Die Bedeutung der interdisziplinären Notfallaufnahme für -Ausbildung und Kompetenzerhalt von medizinischem Personal am Beispiel des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg
Aus der Abteilung X (Leitender Arzt: Oberstarzt Dr. G. Hölldobler) des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg (Chefarzt: Generalarzt Dr. J. Hoitz)
Raik Schäfer
WMM 59. Jahrgang (Ausgabe 11/2015; S. 356-359)
Zusammenfassung
Bei der Aus- und Weiterbildung sowie dem Kompetenzerhalt von medizinischem Personal der Bundeswehr leistet eine Zentrale Interdisziplinäre Notfall-Aufnahme (ZINA) auf Grund des großen und heterogenen Patientenkollektives einen besonderen Beitrag. Bei konsequenter Strukturierung und Supervision der jungen Ärzte in den Notaufnahmen ist es möglich, eine breite, fachlich fundierte und an den Einsatzbedürfnissen der Bundeswehr orientierte Qualifikation zu ermöglichen.
Dazu kommen moderne Elemente, wie Spezialkurse, Simulations- und Teamtraining sowie Mentoring, zum Einsatz. Die Ausbildung erstreckt sich dabei auch auf die Berufsgruppen der administrativ und pflegerisch tätigen Soldaten. Entwicklung und Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung werden am Beispiel der ZINA des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg vorgestellt.
Stichworte: Notaufnahme, Ausbildung, Weiterbildung, Interdisziplinarität, Curriculum, Qualifikation
Keywords: emergency department, training, interdisciplinartiy, clinical curriculum, qualification
Einleitung
Im Unterschied zu einem Krankenhaus eines kommunalen, konfessionellen oder privaten Trägers kommen einem Bundeswehrkrankenhaus (BwKrhs), neben der regulären Versorgung von Patienten, in besonderem Maße Aufgaben der Aus- und Weiterbildung sowie des Kompetenzerhalts von ärztlichem, pflegerischem und administrativem Personal zu. Dabei schafft die durch den Einsatzauftrag des BwKrhs bedingte Sonderstellung die Möglichkeit zur Konzentration auf eben diesen Aus- und Weiterbildungsauftrag. Die Ausrichtung eines BwKrhs ist nicht in erster Linie auf eine hocheffiziente Wirtschaftlichkeit und Maximierung von Erlösen fokussiert. Vielmehr sollen Soldaten medizinisch-fachlich so exzellent und einsatznah wie möglich ausgebildet werden. Diesem Ziel werden die Aspekte der reinen Wirtschaftlichkeit oder gar des Profits untergeordnet. Selbst universitäre Einrichtungen der Krankenversorgung sind nicht in vergleichbarem Maße frei von ökonomischen Zwängen. Unter diesen Voraussetzungen unternehmen die BwKrhs enorme Anstrengungen, dem besonderen Ausbildungsauftrag gerecht zu werden.
Entgegen der landläufigen Annahme großer Teile der Bevölkerung werden in BwKrhs nicht nur Soldaten behandelt. Tatsächlich macht der Anteil der Soldaten am gesamten Patientenaufkommen eines BwKrhs derzeit nur noch maximal 30 % aus. Will man aber militärmedizinisches Personal umfassend und auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft aus- und weiterbilden sowie seine Kompetenz umfänglich erhalten, muss der Zugang zu zivilen Patienten aller Altersgruppen gewährleistet sein. Spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten zur Versorgung einsatzrelevanter Verletzungen und Erkrankungen werden ergänzend durch Verwendungen der Soldaten in Auslandseinsätzen der Bundeswehr und durch die Versorgung von verwundeten Soldaten internationaler Bündnispartner in den BwKrhs erworben. Dazu müssen diese Krankenhäuser dem aktuellen Stand der medizinischen Kenntnisse, Fertigkeiten und Ausstattungen eines modernen und funktionalen Krankenhauses entsprechen. Aus dieser Konstellation ergibt sich die besondere Stellung und Aufgabe der BwKrhs in Deutschland.Erfahrungen
Entwicklung der ZINA
Das BwKrhs Hamburg hat im Jahre 2013 den ersten Abschnitt eines hoch modernen Krankenhausneubaus in Betrieb genommen. Zu den Betriebseinheiten des Neubaus gehört unter anderem die ZINA (Abbildung 1). Während noch in den neunziger Jahren in Deutschland fast jede Fachabteilung eine Art eigene Notfallambulanz betrieb, folgten bald Kooperationen „verwandter“ Disziplinen in zentralisierten Aufnahmen. Dies erleichterte den Zu- und Selbsteinweisern die zeitaufwändige und damit mitunter „lebensgefährliche“ Suche nach dem geeigneten Fachspezialisten.
Zentrale Notfallaufnahmen können die Odyssee eines Notfallpatienten demnach deutlich verkürzen, wenn sie nicht nur räumlich, sondern auch fachlich-organisatorisch wahre Zentralisierungen aufweisen. Das Thema Interdisziplinarität bedeutet dabei im idealen Fall nicht das bloße Nebeneinander spezialisierter Fachdisziplinen (Multidisziplinarität), sondern viel mehr das Überwinden fachlicher Grenzen durch sektorübergreifende Zusammenarbeit und gelebte Vernetzung. Erst dann werden aus „zentralen“ auch „interdisziplinäre“ Notfallaufnahmen.
Gerade angesichts immer weiter ansteigender Zahlen an Patientenkontakten in unseren Notaufnahmen (2014 waren in den Not-aufnahmen bundesweit schätzungsweise 20 Millionen Patien-tenkontakte zu verzeichnen, das ist ein Viertel der Gesamtbevölkerung!) braucht es dringend Konzepte, um angepasst, sinnvoll und insbesondere patienten- und erkrankungsorientiert vorgehen zu können. Auch die ZINA des BwKrhs Hamburg verzeichnet kontinuierlich ansteigende Patientenzahlen (Abbildung 2). Leider sieht der Alltag in vielen deutschen Notaufnahmen oft noch anders aus. Eine spezielle fachliche Qualifikation aller an der Versorgung Beteiligten – von der Administration über die Triagierung, Diagnostik, Therapie und Entscheidungsfindung - bildet meist noch die Ausnahme.
Dabei spielt gerade die ZINA einer Klinik eine herausragende Rolle bei der Akquise potenziell einer stationären Behandlung bedürfender Patienten, wie die Statistik des Jahres 2014 für das BwKrhs Hamburg zeigt (Abbildung 3).
Eine ZINA wird meist als Visitenkarte des Krankenhauses angesehen, zeigt sich doch gerade hier, wie viel Wert die Krankenhausleitung auf optimale Betriebsabläufe legt. Wenn sich der Notfallpatient (und auch der begleitende Angehörige) bei der Bearbeitung seines Notfalls gut aufgehoben fühlt, kommt er sicherlich auch gern im Falle einer notwendigen stationären Behandlung im gleichen Haus wieder.
Andererseits ist es für Soldaten im Sanitätsdienst der Bundeswehr von besonderer Bedeutung, schnell und zielsicher mit bestmöglichem fachlichen Hintergrund Notfallpatienten einstufen, diagnostizieren und behandeln zu können, entscheidet dies auch und besonders im Einsatz über das Schicksal des Patienten.
Eine ZINA muss zunehmend Aufgaben von Hausärzten und Notfallpraxen übernehmen, da Patienten zumeist lieber direkt Krankenhäuser aufsuchen. Neben diesen Selbsteinweisungen ist eine ZINA auch für ungeplante dringliche Behandlungen erster Anlaufpunkt, welche durch Krankentransporte zugeführt werden. (Abbildung 4). Das eigentlich notfallmedizinisch relevante Klientel wird durch Rettungswagen und durch notarztbegleitete Rettungsmittel eingewiesen, wobei vital bedrohliche Fälle nur etwa 5 - 10 % des gesamten Patientenaufkommens ausmachen. Die Aufgabe der ZINA besteht hier in der Fortsetzung der durch den Notarzt eingeleiteten Therapie unter Überprüfung und Erhärtung der Arbeitsdiagnose, bis eine Zuordnung zu einem (hauptverantwortlichen) Fachgebiet erfolgt ist. Hierzu braucht es demzufolge breit ausgebildete Ärzte, die den grundsätzlichen, generellen Diagnostik- und Therapieansatz stringent verfolgen können. Genau genommen stellt dies die Fortsetzung des „Notfalltunnels“ unter nun klinischen Bedingungen dar.Personal der ZINA
Ein Blick in die Notaufnahmen der Krankenhäuser zeigt, dass die ärztliche Besetzung noch nicht überall den aktuellen Erfordernissen entspricht. Oft sind es junge Assistenzärzte mit noch geringer Berufserfahrung, die den ärztlichen Erstkontakt abdecken müssen (Abbildung 5). Ohne enge Supervision und ohne hausangepasste standardisierte Abläufe, welche auf den Empfehlungen der Fachgesellschaften basieren und in Form von Standard Operating Procedures (SOP) bereitgestellt werden, kann wertvolle Zeit verloren gehen. Die individuellen Ausbildungsziele des jeweiligen Assistenzarztes sowie deren Einordnung in sein fachliches Weiterbildungscurriculum setzen dem längerfristigen Einsatz in der ZINA enge Grenzen. Somit können Erfahrungen und Kenntnisse meist nur in Intervallen vermittelt werden. Bei einer hohen Fluktuation der ärztlichen Mitarbeiter der ZINA, mit zusätzlicher Beanspruchung in der „Heimatabteilung“ durch Dienste und anderes, treten Kontinuität und Erfahrungsreifung oft in den Hintergrund. Verfügt die ZINA nicht über einen Stamm an ständig vor Ort vertretenen (Fach-)Ärzten, wird es schwer, einen angemessen hohen fach-lichen Versorgungsstandard und erst recht ein permanentes -Teaching aufrecht zu erhalten. Diesen veränderten Bedingungen und Anforderungen muss im Rahmen der Weiterentwicklung der Krankenhäuser Rechnung getragen werden.
Der Ruf nach Etablierung einer eigenen Fachlichkeit für Ärzte in Notaufnahmen, wie dies nicht nur international erprobt, sondern bereits durch die Landesärztekammer Berlin in Form einer Zusatzweiterbildung umgesetzt wurde, wird lauter. Unabhängig davon, wie immer auch die Bezeichnung dafür lauten wird – über alle Fach-gesellschaften hinweg eint das Wissen um die Notwendigkeit einer hochqualitativen notfallmedizinischen Versorgung in unseren Notaufnahmen. Die Bundesärztekammer arbeitet derzeit an einer Novellierung der Musterweiterbildungsordnung (MWBO). Dabei soll auch die Weiterbildung und Qualifikation von Ärzten, die in den Notfallaufnahmen Deutschlands arbeiten, neu und genauer geregelt werden. Grundlage dafür ist zum Beispiel das europäische Weiterbildungscurriculum der European Society for Emergency Medicine (EuSEM). Bis zur Fertigstellung der MWBO empfiehlt sich die Nutzung des Weiterbildungsprogrammes der Landesärztekammer Berlin (http://www.aerztekammer-berlin.de/10arzt/15_Weiterbildung/11Logbuecher/Zusatz-Weiterbildungen/Uebersicht_LB_Notfallmedizin/index.html). Wie in anderen fachlichen Weiterbildungen bewährt, werden interessierte Ärzte logbuchgestützt durch verschiedene Weiterbildungsmodule geführt. Seit diesem Jahr ist die Absolvierung der Prüfung zum europäischen Facharzt für Notfallmedizin auch in Deutschland möglich.
Weiterbildung der Sanitätsstabsoffiziere
Sanitätsstabsoffiziere (Arzt) der Bundeswehr durchlaufen während der Weiterbildung in ihren jeweiligen Fachgebieten unterschiedlich lange Anteile in den Notaufnahmen der BwKrhs. Bereits im sogenannten ersten klinischen Abschnitt werden sie häufig als Arzt der Notaufnahme (AvN) eingesetzt. An ihrer Seite haben sie einen internistischen (IvN) und einen chirurgischen Assistenzarzt (CvN). Alle drei können bei Bedarf ihren fachärztlichen Dienst hinzuziehen. Bevor sie in der ZINA eingesetzt werden können, durchlaufen alle eine Einarbeitungsphase von etwa zwei Wochen, in der sie mit bereits erfahrenem Personal „mitlaufen“. Die Strukturierung dieser Einarbeitungsphase ist ein erstes wichtiges Anliegen, um frühzeitig die betriebsorganisatorischen Abläufe und fachlichen Entscheidungsbäume verstehen und anwenden zu können. SOP auf dem aktuellsten wissenschaftlichen Stand der Empfehlungen der jeweiligen Fachgesellschaften, mit Anpassung auf die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten des Hauses sowie nach Abstimmung mit den beteiligten Fachvertretern, leisten einen wichtigen Beitrag bei der Vermittlung einer fachlich korrekten Herangehensweise.
Erstmals in diesem Jahr hat das BwKrhs Hamburg einen Einführungskurs für junge Ärzte in Vorbereitung auf die Arbeit in der ZINA durchgeführt („Start-ED“[2]). Unter der Anleitung ebenfalls junger, aber bereits erfahrener ZINA-Ärzte wurden in fünf Tagen praktisches Wissen, Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt. Einfache „Kochrezepte“ erwiesen sich als genau so hilfreich, wie grundlegende Tipps zum „Überleben des Nachtdienstes“. Der Kurs richtete sich in erster Linie an die Sanitätsstabsoffiziere des 1. klinischen Abschnittes, bot jedoch auch noch sehr viel Praktisches für die etwas Älteren. Die interaktiven Lektionen, praktischen Workshops und zahlreichen „Hands on“-Praktika, flankiert von einem exzellenten Teilnehmer-Tutorenverhältnis, garantierten den Lernerfolg. Eine Wiederholung dieser erfolgreichen Maßnahme oder vielleicht die regelmäßige Einbindung in den Jahresausbildungskalender werden derzeit geprüft.
Während der Ausbildungszeit in der ZINA müssen die Sanitätsoffiziere auch die Möglichkeit haben, im Rahmen von ATLSâ[3]- und ALSâ[4]-Kursen ihre Kenntnisse und Fertigkeiten bei der strukturierten, prioritätenorientierten Schockraumversorgung traumatisierter oder erkrankter Patienten zu erweitern. (Abbildung 7). Zusätzlich werden derzeit spezialisierte Simulationsmodule erprobt, in denen das erworbene Wissen regelmäßig trainiert und erweitert werden soll. Dabei ist neben dem interdisziplinärem auch und gerade der interprofessionelle Ansatz von besonderer Bedeutung. Nur im funktionierenden und eingespielten Team können die komplexen Herausforderungen bei der Schockraumversorgung unter hohem zeitlichem Druck gemeistert werden. So ist es unabdingbar, dass bei der Qualifizierung und Weiterbildung des ZINA-Personals auch die Pflege und die Administration eingebunden werden. Triage- und Schockraumkurse für das Pflegepersonal (z. B. ATCNâ[5]) sind eine wichtige Ergänzung zum Teamtraining bei der Simulation. Das BwKrhs Hamburg kann dazu auf die hervorragende Expertise und Erfahrung des Simulationslabors der eigenen Klinik zurückgreifen. Derzeit entwickeln wir gemeinsam neue Simulations- und Trainingsmodule für die ZINA. Neben fachlichen Aspekten stehen dabei besonders die Kommunikation und Organisation sowie das Konflikt- und Qualitätsmanagement im Fokus.
In einer Fortbildungsreihe wird die ZINA beginnend nach dem Sommer über eigene Fallbeispiele berichten und zur interaktiven problemorientierten Herangehensweise einladen („Der besondere Fall – Wie hätten Sie entschieden?“). Bereits etablierte Fortbildungen, wie beispielsweise M & M[6]-Konferenzen, Defusing, Debriefing und CIRS®[7]-Konferenzen ergänzen das Angebot.
Weiterführende Literaturhinweise beim Verfasser.
Kernaussagen / Fazit
- Eine ZINA ist die Visitenkarte eines Krankenhauses und trägt zur Akquise stationärer Behandlungsfälle bei.
- Die ZINA eines BwKrhs bietet hervorragende Möglichkeiten für die einsatz- und verwendungsrelevante Ausbildung von Sanitätspersonal aller medizinischen Berufsgruppen.
- Die Sicherstellung der erforderlichen Versorgungs- und Ausbildungsqualität erfordert die Verfügbarkeit von erfahrenem ärztlichen und pflegerischen Personal in der ZINA; auch aus forensischen Gründen ist der Facharztstandard für die Tätigkeit in einer ZINA gefordert.
- Ein Einführungskurs vor dem ersten Einsatz sollte Sanitätsstabsoffiziere auf ihre Tätigkeit in der ZINA vorbereiten.
- Die zunehmenden Bedeutung der ZINA muss zwingend in den zukünftigen Strukturen der BwKrhs personell und materiell berücksichtigt werden.
Bildquelle: Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
[1]
BAT = Beweglicher Arzttrupp
[2]
„Start-ED“ ist ein Notfallmedizinkurs für Einsteiger; ED steht für „Emergency Doctors“; Kursformat und weitere Informationen finden sich auf www.notfallmedizinkurs.de
[3] ATLSâ = Advanced Trauma Life Support
[4] ALSâ = Advanced Life Support
[5] ATNCâ = Advanced Trauma Nursing Course
[6] M & M = Morbidität und Mortalität
[7]
CIRS® = Critical Incident Reporting System; anonymisiertes Meldesystem zu kritischen Ereignissen in der Medizin
Datum: 13.01.2016
Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2015/11