt. Es konnte in einer Untersuchung gezeigt werden, dass die Qualität von Erythrozytenkonzentraten unter den angegebenen Lagerbedingungen auf Fregatten der Deutschen Marine für den Zeitraum der deklarierten Haltbarkeit über 42 Tage gegeben ist [7]. Weiterhin stehen in der Zusatzausstattung „Bordfacharztgruppe Anästhesie“ Lyoplasma, Tranexamsäure und Faktor VIIa-Präparate für ein differenziertes Gerinnungsmangement bei akuter Hämorrhagie zur Verfügung.

Die oft diskutierte Option der Warm- / Vollblutspende kann im Einzelfall im Sinne einer erweiterten Nothilfe erwogen werden, wird aber auch im akuten lebensbedrohlichen hämorrhagischen Schock nicht wirklich weiterhelfen können, da diese Maßnahme viel Zeit benötigt, Personal bindet und aufgrund möglicher immunologischer Reaktionen und infektiologischer Risiken zusätzlich erhebliche Komplikationen verursachen kann, die gerade in der Bordmedizin vermieden werden müssen. Die entsprechenden Entnahmebestecke und Auffangbeutel mit Stabilisatoren und Antikoagulantien sowie Testkits zur Blutgruppenbestimmung und Kreuzprobe sind derzeit nur an Bord der Einsatzgruppenversorger vorhanden.

Narkosemöglichkeiten

Das Konzept inhalativer Narkosetechniken an Bord ist heute nahezu verlassen worden. Die schwierige Narkosegasabluftentsorgung in den Schiffslazaretten sowie das nicht zu unterschätzende Restrisiko einer malignen Hyperthermie, auch bei modernen Inhalationsnarkotika, hat die TIVA im Einsatz an Bord etabliert.

Die Durchführung rückenmarksnaher Verfahren wie Spinalanästhesie (SPA) und Periduralanästhesie (PDA) sowie regionalanästhesiologische Verfahren (Plexusanästhesie) sind ebenfalls an Bord möglich, finden allerdings in der Anwendung bei überwiegend operativen Noteingriffen ihre Grenzen. Dagegen bieten sich in der Schmerztherapie Möglichkeiten für den Einsatz Katheter gesteuerter Verfahren an, die an Bord vor allem bei längeren Transportwegen in die nächste Behandlungsebene für eine suffiziente Analgesie des Patienten vorteilhaft sein können [8]. 

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Abb. 2: Anä sthesiearbeitsplatz; Schiffslazarett Fregatte Typklasse 122 „Augsburg“; Patient mit Z.n. Bauchschussverletzung.

Sauerstoffversorgung

Eine für den Anästhesisten wichtige Größe stellt der Sauerstoffvorrat dar. Er ist derzeit an Bord einer Fregatte auf etwa 25 000 Liter limitiert und wird in Flaschen, die in der Regel nur im Heimathafen befüllt werden können, bereitgestellt. Mit dieser Menge kann ein Notfallpatient für rund 48 - 72 Stunden beatmet werden. Auch wenn für den Einsatz „ATALANTA“ weitere Sauerstoffflaschen eingerüstet werden, stellt diese Menge auch unter arbeitsmedizinischen Gesichtspunkten ein durchaus gefährliches Potenztial bei Bränden oder Explosionen dar. Der Trend weist deshalb zukünftig in die Richtung kleinerer und in die Schiffslazarette einrüstbarer Geräte zur Eigenherstellung von Sauerstoff hin. Seit dem 1. April 2011 erlaubt der European Pharmacopoeia Standard zudem auch eine Verwendung von Sauerstoff von 93 % Reinheit, was die Möglichkeiten zur Selbst-erzeugung von medizinischem Sauerstoff verbessert. In eindrucksvoller Weise ist dies bereits seit Jahren an Bord der Einsatzgruppenversorger möglich, in denen containerisierte Apparaturen zur Sauerstofferzeugung nach dem Molekularsiebverfahren integriert sind und damit eine vollständige Autarkie für Sauerstoff und Druckluft bei Seefahrt erlauben.

Stellung und Aufgaben des Anästhesisten in der Bordfacharztgruppe

Der Schiffsarzt hat als Senior Medical Officer (SMO) die Aufgabe, die Bordfacharztgruppe in den täglichen Dienst an Bord zu integrieren, sie mit den oft ungewohnten Verhältnissen vertraut zu machen und ihnen das Optimum an Arbeitsbedingungen an Bord zu ermöglichen [2].

Der Anästhesist vertritt sein Fachgebiet mit den klinischen Feldern Anästhesiologie, chirurgische und interdisziplinäre Intensivmedizin, Rettungsmedizin und Schmerztherapie. Mit diesen Expertisen bringt er sich als Teamplayer in die Bordfacharztgruppe ein, er ist aber auch Einzelkämpfer an den Schnittstellen seiner Teilgebiete.

Fachdienstlich geführt wird die Bordfacharztgruppe durch den Schiffsarzt bzw. durch einen SMO, der sich ihrer Expertisen bedient und sie zielgerichtet (siehe unten) einsetzt. Anästhesist und Chirurg sind immer erfahrene bis sehr erfahrene Ärzte ihres Fachgebiets. Ihr Einsatz erfolgt unter Einbeziehung der Schiffsarztgruppe und findet im Schiffslazarett unter Nutzung der dort vorhandenen Infrastruktur und Materialausstattung statt [6]. Schiffsarztgruppe und Bordfacharztgruppe bilden eine aufeinander angewiesene Gemeinschaft, um verletzten und akut erkrankten Soldaten an Bord die optimale Nothilfe zukommen zu lassen.

Der Anästhesist ist als erfahrener Rettungsmediziner bereits in der präklinischen notfallmedizinischen Versorgung der erste Ansprechpartner für den Schiffsarzt. In einer Gefechtssituation ist er als Notarzt auf dem Verbandplatz tätig und unterstützt das hier tätige Personal.

Bei Schadensabwehrsituationen und Unfällen mit Personenschaden auf dem eigenen Schiff und im Rahmen der Nothilfe auf einer Fremdeinheit kann er am Notfallort als Notarzt, bei einem Massenanfall von Verletzen auch als Leitender Notarzt (LNA) eingesetzt werden. Hierfür ist es unumgänglich, dass der Anästhesist wie alle Besatzungsangehörigen sich intensiv mit der Raumkenntnis, Schadensabwehrmöglichkeiten, den Rettungs- und Bergemitteln an Bord und nicht zuletzt den Transportwegen vertraut sein muss. Da die ärztliche Ressource an Bord knapp ist, wird der Anästhesist hier selten nur rein beratende Tätigkeiten ausüben, sondern wie alle Ärzte im Team immer auch behandeln müssen – unter anderem Sicherung des Atemweges, Volumenersatz, Blutstillung und Monitoring. Gleichzeitig bringt er seine Erfahrung im Bereich der Behandlungspriorität / Triagierung ein und stellt die Überwachung und den Transport des Patienten in die nächste Behandlungsebene im Behandlungsraum des Schiffslazaretts sicher (Abbildung 2). Dieser dient sowohl als Schockraum als auch als OP für Noteingriffe. Hier erfolgt nach ATLS™[3]-Kriterien die weitere Stabilisierung und Vorbereitung des Patienten auf einen möglichen notfallchirurgischen Eingriff [9], unter anderem durch

  • gegebenenfalls Intubation und Atemwegssicherung,
  • invasives/nichtinvasives Monitoring,
  • Allgemeinanästhesie,
  • Volumenersatz und Erhalt der Homeostase und/oder
  • Notfalllabor.

Der Chirurg führt unterdessen mit den an Bord zur Verfügung stehenden Röntgen- und Sonographiegeräten im Sinne eines „Focused Assessment with Sonography for Trauma“ (FAST) die Diagnostik durch und bereitet eine mögliche OP vor.

Sofern in der postoperativen Phase der Patient intensiv behandlungs- und/oder überwachungspflichtig ist, übernimmt der Anästhesist diese Aufgabe bis zur Entlassung bzw. Übergabe in die nächs--te Behandlungsebene. Bei geplantem -STRATAIRMEDEVAC[4] trifft er die Vorbereitungen und Maßnahmen zur Erhaltung und Herstellung der Transportfähigkeit.

Die Indikation zur notfallchirurgischen Intervention an Bord ergibt sich einerseits aus einem akuten Trauma, wie

  • Schussverletzung,
  • Fraktur,
  • Amputation oder
  • Wundversorgung,

andererseits bei akuter Erkrankung mit nicht aufgeschobener bzw. aufgeschobener Dringlichkeit zur Operation, unter anderem. bei

  • akuter oder subakuter Appendizitis,
  • Hodentorsion,
  • inkarzerierter Inguinalhernie,
  • größeren Abszessen.

Elektiveingriffe werden in der Regel an Bord nicht durchgeführt. Der Anästhesist der Bordfacharztgruppe übernimmt bei allen Interventionen neben der Allgemeinanästhesie, das perioperative Patientenmanagement und bei Bedarf auch die postoperative Betreuung, Schmerztherapie und Intensivüberwachung / -behandlung.

Abgesehen von den erwähnten Krankheitsbildern und Verletzungsmustern der chirurgischen Notfallmedizin ist gerade in Anbetracht der isolierten Situation auf See nicht außer Acht zu lassen, dass ein sehr großer Anteil von Notfallpatienten an Bord auf internistische und neurolologisch-psychiartische Fragestellungen fällt. So wurden während der Einsätze der letzten Jahre folgende Akutdiagnosen bei Soldaten an Bord gestellt:

  • Herzinfarkt,
  • ischämischer Hirninsult,
  • exarzerbierte psychische Reaktion / Psychose,
  • Meningitis,
  • metabolische Entgleisung.

In solchen Fällen stellen die an Bord eingesetzten Anästhesisten durchaus einen nahezu klinischen Standard für ihre Patienten sicher und gewährleisten erst dadurch die Möglichkeit zum sicheren STRATAIRMEDEVAC in die Heimat.

Anästhesist und Schiffsarztgruppe
Personelle Unterstützung findet der Anästhesist in der Schiffsarztgruppe. Der Schifffahrtmedizinische Assistent (früher Sanitätsmeister) der Schiffsarztgruppe, ein in der Rettungsmedizin und an Bord erfahrener Portepeeunteroffizier, der nicht selten auch ein anästhesiologisches Praktikum absolviert hat und mit dem entsprechenden Procedere vertraut ist, ist für den Anästhesisten der Bordfacharztgruppe der erste Ansprechpartner und wird vorwiegend in der Anästhesiepflege eingesetzt. Dennoch empfiehlt es sich dringend zu Beginn der gemeinsamen Seefahrt die notwendigen Verfahren und Algorithmen zu rekapitulieren und immer wieder praktisch zu üben. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf folgende Aspekte gelegt:

  • Dosierung, Wirkung und Einsatz von in der Anästhesie und Notfallmedizin gängigen Arzneimitteln,
  • Gerätekunde (Narkosegerät, Beatmungsgerät, Patientenmonitor und Perfusor),
  • Vorbereitung einer Intubation (Eindecken des Intubationstisches) und
  • Notfallverfahren.

In der Regel erfolgen diese Übungen zusammen mit dem Chirurgen und dem gesamten Schiffsarztteam, da auch das Personal für die OP-Pflege aus der Schiffsarztgruppe gestellt werden muss. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass die beengten Räumlichkeiten des Schiffslazaretts einer Fregatte mit dem vorhandenen Personal- und Materialansatz einen standardisierten Operationsbetrieb im klinischen Sinne nicht erlauben. Der in diesem Zusammenhang immer wieder aufkommenden Forderung, zusätzlich anaesthesiologisches Assistenzpersonal in der Bordfacharztgruppe zu etablieren, wurde bisher nur auf Einheiten im Einsatz ATALANTA durch Einschiffung einer Fachkraft für Intensivpflege / Anästhesie Rechnung getragen. Dies bedeutet für den Anästhesisten eine bedeutende Erleichterung, da die Versorgungsqualität für eventuell mehrere Verletzte/Verwundete steigt oder auch die Vorbereitungszeit für eine OP deutlich sinkt. Hiermit wird auch dem vom Gesetzgeber für jede Narkose geforderten Facharztstandard bei einer Patientenbehandlung entsprochen, der die Assistenz und Mitwirkung qualifizierten Pflegepersonals bedingt [10]. Für den chirurgischen Bereich ist dies auch auf Grund des Personalmangels in den Krankenhäusern, der kaum vorhandenen Beschäftigungsmöglichkeiten im Routinebetrieb an Bord und nicht zuletzt der eingeschränkten Unterkunftskapazitäten auf den Schiffen nicht vorgenommen worden [6]. Allerdings muss die aus chirurgischer Sicht immer wieder gestellte Forderung, einsatzerfahrene Fachärzte sowie ausgebildetes Assistenzpersonal (Anästhesie- und OP-Pflege) in der Bordfacharztgruppe vorzuhalten beziehungsweise intensive Schulungen und Kurse für das Personal der Schiffsarztgruppe vor einem Einsatz durchzuführen, auch aus anästhesiologischer Sicht unterstützt werden. Der Erfolg zeitkritischen Handelns hängt nicht zuletzt von der Erfahrung und vom Ausbildungsstand der Fachärzte und des Teams ab.

Für das an Bordeinsätzen teilnehmende Personal des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr wird seit einigen Jahren im Rahmen der einsatzvorbereitenden Ausbildung für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung (EAKK) eine dreitägige Einweisung in der Einsatzflottille (EF) 2 vorgenommen. Dort lernen die Fachkollegen ihren Arbeitsplatz auf den Schiffen kennen und werden mit den Herausforderungen im Sanitätsdienst an Bord vertraut gemacht.

Schlussbetrachtung

Anästhesie und Chirurgie in der Bordfacharztgruppe auf einem Kriegsschiff unter Einsatzbedingungen bedeuten keinesfalls klinische Medizin unter Bordverhältnissen! Fregatten und auch Einsatzgruppenversorger mit Bordfacharztgruppe fahren zudem nicht unter dem Schutz des Roten Kreuzes zur See, sie sind keine klinisch optimierten Hospitalschiffe. Die Infrastruktur an Bord der Kampfschiffe ist auf Durchhaltefähigkeit und Sicherung der Plattform Kriegsschiff im Einsatz ausgerichtet. Somit ist auch eine den vorgegebenen Grundsätzen der fachlichen Leitlinie des Inspekteurs des Sanitätsdienstes entsprechende Patientenversorgung unter den gegebenen Voraussetzungen an Bord eines Kriegsschiffes nur sehr eingeschränkt umsetzbar. Trotzdem muss ausdrücklich betont werden, dass die Deutsche Marine ihren Besatzungsangehörigen mit tatkräftiger Unterstützung des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr die im Vergleich mit anderen seefahrenden Nationen weitaus umfassendste und beste medizinische Versorgung in See gewährleistet.

Mit Entsendung eines Schiffes der Deutschen Marine in spezielle Einsätze unter fremden Küsten kann das Sanitätspersonal in der Schiffsarzt- und Bordfacharztgruppe mit Verletzungen und akuten Erkrankungen jeglicher Art und Schwere sowohl an Bord des eigenen Schiffs als auch auf Fremdeinheiten bei Hilfeleistungen in See nach international geltendem Seerecht konfrontiert werden. Die Behandlung von verletzten oder akut erkrankten Personen muss unter den gegebenen Bedingungen als Erstbehandlung und im Rahmen der Nothilfe durchgeführt werden. Dabei hat die Bordfacharztgruppe zunächst nur beratende Funktion.

Der Einsatz eines Kriegsschiffes ist durch seinen Auftrag bestimmt, die Handlungsprioritäten werden entsprechend der inneren und äußeren Sicherheitslage durch den Kommandanten festgelegt; unter diesen Aspekten hat sich die Bordfacharztgruppe in die Bordorganisation einzufügen, bis sie den Auftrag zur Behandlung einer verletzten oder akut erkrankten Person an Bord erhält. Dieses Verständnis ist einerseits Grundvoraussetzung, andererseits Herausforderung für alle Fachärzte, die in einer Bordfacharztgruppe tätig sind. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Bordfacharztgruppe die Vorhaltung einer speziellen Fähigkeit darstellt, nämlich der umfassenden Professionalisierung der notfallmedizinischen Versorgung an Bord im einsatztypischen Bedarfsfall.

Sinn und Nutzen einer fachärztlichen Versorgung in See kann daher nicht an tatsächlich erzielten Leistungszahlen bemessen werden, wie zum Beispiel an der Anzahl von Narkosen oder operativen Eingriffen. Man muss sich immer vergegenwärtigen, dass es nicht das Ziel sein kann, angesichts der personellen, materiellen, infrastrukturellen und hygienischen Situation an Bord in abgelegenen Seegebieten, operative Elektiveingriffe durchzuführen. Ebenso sollten Eingriffe mit aufgeschobener Dringlichkeit nur nach strenger Indikationsstellung und nach Abwägung der Raum-Zeitfaktoren in See durchgeführt werden. Aus dem klinischen Alltag Gewohntes und Wünschenswertes sind an Bord nicht immer umsetzbar, obwohl operative Noteingriffe im Rahmen der Versorgungsebene Role 1+ an Bord einer Fregatte bei eingeschiffter Bordfacharztgruppe grundsätzlich möglich sind. Bei schweren Verletzungsmustern (zum Beispiel körpernahe Gefäßverletzungen, innere Blutungen, Polytraumata), die einen hohen Blutverlust beziehungsweise Volumenumsatz bedingen, sind die Möglichkeiten allerdings erheblich limitiert.

Die Fähigkeit zur Improvisation, Grenzen des Machbaren zur erkennen, und der Wille, die Bordbedingungen in See zu akzeptieren und für Schiff und Besatzung ein Optimum an medizinischer Versorgung im Einsatz zu ermöglichen, sind für das gesamte Lazarettteam die täglichen Herausforderungen an Bord von Kampfschiffen im Einsatz.

Kernaussagen

  • Zur Sicherstellung einer qualifizierten sanitätsdienstlichen Versorgung bei mandatierten Einsätzen sowie bei Transitfahrten in zentralen und entlegenen Ozeanbereichen werden an Bord von Kampfschiffen der Deutschen Marine Bordfacharztgruppen eingesetzt.
  • Die Bordfacharztgruppe besteht aus einem Sanitätsstabsoffizier mit Gebietsbezeichnung „Anästhesiologie“, einem Sanitätsstabsoffizier mit Gebietsbezeichnung „Chirurgie“ sowie einem Portepeeunteroffizier „Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivmedizin“.
  • Die Bordfacharztgruppe hält eine spezielle Fähigkeit, nämlich die umfassende Professionalisierung der notfallmedizinischen Versorgung an Bord im einsatztypischen Bedarfsfall, vor.
  • Der Sanitätsstabsoffizier mit der Gebietsbezeichnung „Anästhesiologie“ bringt sich im maritimen Umfeld mit allen dem Fachgebiet typischen Teilbereichen - Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie - ein.

Literatur

  1.  Fohr W, Posselt D, Hartmann V: Der Anästhesist in der Bordfacharztgruppe auf Kampfschiffen der Marine. Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2010; 34(3): 29-34.
  2. Hartmann V: Der Chirurg an Bord: Eine Herausforderung im maritimen Umfeld. Wehrmedizinische Monatsschrift 2009; 53(5-6): 130-134.
  3. Hartmann V: Das Marineeinsatzrettungszentrum (MERZ). Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2007; 31(3): 32-34
  4. Erfahrungsberichte (unveröffentlicht) „Bordfacharztgruppe“ aus der Einsatzflottille 2.
  5. Hauer T, v. Lübken F, Johann M, Schreyer Ch, Hartmann, Kollig E und Willy Ch: Deutsche Militärchirurgen im Auslandseinsatz - Lebens- und Arbeitsbedingungen. Der Unfallchirurg 2010;113: 91-98.
  6. Quirll H: Der Chirurg im Einsatz auf einer Fregatte. Wehrmedizinische. Monatsschrift 2010; 54(1): 11-15.
  7. Sanitätsamt der Bundeswehr: Abschlussbericht über die Lagerung von „Erythrozytenkonzentraten LD PAGGS-M Blutspendedienst der Bundeswehr“ an Bord von Fregatten der Deutschen Marine - Erhebung von Stabilitätsdaten unter simulierten Lagerungsbedingungen, München 18.02.2010.
  8. Adams H, Möllmann M: Operationsverfahren und Anästhesieverfahren an Bord. Wehrmedizin und Wehrpharmazie 1989; 13(4): 22-28.
  9. Kulla M, Helm M, Bouillon B, Lampl L: Advanced Trauma Life Support – Was können wir für den Auslandseinsatz lernen? Wehrmedizinische. Monatsschrift 2005; 49(5-6): 119-124.
  10. Landauer B, Weis E: Qualifizierte pflegerische Assistenz immer notwendig?, BDAktuell JUS-Letter Juni 2008, Jahrgang 8, Ausgabe 2

Bildnachweis: Eigene Abbildungen (W. Fohr, D. Posselt)


[1]
TACAIRMEDEVAC = Tactical Aeromedical Evacuation (luftgestützter Verwundetentransport in eine andere sanitätsdienstliche Behandlungseinrichtung - Sekundärtransport -  im Einsatzland)

[2]
Abkürzungen der Spalte „Bezugseinheiten“: AM = Ampulle; BT = Flasche; SE = Satz ; EA = Stück

[3]  ATLS™ = Advanced Trauma Life Support

[4] 
STRATAIRMEDEVAC = Strategic Aeromedical Evacuation (strategischer Lufttransport von Patienten, d. h . Transport aus dem Einsatzland in das Heimatland oder ein anderes Land außerhalb des Einsatzgebietes, i. d. R. in eine Einrichtung der Behandlungsebene 4 zur endgültigen Behandlung).

Datum: 25.11.2015

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