Interoperabilität im Fokus
Aus dem Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr (Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr: Generaloberstabsarzt Dr. M. Tempel)
„Um in zunehmendem Maße als globaler Akteur auf der Weltbühne anerkannt zu werden, muss die Europäische Union eine klare politische Richtung für ihre Ambitionen und Verpflichtungen festlegen. „... Der >Krieg gegen den Terror< und die Entwicklungen seit den Ereignissen des 11. September 2001 haben die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die Tatsache gelenkt, dass Sicherheit einen globalen Charakter hat, dass Instabilität in fernen Regionen verheerende Auswirkungen auf den Straßen europäischer Großstädte haben kann...“ [1].
Javier Solana präsentierte bereits 2007 in Madrid mit diesen Worten einen Vorschlag zur Förderung der menschlichen Sicherheit, welcher von der Human Security Study Group und stellte damit die Verantwortung aller Verbündeten klar heraus. 2016 sind diese Worte relevanter denn je. Kein Partner in NATO (North Atlantic Treaty Organization) oder EU (Europäische Union) kann die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen allein bewältigen. Auch der Sanitätsdienst der Bundeswehr steht vor der Aufgabe, Ressourcen bei stetig steigenden Anforderungen effizient auszuplanen und einzusetzen. Langjährig etablierte, neu initiierte aber auch reanimierte bi- und multinationale Beziehungen tragen wesentlich zur Auftragserfüllung bei. Um jederzeit weltweit hohe Qualitätsstandards bei der Versorgung unserer Patienten gewährleisten zu können, ist das Bestreben zur Optimierung der Interoperabilität essentiell geworden.
Redundanzen vermeiden – Interoperabilität steigern
Waren seit der Gründung der Bundeswehr bis in die 1990er Jahre Einsätze der Sanitätstruppe hauptsächlich von humanitärem Charakter, zum Beispiel nach Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen, änderte sich diese Vorgehensweise aufgrund der besonderen bündnispolitischen und asymmetrischen Herausforderungen drastisch. Seit 1992 folgten Einsätze der Bundeswehr und somit auch der beteiligten sanitätsdienstlichen Komponenten mit deutlichem Anstieg der „robusten Mandate“. Auch für den Sanitätsdienst bedeutete diese Entwicklung, dass die Einsatzrealität völlig neu bewertet, Ausrüstung und Ausbildungen angepasst werden mussten. Auf dieser Grundlage entschied der Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, Admiraloberstabsarzt Dr. Ocker 2006, dass die sanitätsdienstliche Versorgung der Eingreifkräfte der NATO (NATO Response Force), EU (EU Battlegroup) und UN (United Nations), an die sicherheitspolitischen Veränderungen anzupassen sind und somit eine Restrukturierung erforderlich wird. Sicherheitspolitische Instrumente, wie bilaterale und multinationale Kooperationen sind daher heute unerlässlich, um abgestimmte und durchhaltefähige Konzepte zu realisieren und die breitgefächerten bündnispolitischen Aufträge, Missionen und Ziele erfolgreich zu erfüllen.
Personal des Sanitätsdienstes der Bundeswehr trägt dazu durch Gremienarbeit im Bereich der NATO, EU und UN wesentlich zur hohen Qualität der sanitätsdienstlicher Versorgung in den verschiedenen Einsätzen, bzw. einsatzgleichen Verpflichtungen, bei. Entscheidend für die Umsetzung dieser Ziele ist es, eine „einheitliche Sprache“ zu sprechen. Hierzu bilden Tagungen des „Committee of the Chiefs of Military Medical Services in NATO“ (COMEDS) eine ideale Kommunikationsplattform. Es gilt die vielfältigen nationalen Anforderungen zu multinational akzeptierten Konzepten und Vereinbarungen zu harmonisieren und diese gegenüber dem „Military Committee“ der NATO zu vertreten. Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, übernimmt deutsches Sanitätspersonal nicht nur engagiert in verschiedenen multinationalen Arbeitsgruppen Verantwortung, sondern nimmt darüber hinaus regelmäßig an
internationalen Lehrgängen und Übungen des renommierten NATO Centre of Excellence for Military Medicine (MilMedCOE) teil. Wichtige Grundlagenarbeit leisten in diesem Zusammenhang beispielsweise die Mitglieder der Military Medical Structures, Operations and Procedures Working Group (MMSOP WG). Um in den verschiedenen multinationalen Arbeitsgruppen, Unterarbeitsgruppen und Expert Panels fachlich auf höchstem Niveau konferieren zu können, müssen Eckpfeiler unter Beachtung übergeordneter Anforderungen fachübergreifend definiert sowie ständig aktualisiert werden. Besonders diffizil zeigt sich dabei der multidimensionale Spagat zwischen nationalen Entscheidungen und den Erfordernissen der Bündnispolitik, wie die Erfüllung der Vorgaben des NATO Defence Planning Process (NDPP) [2] unter Beachtung des Readiness Action Plans (NATO‘s RAP) [3]. Zusätzliche zu harmonisierende Ebenen bilden die „Pooling & Sharing“ Projekte der EU oder Ziele des von Deutschland initiierten langfristig angelegten Framework Nations Concepts (FNC) [4].Der Sanitätsdienst der Bundeswehr – international anerkannter Partner
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr hat sich jedoch nicht nur aufgrund der ambitionierten Arbeit in den verschiedenen Gremien von NATO, EU und UN einen hohen Stellenwert im Internationalen Gefüge erarbeitet. Aufgrund der hohen Leistungsfähigkeit in den unterschiedlichen Einsatzszenaren, seien es maritime oder landgebundene Herausforderungen, hat sich der Sanitätsdienst der Bundeswehr international bewährt und wird als Vorreiter und starker Anlehnpartner anerkannt. Auf der Basis der 1993 von Generaloberstabsarzt Dr. Gunter Desch erlassenen „Fachlichen Leitlinie zur sanitätsdienstlichen Versorgung von Verbänden der Bundeswehr außerhalb der Bundesrepublik Deutschland“ [5] stellt sanitätsdienstliches Personal bei Auslandseinsätzen im Ergebnis den Standard der Versorgung sicher, der auch innerhalb Deutschlands unter anderen Bedingungen erreicht würde. Die anvertrauten Patienten anderer Nationen haben Kenntnis von der hohen Qualität der Versorgung. Nicht zuletzt bedeutet dies auch eine moralische Stärkung der Truppe. Logische Folge ist das große Interesse ausländischer Partner an den Strukturen, der Organisation sowie an strategischen und operationellen Grundlagen des Sanitätsdienstes der Bundeswehr.
Im Vorwort des neuen Weissbuchs [6] schreibt Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, dass es aufgrund der Vielzahl der Herausforderungen notwendig ist, Partner durch eine Palette von Maßnahmen dazu zu befähigen, Krisen und Konflikte eigenständig zu lösen. Für den Sanitätsdienst der Bundeswehr bedeutet dies, unter Wahrung der sicherheitspolitischen Vorgaben des Verteidigungsministeriums, die Klaviatur der möglichen Instrumente so zu bedienen, dass einerseits klar formulierte sanitätsdienstliche Interessen gewahrt werden, andererseits die Vorstellungen und Wünsche der interessenbekundenden Partner im Sinne guter Diplomatie zu priorisieren und umzusetzen.
Außerhalb der Kooperationsarbeit im Bereich der NATO, EU und UN ermöglicht der Sanitätsdienst der Bundeswehr beispielsweise seit vielen Dekaden Partnern, eigenes sanitätsdienstliches Personal in Deutschland fortzubilden. Im Rahmen der Militärischen Ausbildungshilfe (MAH) können Ärzte aller Approbationsrichtungen, Pharmazeuten sowie ärztliches Assistenzpersonal an sanitätsdienstlichen Einrichtungen Erfahrungen sammeln. Hauptsächlich werden diese Maßnahmen an den Bundeswehrkrankenhäusern realisiert. Stimmen die berufsständischen Erfordernisse und das fachliche Können der Teilnehmer, können approbierte Ärzte mit temporärer Berufserlaubnis als vollintegrierte Teammitglieder eigenverantwortlich arbeiten. Die Kandidaten lernen dabei neben fachlichen Aspekten Sprache und Kultur kennen, aber auch die Grundsätze der inneren Führung. Nicht selten bekleiden ehemalige MAH-Teilnehmer in ihrem Heimatland bedeutende Positionen, erkennen die Wichtigkeit und verfolgen essentielle bi- oder multilaterale Beziehungen auch lange nach der Fortbildung in Deutschland weiter.Was bringt die Zukunft?
Die Kooperationen mit Partnerstaaten der Nordatlantischen Allianz, welche „Anker und zentraler Handlungsrahmen deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ ist, haben auch für den Sanitätsdienst der Bundeswehr hohe Priorität. Dabei übernimmt die Bundesrepublik Deutschland als Rahmennation zur Stärkung des „europäischen Pfeilers in der NATO“ [6] besondere Verantwortung.
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr leistet diesbezüglich einen wertvollen Beitrag als Framework Nation und zeichnet für das Cluster Medical Support des Framework Nations Concepts (FNC) verantwortlich. Konkret koordiniert der Sanitätsdienst ambitioniert die Bemühungen der am Cluster beteiligten NATO-Nationen, erreicht dadurch stabile Beziehungen der Partner und forciert durch effiziente Kräftestrukturen den Abbau von Fähigkeitslücken.Weiterer Ausdruck des vernetzten Ansatzes der Bundeswehr ist das deutsche Engagement für die Streitkräfteintegration und -verflechtung in Europa. Dem Bedarfsträger (TSK/MilOrg-Bereiche) folgend, besteht immer eine Herausforderung für den Sanitätsdienst bei der Umsetzung bi- oder multinationaler integrativer Vorhaben, wie gemeinsame Übungen, Verbände (z. B. DEU-FRA Brigade, stehende maritime Verbände) oder der Beteiligung an multinationalen Kommandostrukturen sowie der Beteiligung mit Personal, Material, „Command and Control“ (z. B. EU- bzw. NATO-Hauptquartiere, European Air Transport Command, NRF, Very High Readiness Joint Task Force-VJTF, Larger Formations). Langfristig angelegte, zuverlässige Partnerschaften stehen daher folglich für den Sanitätsdienst der Bundeswehr gerade aufgrund der aktuellen politischen Entwicklung im Fokus. Trotzdem wird es auch zukünftig notwendig sein, kurz- und mittelfristige angelegte Initiativen zu fördern. Vor dem Hintergrund der aktuellen gemeinsamen Anstrengungen der NATO an der Ostgrenze des Bündnisses, ist die TACET-Initiative sichtbarer Ausdruck dieser Notwendigkeit.
Die „Transatlantic Capability Enhancement and Training Initative“ ist ein deutsch-amerikanisches Format, mit welchem die Verteidigungsfähigkeit baltischen Staaten rasch gestärkt und diese zum Zusammenwirken befähigt werden sollen. Nach der Initiierung haben sich elf weitere Nationen bereit erklärt, beim Aufbau erforderlicher Fähigkeiten zu unterstützen.Etablierte Partnerschaften
Besonders hervorzuheben sind die etablierten Partnerschaften mit Frankreich, den Niederlanden, den in Europa stationierten Teilen der US-Army,
Österreich und Israel. Deutsche Verbindungsoffiziere in Frankreich und den USA bilden starke und effiziente Kommunikationspunkte zu den Sanitätsdiensten der Partner. Aufgrund der breitgefächerten Expertise des Sanitätsdienstes der Bundeswehr ist jedoch eine Fokussierung auf einige wenige Partner nicht zielführend. Die Anzahl der verschiedenen Kooperationspartner des Sanitätsdienstes ist daher entsprechend hoch. Um einerseits den Interessen der Partnerstaaten nachzukommen und andererseits das eigene sanitätsdienstliche Interesse zu decken und somit letztlich den Willen des Inspekteurs umzusetzen, beteiligt sich der Sanitätsdienst der Bundeswehr aktiv an Maßnahmen des Bilateralen Jahresprogramms (JP). Als ein weiteres Instrument der Sicherheitspolitik ermöglichen die gegenseitigen Besuche fachlichen Erfahrungsaustausch sowie die enge Bindung wertvoller Partner jenseits der Bündnisse von NATO und EU.So wie alle Bereiche der Bundeswehr in der heutigen Zeit hoch flexibel agieren müssen, gilt dies auch für den Sanitätsdienst der Bundeswehr. Bei der Behandlung eines Patienten ist es obligat synoptische, bzw. interdisziplinäre, individuell angepasste Behandlungskonzepte zu erarbeiten. Gespiegelt auf die Internationale Zusammenarbeit des Sanitätsdienstes der Bundeswehr ist es ebenso unerlässlich alle Möglichkeiten zur Auftragserfüllung nebeneinandergestellt zu beleuchten, alle verfügbaren Instrumente möglichst ohne Redundanzen effizient zu nutzen und vor allem die multidimensionalen Zusammenhänge der Sicherheitspolitik zu verstehen. Diesbezüglich soll nicht unerwähnt bleiben, dass zur Bewältigung der besonderen aktuellen und zukünftigen Herausforderungen nationale Kooperationen ebenso essentiell sind. Die vom Auswärtigen Amt geführten Militärischen Beratergruppen beispielsweise, welche auf dem afrikanischen Kontinent eine partnerschaftsorientierte Supervisorfunktion wahrnehmen, kommunizieren häufig den Bedarf
an Plätzen der MAH, bzw. initiieren erste Kontakte für Expertengespräche, welche sodann im Rahmen des JP realisiert werden können. Auch das zivile Gesundheitssystem und zivile Institutionen müssen zur Bewältigung humanitärer Krisen einbezogen werden (z. B. EBOLA-Krise, Tsunami-Katastrophe in Indonesien).Die Bundeswehr hat sich in den letzten 60 Jahren umstrukturiert, transformiert und immer wieder neu an die Bedürfnisse der Zeit angepasst - so auch der Sanitätsdienst. Doch die Bedeutung internationaler Beziehungen bleibt über alle Dekaden hinweg von hoher Bedeutung. Sei es aus diplomatischen Beweggründen oder zur effizienten Bündelung der Kräfte. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr trägt einen entscheidenden Teil, unter Nutzung der Instrumente der Sicherheitspolitik und unter Wahrung der übergeordneten Vorgaben, bei.
Anschrift der Verfasserin:
Flottillenarzt Dr. Christiane Reinke
Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr
Von-Kuhl-Straße 50, 56070 Koblenz
E-Mail: christianereinke@bundeswehr.org
Datum: 18.01.2017
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2016/4