WIR GEFÜHL AN BORD
Sense of community on board
Aus der Helmut- Schmidt- Universität der Bundeswehr Hamburg (Prof. Dr. W. Seidel) und Fachhochschule Nordwestschweiz², Basel (Präsident: Prof. Dr. P. Schmid)
Jörg Wombacher² und Jörg Felfe
Soldatisches Wir Gefühl (Kohäsion) ist ein Grundpfeiler militärischer Organisationskultur und Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Studien.
Unter Schiffsbesatzungen wurde dieses Phänomen jedoch vergleichsweise selten erforscht.
Methoden: Mithilfe einer schriftlichen Befragung von Fregattenbesatzungen der Bundesmarine (n = 273) wurde untersucht, gegenüber welcher Bezugsgruppe am ehesten ein Wir Gefühl besteht, durch welche Verhaltensweisen Vorgesetzte zur Entstehung eines Wir Gefühls an Bord beitragen und wie ein solches Gefühl die wahrgenommene Einsatzbereitschaft des Schiffes beeinflusst.
Ergebnisse: Es zeigt sich, dass die Gruppen Hauptabschnitt und Abschnitt für die Wahrnehmung eines Wir Gefühls an Bord psychologisch bedeutsamer sind als das Schiff insgesamt. Indem die Vorgesetzten solcher Gruppen ihre Untergebenen respektvoll behandeln, können sie das Wir Gefühl in den von ihnen geführten Gruppen stärken. Unabhängig davon wirkt sich das Wir Gefühl positiv auf die wahrgenommene Einsatzbereitschaft der Besatzung aus.
Schlussfolgerungen: Zur Förderung von Wir Gefühl an Bord ist eine angemessene Balance anzustreben zwischen der Betonung der alle vereinenden Identität „Schiff“ und der Aktivierung exklusiverer Bezugsgruppenidentitäten, die es dem Einzelnen erlauben, sich selbstwertdienlich vom Rest der Besatzung abzuheben.
Summary
Background: Sense of community (cohesion) is a cornerstone of military organizational culture and has been studied extensively by academics. With a few exceptions, though, sense of community among navy crew has not been investigated.
Methods: Based on a survey aboard two German Navy frigates (n = 273), this study exa - mines how military leaders can contribute to building a sense of community on board and how this, in turn, affects sailors’ perceptions of combat readiness. A distinction is made between 16 different reference groups in which a sense of community may be experienced.
Results: Data show that the division and the subdivision are psychologically more important than the ship to serve as foci of sense of community to crew members. Subgroup lea - ders can strengthen the sense of community among their subordinates by behaving respectfully toward them. On the consequence side, a positive link between sense of community and perceived combat readiness exists in those groups that contribute to achieving the ship’s mission.
Implications: To nurture community feelings on board, a balance must be struck between the activation of the overall ship identity and more exclusive subgroup identities, thus allowing crew members to feel the same as, and different from, the rest of the crew at the same time.
1. Einleitung
Soldatisches Wir Gefühl (Kohäsion) ist ein Grundpfeiler militärischer Organisationskultur. In den Sozialwissenschaften liegen bis dato zahlreiche Untersuchungen vor, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen [1, 2]. Davon ausgenommen scheint jedoch der Bereich der Marine. Empirische Studien zum Wir Gefühl an Bord sind eher selten.
Am Beispiel von Fregattenbesatzungen soll untersucht werden, wie Vorgesetzte zur Entstehung eines Wir Gefühls an Bord beitragen können. Ausserdem soll geklärt werden, wie ein solches Gefühl die wahrgenommene Einsatzbereitschaft der Besatzung beeinflusst. Dabei wird berücksichtigt, dass es sich bei Marineeinheiten um strukturell und funktional ausdifferenzierte Gebilde handelt und somit neben dem Schiff auch untergeordnete Gruppen als Bezugsgruppen für die Wahrnehmung von Wir Gefühl infrage kommen. Zunächst soll jedoch der Begriff Wir Gefühl genauer betrachtet werden.
1.1 Wir Gefühl als theoretisches Konstrukt
Die vorliegende Studie orientiert sich an dem Konzept des „Psychological sense of community“ (Psychologisches Wir Gefühl) [3]. Dem Konzept liegen die nachfolgenden vier Dimensionen zugrunde:
- Mitgliedschaft (membership)
Mitgliedschaft bezieht sich auf die Wahrnehmung von Grenzen, die definieren, wer Teil der Gruppe ist und wer nicht. Im militärischen Kontext manifestieren sich diese unter anderem durch Sprache, Kleidung, Wappen, Logos, Liedgut und Rituale.
- Bedürfniserfüllung (needs fulfillment)
Die Zugehörigkeit zur Gruppe muss dem Einzelnen vorteilhaft erscheinen. Dies geschieht auf der Basis sogenannter Verstärker wie beispielsweise dem selbstwertdienlichen Gruppenprestige oder der Unterstützung durch andere Gruppenmitglieder
- Einfluss (influence)
Unter Einfluss wird die Möglichkeit des Individuums, Einfluss auf die Gruppe zu nehmen, aber auch die wechselseitige Einflussnahme unter den Gruppenmitgliedern verstanden
- Emotionale Verbundenheit (shared emotional connection)
Emotionale Verbundenheit bezeichnet den Teamgeist in der Gruppe. Zentrale Treiber dieser Dimension sind eine hohe Interaktionsintensität und -qualität der Mitglieder im Rahmen von Ereignissen, die für die Organisation beziehungsweise Gruppe von tragender Bedeutung sind (shared valent events).
Tab 1: Häufigkeitsverteilung der Primärgruppen.
1.2 Multiple Fokusse psychologischen Wir Gefühls an Bord
Schiffsbesatzungen weisen sowohl in funktionaler wie auch struktureller Hinsicht einen hohen Differenzierungsgrad auf. Neben formellen Gruppen wie Schiff, Hauptabschnitt oder Dienstgradgruppe prägen auch informelle Gruppen wie zum Beispiel der Freundeskreis das soziale Beziehungsgefüge an Bord. Wir Gefühl unter Besatzungsmitgliedern muss daher nicht allein in der Bezugsgruppe Schiff verankert sein.
Folglich stellt sich zunächst die Frage, wann sich ein Besatzungsmitglied als Angehöriger einer bestimmten Gruppe (Schiff, Hauptabschnitt, Teileinheit, Wache, etc.) begreift. Eine Antwort hierauf liefert die Selbstkategorisierungstheorie (SKT) [4], die sich mit den grundlegenden Bedingungen und Prozessen der Gruppenbildung befasst und somit der Frage der Entstehung eines Wir Gefühls vorgelagert ist. Gruppenbildung wird dabei unter Berufung auf die Kategorisierungs- beziehungsweise Stereotypisierungstendenz menschlicher Wahrnehmung als das Ergebnis eines Kategorisierungsprozesses aufgefasst, bei dem Personen sich selbst und andere (Ingroup) als identisch oder zumindest ähnlich im Unterschied zu anderen Personen (Outgroup( s)) wahrnehmen und erleben.
Welche Kategorie psychologisch wirksam, das heisst salient, und damit ein stellungs- und verhaltensbestimmend wird, hängt primär von ihrer relativen Verfügbarkeit ab. Determinanten dieser Verfügbarkeit sind zum einen die Häufigkeit, mit der die Kategorie im Rahmen sozialer Vergleichsprozesse in der Vergangenheit aktiviert wurde. Zum anderen hängt sie davon ab, wie viel Zeit seit der letzten Aktivierung vergangen ist. Darüber hinaus ist entscheidend, wie zentral die Gruppenmitgliedschaft für das Selbstkonzept des wahrnehmenden Individuums ist. Fallen Status oder Prestige im Intergruppenvergleich positiv aus, wird dadurch der Selbstwert des wahrnehmenden Individuums gesteigert. Gruppenzugehörigkeiten, die aufgrund ihrer hohen Aktivierungsfrequenz und ihres evaluativen Nutzens über verschiedene Situationen hinweg leicht abrufbar sind, werden auch als chronisch salient bezeichnet.
Bei einer für Fregatten charakteristischen Organisationsstruktur ist zu vermuten, dass sich Besatzungsmitglieder vorrangig ihrem jeweiligen Abschnitt oder Hauptabschnitt zugehörig fühlen. Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass sich hierüber ihr primäres Tätigkeitsspektrum und damit die Art und Häufigkeit der Interaktion mit der übrigen Besatzung definieren. Auch sind die Abschnitte mit jeweils spezifischen Wertigkeiten verknüpft, die mit entsprechendem Prestige einhergehen. So heben beispielsweise Angehörige des Hauptabschnitts 600 („Gefecht“) den eigenen Stellenwert gerne mit dem Hinweis hervor, dass durch sie das Schiff überhaupt erst zu einem „Kriegsschiff“ würde und den übrigen Abschnitten daher allenfalls eine Hilfsfunktion zufalle. Ähnliche Beispiele lassen sich auch für die anderen Abschnitte finden. Soziale Vergleichs- und Bewertungsprozesse dieser Art dienen dem Erlangen positiver sozialer Distinktheit und damit einer selbstwertdienlichen, von den relevanten Vergleichsgruppen klar unterscheidbaren Gruppenidentität.
Dies bedeutet nicht, dass nicht auch das Schiff eine psychologisch relevante Bezugsgruppe sein kann. Gemeinsame Gefahren und Bedrohungen sowie Vergleiche mit anderen Einheiten, beispielsweise beim Abschneiden in Manövern, erhöhen als „shared valent events“ (vgl. oben) die wahrgenommene Ähnlichkeit innerhalb der Besatzung und damit die psychologische Relevanz der Bezugsgruppe Schiff. Chronisch salient dürfte dieser Fokus jedoch vergleichsweise selten sein. Hierfür spricht, dass die Identität allen Besatzungsmitgliedern an Bord gemein ist und daher wenig Möglichkeiten zur Differenzierung bietet. Im Gegensatz dazu stellen Hauptabschnitts- und Abschnittszugehörigkeit vergleichsweise exklusive Identitäten dar, die es dem Einzelnen erlauben, Teil eines grösseren Kollektivs zu sein und sich dabei gleichzeitig von der übrigen Besatzung selbstwertdienlich abzuheben. Daher kann vermutet werden:
Annahme: Für Angehörige von Fregattenbesatzungen haben die Kategorien Hauptabschnitt und Abschnitt eine grössere psychologische Relevanz als die Kategorie Schiff insgesamt.
1.3 Führung und Wir Gefühl
Militärischen Führern obliegt die Aufgabe, den Zusammenhalt in den von ihnen geführten Gruppen sicherzustellen [5]. Erreichen können sie dieses Ziel, indem sie ihre Untergebenen mit Respekt behandeln. Damit ist die Fähigkeit gemeint, auf die Erwartungen, Bedürfnisse und Gefühle der unterstellten Soldaten einzugehen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, in ihrem Wert für die Gruppe (an-)erkannt zu sein [6]. Dies bedingt, dass Vorgesetzte ihre Untergebenen ernst nehmen, sie fair behandeln, offen und ehrlich mit ihnen umgehen, Kritik sachlich äußern, und sie jederzeit mit relevanten Informationen versorgen. Durch einen respektvollen Umgang erhalten die Soldaten das Gefühl, dass ihr Beitrag zählt und sie durch ihr Verhalten Einfluss auf den Gruppenerfolg haben. Im Gegenzug werden sie die Führung gerne und bereitwillig akzeptieren und unterstützen. Eine enge persönliche Beziehung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen ist dabei nicht zwingend erforderlich. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte ist zu erwarten:
- Hypothese 1: Verhält sich ein/e militärische/ r Führer/in gegenüber den Angehörigen der ihm/ihr unterstellten Gruppe respektvoll, so trägt dies zur Entstehung eines Wir Gefühls in der jeweiligen Gruppe bei.
1.4 Wir Gefühl und wahrgenommene Einsatzbereitschaft
Die wahrgenommene Einsatzbereitschaft bezieht sich auf die Einschätzung der Besatzung, dass das Schiff seinen militärischen Auftrag erfüllen kann.
Zur Klärung der Frage, ob und in welchem Ausmass ein Wir Gefühl innerhalb einer bestimmten Gruppe an Bord zu einer positiv wahrgenommenen Einsatzbereitschaft führt, ist eine Differenzierung der Bezugsgruppen hinsichtlich ihres Beitrags zum Gesamterfolg des Schiffes erforderlich. Trägt der Erfolg der Gruppe wie etwa im Fall des Hauptabschnitts, Abschnitts oder der Wache direkt zum Gesamterfolg des Schiffes bei, so wirkt sich eine durch Identifikation und Wir Gefühl bedingte positive Wahrnehmung der Handlungskompetenz der eigenen Gruppe („gemeinsam sind wir stark“) gleichzeitig auch positiv auf die wahrgenommene Einsatzbereitschaft des gesamten Schiffs aus. Auch bei der Dienstgradgruppe ist diese Beziehung gegeben. Die dort in Folge eines starken Wir Gefühls internalisierten Werte und Normen („ich bin stolz, ein Marineoffizier zu sein“ oder „Meister (= Portepee-Unteroffiziere) sind das Rückgrat der Marine“) können zu einer besonders engagierten Pflichtausübung und damit zum Erfolg des Schiffes beitragen. Im Gegensatz dazu dürfte sich ein Wir Gefühl, das sich auf die Gruppe der Altgefahrenen, die Neuen an Bord, die Angehörigen des gleichen Geschlechts oder einen Freundeskreis bezieht, kaum oder gar nicht auf die wahrgenommene Einsatzbereitschaft der Besatzung auswirken.
- Hypothese 2a: Ein Wir Gefühl in einer Bezugsgruppe wirkt sich positiv auf die wahrgenommene Einsatzbereitschaft des Schiffes aus.
- Hypothese 2b: Der Einfluss des Wir Gefühls einer Bezugsgruppe auf die wahrgenommene Einsatzbereitschaft des Schiffes wird durch den Beitrag der Bezugsgruppe zum Erfolg des Schiffes moderiert.
2. Methoden
Zur Überprüfung der angeführten Annahme sowie der Hypothesen wurde eine schriftliche Befragung unter 419 Besatzungsmitgliedern zweier Fregatten der Klasse 122 und 123 der Bundesmarine durchgeführt. Der Rücklauf lag mit N = 272 bei 65 %.
Um festzustellen, welche Bezugsgruppe für das jeweilige Besatzungsmitglied chronisch salient ist, das heißt, Primärgruppencharakter besitzt, wurde den Befragten zunächst eine Liste mit 16 potenziellen Bezugsgruppen vorgelegt. Aus dieser Liste war diejenige Gruppe auszuwählen, der sich die Befragten im Hinblick auf ihre bisherige Borddienstzeit am ehesten zugehörig fühlten. Anschliessend wurde das Wir Gefühl in der gewählten Gruppe mittels der von Wombacher, Tagg, Bürgi, et al. entwickelten „Brief Sense of Community Scale - German Version“ (BSCS-G) gemessen [7].
Das Führungsverhalten in den Primärgruppen wurde mittels der von Eckloff und van Quaquebeke entwickelten, 12 Items umfassenden Skala zur Messung respektvoller Führung erfasst [6]. Voraussetzung hierfür war naturgemäss, dass die gewählte Gruppe tatsächlich über einen militärischen Führer oder Vorgesetzten verfügt. Das war bei 177 Befragten der Fall.
Die wahrgenommene Einsatzbereitschaft wurde mithilfe von 5 Items gemessen. Dabei sollten die Befragten an den Eintritt eines Ernstfalls wie Gefecht, Feuer an Bord, Wassereinbruch oder Hilfeleistung für in Seenot geratene Schiffe denken und mittels einer fünfstufigen Likert-Skala unter anderem bewerten, inwieweit auf die Leistung der Besatzung in einem solchen Fall Verlass ist. Ausserdem wurde gefragt, inwieweit sich das Schiff mit vergleichbaren Einheiten anderer Nationen messen lassen und man auf die bisher gezeigten Leistungen der Besatzung stolz sein kann. Sämtliche in der Studie verwendeten Skalen wiesen gute psychometrische Eigenschaften auf (vgl. hierzu [8]).
Tab 2: Zusammenhang zwischen Wir Gefühl und respektvoller Führung nach Gruppen.
3. Ergebnisse
3.1 Überprüfung der Annahme
Tabelle 1 zeigt die Häufigkeitsverteilung der Primärgruppen (N = 272). Mit einem Anteil von 25 % beziehungsweise 23,9 % stellten die Kategorien Abschnitt und Hauptabschnitt für knapp die Hälfte aller Befragten die wichtigsten psychologischen Bezugsgruppen an Bord dar. 11,8 % gaben an, sich primär dem Schiff oder seiner Besatzung zugehörig zu fühlen. Mit 11,4 % folgte die Dienstgradgruppe knapp dahinter. Die übrigen Befragungspersonen fühlten sich anderen Gruppen wie der Wache, den Altgefahrenen oder den Neuen an Bord zugehörig. Darüber hinaus gab ein nicht unerheblicher Anteil von 9,2 % an, sich keiner Gruppe sonderlich zugehörig zu fühlen. Die Ergebnisse erhärten damit die Annahme, dass die Kategorien Hauptabschnitt und Abschnitt psychologisch bedeutsamer sind, das heisst, häufiger aktiviert werden, als die Kategorie Schiff/Besatzung insgesamt.
3.2 Überprüfung der Hypothesen
Hypothese 1 geht von einem positiven Einfluss respektvoller Führung (M = 41,9; SD = 9,6) auf das Wir Gefühl von Untergebenen (M = 28,8; SD = 4,6) aus. Korreliert man die untersuchten Variablen über alle militärisch geführten Gruppen hinweg, zeigt sich erwartungsgemäss ein positiver Zusammenhang (r = 0,32, p < 0,01). Tabelle 2 zeigt die Korrelationsanalyse getrennt nach den jeweiligen Gruppen. Auffällig ist, dass mit zunehmender Gruppengrösse (Wache –> Abschnitt –> Hauptabschnitt –> Schiff) der Zusammenhang zwischen Wir Gefühl und respektvoller Führung abnimmt. Allerdings erweist sich bei einer Unterschiedsprüfung der Fisher-Z transformierten Korrelationskoeffizienten keiner der beobachteten Unterschiede auf dem 5 %-Niveau als statistisch signifikant.
Hypothese 2a postuliert einen positiven Zusammenhang zwischen dem in einer Bezugsgruppe erlebten Wir Gefühl und der wahrgenommenen Einsatzbereitschaft des Schiffes. Betrachtet man den Zusammenhang zunächst über alle Bezugsgruppen hinweg, so ist dieser positiv (r = 0,26, p < 0,01). Er bleibt auch dann bestehen, wenn der Einfluss von respektvoller Führung kontrolliert wird (r = 0,24, p < 0,01). Ein im Sinne der Hypothese 2b differenzierteres Bild ergibt sich, wenn man nach Bezugsgruppen getrennt analysiert (Tab 3). In der Gruppe der Personen, die sich in erster Linie dem Schiff oder der Besatzung zurechnen, korrelieren Wir Gefühl und wahrgenommene Einsatzbereitschaft am stärksten (r = 0,55, p < 0,01), gefolgt von den Kategorien Dienstgradgruppe (r = 0,37, p < 0,05), Hauptabschnitt (r = 0,34, p < 0,01) und Abschnitt (r = 0,32, p < 0,01). Bei den übrigen Gruppen konnten aufgrund des jeweils zu geringen Stichprobenumfangs keine statistisch signifikanten Zusammenhänge ermittelt werden. Hypothese 2b konnte somit nicht geprüft werden.
Tab 3: Zusammenhang zwischen Wir Gefühl und wahrgenommener Einsatzbereitschaft nach Gruppen.
4. Diskussion
Im Mittelpunkt der Studie steht die Frage nach der Entstehung und Bedeutung von Wir Gefühl unter Schiffsbesatzungen. Wie erwartet bilden Hauptabschnitt und Abschnitt die beiden wichtigsten Bezugsgruppen von Wir Gefühl. Sie sind exklusiver und konkreter als die Bezugsgruppe Schiff und werden daher auch häufiger aktiviert.
Bei der Frage der Entstehung von Wir Gefühl zeigt sich, dass Vorgesetzte durch den respektvollen Umgang mit Untergebenen das Wir Gefühl in den von ihnen geführten Gruppen stärken können. Dies beinhaltet unter anderem, die Untergebenen fair zu behandeln, ihre Leistungen anzuerkennen, und sie nicht für Fehler anderer verantwortlich zu machen. Bei näherer Betrachtung zeichnet sich ab, dass der festgestellte Zusammenhang von der Nähe und Größe der jeweiligen Gruppe abhängt. Offenbar ist es den Vorgesetzten kleinerer Gruppen mit überschaubarem Verantwortungsbereich eher möglich, sich mit ihren Untergebenen auseinanderzusetzen und im Sinne respektvoller Führung auf deren Erwartungen, Bedürfnisse und Gefühle einzugehen.
Zwischen Wir Gefühl und wahrgenommener Einsatzbereitschaft besteht, unabhängig vom Ausmass respektvoller Führung, ebenfalls ein positiver Zusammenhang. Allerdings konnte die Frage, ob dieser Zusammenhang je nach Beitrag der betrachteten Bezugsgruppe zum Gesamterfolg des Schiffes variiert, nicht abschliessend beantwortet werden und bedarf weiterer Forschung. Festgestellt werden konnte aber, dass ein vergleichsweise starker Zusammenhang besteht, wenn sich Besatzungsmitglieder primär dem Schiff beziehungsweise der gesamten Besatzung zurechnen. Mit Blick auf Einsatzbereitschaft und Leistung erscheint daher die regelmässige Aktivierung dieser Gruppenzugehörigkeit sinnvoll. Hierzu steht eine Reihe von Massnahmen zur Verfügung, die in der Führungsforschung unter dem Begriff „symbolisches Management“ zusammengefasst sind [9]. Symbolisches Management bezeichnet die Art und Weise, in der militärische Vorgesetzte das Schiff ihren Untergebenen gegenüber darstellen und präsentieren, und dabei dessen besonderen Merkmale und Fähigkeiten hervorheben. Entsprechend können Vorgesetzte die Kategorie Schiff bei ihren Untergebenen dadurch salient machen, dass sie die Besonderheiten des Schiffs hinsichtlich Geschichte, Ausstattung und Bewaffnung gegenüber anderen Schiffen betonen, Leistungen und Erfolge der Besatzung in Manövern und Einsätzen loben, das Schiff metaphorisch als eine Familie bezeichnen, Besatzungsmitglieder mittels eines systematischen Arbeitsplatz- oder Aufgabenwechsels („Jobrotation“) für die wechselseitigen Abhängigkeiten an Bord sensibilisieren, der Besatzung immer wieder Sinn und Notwendigkeit ihrer Aufgaben und deren Einordnung in den Gesamtzusammenhang erklären und Aktivitäten zur gemeinsamen Freizeitgestaltung planen und durchführen.
Gleichzeitig sollten neben der gemeinsamen organisationalen Identität „Schiff“ auch Gruppenidentitäten wie Hauptabschnitts-, Abschnitts- oder Wachzugehörigkeit hervorgehoben und gefestigt werden. Die jeweiligen Vorgesetzten dieser Gruppen können hierzu durch Betonung der besonderen Stellung und Fähigkeiten der Gruppe an Bord sowie durch Schaffung und Pflege eigener Logos, Wappen, Lieder und Rituale beitragen. Auf diese Weise kann dem Bedürfnis des Einzelnen nach einer selbstwertdienlichen Unterscheidbarkeit von anderen Besatzungsmitgliedern Rechnung getragen werden. Nicht zu unterschätzen ist dabei jedoch die Gefahr eines (zu) ausgeprägten Abgrenzungsverhaltens, das eine Diskriminierung der Gruppen untereinander zur Folge haben und damit die organisationale Stabilität des Schiffes beeinträchtigen kann. Um die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten intergruppaler, intraorganisationaler Konflikte zu verringern, muss folglich ein geeigneter Mittelweg zwischen der Aktivierung der alle vereinenden organisationalen Identität „Schiff“ und der Aktivierung der exklusiveren Bezugsgruppenidentitäten gefunden werden.
5. Schlussfolgerungen
Mit der vorliegenden Studie konnten erste Erkenntnisse über die Entstehung und Bedeutung eines Wir Gefühls unter Marinebesatzungen gewonnen werden. Die Autoren hoffen, neben interessanten theoretischen Perspektiven auch genügend praktische Anregungen gegeben zu haben, um die Auseinandersetzung mit diesem Forschungsgegenstand weiter voranzubringen. Interessant wäre unter anderem die Klärung des Zusammenhangs zwischen Wir Gefühl und wahrgenommener Einsatzbereitschaft, wenn die jeweilige Bezugsgruppe keinen erkennbaren Beitrag zum Erfolg des Schiffes leistet, zum Beispiel Altgefahrene, Neue an Bord, Geschlecht oder Freundeskreis. Auch sollte untersucht werden, wie im oben angedeuteten Spannungsfeld multipler organisationaler Identitäten eine angemessene Balance gefunden werden kann zwischen der Aktivierung der alle vereinenden Identität „Schiff“ und der Aktivierung exklusiverer Bezugsgruppenidentitäten. Dabei erscheint es notwendig, nicht nur verschiedene Identifikationsfokusse getrennt voneinander zu erfassen und ihre Korrelate zu untersuchen, sondern auch die Beziehung zwischen den verschiedenen Fokussen hinsichtlich ihrer Kompatibilität und die sich daraus ergebenden Implikationen genauer zu erforschen [10].
* Diese Studie wurde in Zusammenarbeit mit dem Psychologischen Dienst der Bundeswehr durchgeführt und durch die Fachhochschule Nordwestschweiz finanziell unterstützt.
Literaturverzeichnis
- Siebold GL: Key Questions and Challenges to the Standard Model of Military Group Cohesion. Armed Forces & Society 2011; 37: 448-468.
- Laurel WO, Harman J, Hoover E, et al.: A quantitative integration of the military cohesion literature. Military Psychology 2009; 11: 57-83.
- McMillan DW, Chavis DM: Sense of community: A definition and theory. Journal of Community Psychology 1986; 14: 6-23.
- Turner JC, Hogg MA, Oakes PJ, et al.: Rediscovering the social group: A self-categorization theory. Oxford: Basil Blackwell 1987.
- Bundesministerium der Verteidigung (BMVg): Zentrale Dienstvorschrift 10/1: Innere Führung. Bonn 1993.
- Eckloff T, van Quaquebeke N: Entwicklung und Validierung einer Skala zu respektvoller Führung. In: Witte EH (ed.): Sozialpsychologie und Werte. Lengerich: Pabst Science Publishers 2008; 243-275.
- Wombacher J, Tagg S, Bürgi T, et al.: Measuring sense of community in the military: Cross-cultural evidence for the validity of the brief sense of community scale and its underlying theory. Journal of Community Psychology 2010; 38: 671-687.
- Wombacher J, Felfe J: United we are strong: An investigation into sense of community among navy crews. Armed Forces & Society; January 11, 2012, DOI: 10.1177/0095327X11428787
- Ashforth BE, Johnson SA: Which hat to wear? The relative salience of multiple identities in organizational contexts. In: Hogg MA and Terry DJ (eds.): Social identity processes in organizational contexts. E. Sussex: Psychology Press 2001; 39.
- Felfe J: Mitarbeiterbindung. Göttingen: Hogrefe 2008
- Ashforth BE, Johnson SA: Which hat to wear? The relative salience of multiple identities in organizational contexts. In: Hogg MA and Terry DJ (eds.): Social identity processes in organizational contexts. E. Sussex: Psychology Press 2001; 39.
- Felfe J: Mitarbeiterbindung. Göttingen: Hogrefe 2008
Datum: 20.09.2012
Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2012/7