02.01.2012 •

BAT KUNDUZ – EINE ANDERE SICHTWEISE DES EINSATZES

Ich möchte in diesem Artikel eine ganz persönliche Sichtweise zum Thema „Auslandseinsatz“ darstellen. Wenn Sie es zulassen, teile ich meine Eindrücke aus meinem ersten Auslandseinsatz, einem 2- monatigen Einsatz als Arzt auf einem „beweglichen Arzttrupp“ in Kunduz, mit Ihnen.

Ich habe keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es geht nicht um harte Fakten, vielmehr möchte ich zum Nachdenken anregen. Welche Überlegungen können einen Menschen in der Entscheidungsfindung für oder gegen den Einsatz begleiten, was gibt einem Menschen Kraft, an einem fremden Ort unter widrigen Umständen durchzuhalten? Kann der Einsatz auch positive Einflüsse auf das weitere Leben haben? Diese und ähnliche Gedanken haben mich vor dem Einsatz, während des Einsatzes sowie auch nach dem Einsatz beschäftigt und sollen in diesem Artikel im Mittelpunkt stehen.

JA, ich will… (als Arzt bei der Bundeswehr arbeiten)

Ein vielbesprochenes, aktuelles Thema, das tägliche Geschäft in der Truppenarztsprechstunde stellt der Auslandseinsatz dar. Gehen oder nicht Gehen? Wohin? Wie lange? Die Gespräche über optimale oder zumindest annehmbare Optionen werden schon im Vorfeld mit dem jeweiligen Disziplinarvorgesetzten geführt. Nachdem die Entscheidung zum Einsatz gefallen ist, geht es beim Truppenarzt um die Beurteilung der gesundheitlichen Aspekte, die Seele und Körper gleichermaßen betreffen. Jeder BA 90/5 (Belegart 90/5-Anforderung zur gesundheitlichen Untersuchung) wird von mir in der Form bearbeitet, dass sich der Soldat neben der körperlichen Untersuchung und Befragung nochmal aussprechen darf. Für mich wichtige Fragen sind: Fühlen Sie sich gut vorbereitet? Sind die familiären Umstände geklärt? Gibt es etwas, was Ihnen Sorgen macht, wo ich noch Unterstützung anbieten kann?!

Diese Art der Vorgehensweise hat sich bei mir erst nach dem Einsatz Anfang des Jahres etabliert. Natürlich habe ich mir auch vorher schon Gedanken um die Soldaten gemacht, die ich nach der Untersuchung auslands- und tropendiensttauglich geschrieben habe. Das richtige Auseinandersetzen mit dem Thema und der Tragweite einiger Entscheidungen entwickelte sich erst nach den eigenen gemachten Erfahrungen. Der Auslandseinsatz, in welchem Land auch immer, war für mich gleichgesetzt mit der Option, zeitlich und räumlich von „zu Hause“, von der Familie entfernt zu sein.

Die Bedrohungslage war aus den Einsatzberichten und anderen BW-(Bundeswehr) Informationsquellen zu entnehmen, Zahlen und Prozente, die auf dem Bildschirm gelesen einen anderen Stellenwert haben und nicht zu vergleichen sind mit Gefühlen und Empfindungen, die sich während des Einsatzes einstellen. Der Einsatz hatte etwas Befremdliches, war mit unangenehmen Gefühlen, Umstellung und Entbehrung assoziiert. Auch für mich war die Vorstellung, in den Einsatz gehen zu müssen, schwierig. Die fremden Orte, ungewohnte Bedingungen, fremde Menschen und Sprachen waren mit Unwohlsein behaftet. Ich bin am 01.07.2009 bei der Bundeswehr zunächst als SaZ 1 (Soldat auf Zeit für 1 Jahr) eingestiegen. Mir fehlten noch 6 Monate Weiterbildung für die Vervollständigung meines Facharztes für Allgemeinmedizin; die Option, als Soldat ärztlich zu arbeiten, hatte für mich zunächst einen interessanten, neuen Aspekt.

Mit der Zeit hat sich dieser Aspekt inhaltlich gefüllt. Ich habe verschiedene Soldaten kennengelernt, die ihren Beruf verschieden gelebt und ausgeführt haben. Für mich als Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund (wie es so schön heißt) war im Elternhaus das Thema Militär nie etwas Großes, wenn es aber Thema war, war es stets mit Tugenden wie Ehre, Ehrlichkeit, Mut, Aufopferung und Disziplin verbunden. Jede türkische Familie ist stolz auf ihre Angehörigen beim Militär. Soldaten werden respektiert, da sie unter Zurückstellung der eigenen Bedürfnisse dem Staat, den Menschen, die in diesem leben, wie auch dem Schutz ihrer Interessen und Wertvorstellungen dienen.

Die Entscheidung, bei der Bundeswehr zu arbeiten, war unter diesem Hintergrund heraus geprägt eine positive. Auch die Entscheidung, nach Ablauf des SaZ 1 weiter als Soldat ärztlich zu arbeiten und auf SaZ 4 zu verlängern, ist mir nicht schwer gefallen. Freunde, Bekannte, Kameraden haben mich oft gefragt, ob ich es mir auch gut überlegt habe, immer und immer wieder. JA, ich hatte mir das gut überlegt, immer wieder im Gespräch mit Menschen, die mich kennen, die mir nahe stehen, wurde dieses Thema erörtert. Aber da war noch die Sache mit dem Einsatz …

Ja, auch das hatte ich mir gut überlegt. Als Mutter einer damals 2-jährigen Tochter waren die Einsatzplanung und die Auswirkungen auf meine Familie die wichtigsten Gedanken, die ich hatte und haben musste.

Die Entscheidung für den Auslandseinsatz in Afghanistan

Ich hatte mir einen Zeitplan zurechtgelegt und auch den Entschluss, einen Einsatz in absehbarer Zeit zu besetzen, gefasst. Während eines Termins bei unserem Kommandeur Regionale Sanitätseinrichtungen im Sanitätskommando I in Kiel wurden die wesentlichen Aspekte bezüglich der Einsatzplanung erörtert und von beiden Seiten wohlwollend umgesetzt. Ich war dankbar für die Option, den Einsatz splitten zu dürfen, da ich zuvor noch nie so lange von meiner Tochter getrennt war. Die Entscheidung, aus dem vorgeschlagenen Einsatz im Kosovo einen Einsatz in Afghanistan zu machen, ist dann aber nach längerer Überlegung entstanden. Meine primäre Überlegung war, die getrennte Zeit und Abwesenheit von meiner Familie (insbesondere von meiner Tochter) so sinnvoll wie möglich zu gestalten.

Ich wusste, dass Kunduz, verbunden mit einem BAT-Posten, unter den Sanitätsoffizieren nicht die erste Wahl für den Wunscheinsatz war. Ich dachte ganz pragmatisch; ich war noch nicht im Einsatz, kenne kein Lagerleben, bin auch noch nicht lange Soldat, aber habe dafür andere Vorteile, die mir „in die Wiege“ gelegt worden sind. Ich kenne die Lebensbedingungen im Osten, das sehr einfache Leben auf dem Land und dachte, schlimmer kann es im Lager auch nicht sein. Als Ausländer (bis zur Einbürgerung 2006) weiß ich, dass Menschen oft Vorurteile und mehr oder weniger berechtigte Ängste vor dem Fremden, Unbekannten haben. Ich habe weniger Ängste gegenüber Unbekanntem, gegenüber neuen Menschen, auf die ich treffe, da ich dieses Gefühl kenne, „anders“ zu sein. Aufeinander zugehen, freundlich sein und sich austauschen führt meist zum Erfolg.

Ich kenne und lebe die Religion (Islam) und kann mich in einigen Gegenden in Afghanistan in meiner ersten Muttersprache verständigen. Ich kenne die gesellschaftlich-kulturellen Verhaltensweisen im Umgang mit muslimischen Frauen und Männern. Meine Facharztausbildung war abgeschlossen, in der Medizin sowie im Umgang mit Patienten war ich nicht ganz unbefleckt. Ich überlegte, wog ab, hatte meiner Meinung nach in gewisser Weise auch eindeutige Vorteile zu verbuchen und entschied mich für den Einsatz in Afghanistan.

Die Einsatzvorbereitung als Chance nutzen

Die Bedenken, die meine Vorgesetzten und Bekannte hatten, waren berechtigt. Ich bin dankbar, dass immer wieder die bestehende Gefahr im Einsatzland zum Gesprächsthema gemacht wurde, da ich dadurch die Vorausbildung und Einsatzvorbereitung mit ganz anderen Augen gesehen habe. Ich musste alles Neue mitnehmen und schnell lernen, da ich nicht wusste, was ich wann und wo brauchen würde. Ich hatte den Anspruch an mich selbst, die anderen Kameraden mit meinen Defiziten nicht mehr als nötig zu belasten. Insgesamt habe ich einen lange geplanten Vorbereitungsmarathon für den bevorstehenden Einsatz durchlaufen. Es ist mir vieles nicht leicht gefallen, es ergaben sich zunächst nicht einkalkulierte Schwierigkeiten. Die HIBA (Hindernisbahn), für viele ein Begriff aus der Grundausbildung, wurde für mich während der Einsatzvorbereitung erstmals mit Leben gefüllt.

Die innere Kraft, sich zu konzentrieren, um Ängste zu überwinden und sich was zu trauen, durfte ich beim Abseilen in Mittenwald beim „Retten und Bergen“ üben. Das Bedienen des Esbit-Kochers wie auch das Lernen von taktischen Zeichen und richtige Funksprache waren weitere neue Erkenntnisse in meinem Leben. Sicherlich sind das einfache Inhalte und Handgriffe, aber es ist ganz sicher ein Unterschied, mit welcher Intention diese angenommen werden oder auch nicht. Einiges ist in jungen Jahren, weil es im Rahmen der allgemeinen Grundausbildung gelehrt wird, einfacher anzunehmen. Ab einem gewissen Alter und der damit verbundenen Lebenserfahrung werden viele Sachen hinterfragt, was die Situation für Lehrenden sowie auch Lernenden nicht gerade erleichtert. Ich wollte wissen, was es ausmacht, ein „richtiger“ Soldat (wenn auch „nur“ im Sanitätsdienst) zu sein, da ich immer der „Seiteneinsteiger“ war. Froh war ich, dass meine medizinisch- fachlichen Kenntnisse nicht in Frage gestellt wurden. Trotzdem habe ich gesehen, dass die medizinische Versorgung im Feld eine andere ist, als ich sie aus dem zivilen Rettungsdienst kannte. Die wesentlichen Inhalte über die Versorgung von Notfallpatienten auf dem Feld bekam ich in einem sehr guten und umfangreichen BAT-Kurs in Hamburg vermittelt.

Letzte Zweifel beseitigen

Die Vorbereitungen wurden vervollständigt, die Abreise rückte langsam in greifbare Nähe. Hiermit auch die Tatsache, dass die Nerven empfindlicher wurden. Die Angst, nicht wieder zurückzukehren und das Gefühl, dann meine Tochter „allein“ lassen zu müssen, übermannte mich an manchen Tagen. Gespräche mit meinem Mann, mit Freunden und immer wieder die Konzentration auf die primäre Grundüberlegung, die mich zu diesem Einsatz bewegte, halfen mir klar zu denken. Der Gedanke, sinnvolle Arbeit zu leisten, eine Verantwortung zu übernehmen, nicht nur an sich selbst denken; dem Land, in dem ich seit der Geburt lebe, welches mir eine Heimat in all den Jahren geworden ist, auch etwas zurückzugeben, gab mir Kraft, führte als roter Faden in meinem Denken.

Gehört es nicht zu der besagten Kameradschaft, von der mir in den letzten zwei Jahren viele Soldaten immer wieder erzählten und vorschwärmten, die Kameraden auch im Einsatz zu begleiten und zu versorgen? Dies sollte doch primär mein Einsatzvorhaben sein. Für unsere Soldaten da sein, unterstützen und zusammenhalten in guten wie in schlechten Tagen, ob hier oder in der Fremde, so wurde es mir erzählt. Oder ist es gar nicht so mit der Kameradschaft, ist sie begrenzt auf angenehme Gelegenheiten, wie das gemeinsame Feiern, und hat sich eine Situation entwickelt, in der jeder erst einmal nach sich selber schaut und unangenehmen Umständen ausweicht. Welche Intentionen bewegen uns denn nun, sich für den Auslandseinsatz zu entscheiden? Ist es ein Zeichen der Stärke oder der Schwäche oder gar ein Zeichen der Unwissenheit und des Leichtsinns, sich freiwillig für einen Einsatz zu entscheiden? Ist es vielleicht primär der Auslandszuschlag, der einen Soldaten bewegt?

Sind es doch keine so tiefgründigen Gedanken, wie angenommen wird? Kann Menschenleben, das Risiko zu sterben, mit Geld aufgewogen werden? Ach ja, natürlich ist es auch das Geld, das uns bewegt, auch mich hat es bewegt. Ich wollte die zwei Monate durchhalten und nicht aufgeben, zumal ich wusste, dass das Mädcheninternat (in dem ich Patenschaften unterstütze) in Burkino Faso (Afrika) für den Ausbau der Schlafräume Geld braucht. Ich bin in mich gegangen und habe über das Gebet eine Abmachung mit Gott/Allah gemacht. Ich musste gesund aus dem Einsatz zurückkehren, um das Versprechen (den Auslandsverwendungszuschlag an das Mädcheninternat zu spenden) einzulösen. Diese Überlegung hat mir eine unheimliche mentale Stärke gegeben, hat mir in meinem Einsatz viel geholfen. Ich möchte noch einmal betonen, dass das sehr persönliche Gedanken sind. Ich respektiere jede Meinung und Einstellung, auch die, sich gegen den Einsatz zu entscheiden! Als Arzt weiß ich, dass Gemüter unterschiedlich sind, nicht jede Familiensituation kann die lange Abwesenheit von Angehörigen verkraften. Ich helfe niemandem, wenn ich gleichzeitig eine desolate Situation zu Hause erzeuge.

Die Zeit in Kunduz:

Freude und Leid Die Abfahrt zu Hause, der Abflug aus Köln- Wahn wie auch die Ankunft in Kunduz über die bekannten Zwischenstopps war nicht anders als bei meinen Kameraden. Gemischte Gefühle, Unsicherheit, Müdigkeit, Anspannung und auch Erwartungen begleiteten mich während der Überfahrt wie auch die ersten Tage in Kunduz. Eine sehr schnelle Materialübergabe von meinem Vorgänger (er ist am folgenden Tag meiner Ankunft bereits ausgeflogen), gefolgt von dem Kennenlernen des Lagers, Erledigung von Formalitäten füllten die ersten Tage aus. Mein Kommandant vom Transportpanzer Typ Fuchs hat mich an die Hand genommen und mir in Eigenregie vieles gezeigt und erklärt.

Schnell habe ich in den abendlichen Lagen gesehen, dass die BAT´s (Bewegliche Arzttrupps) im Wesentlichen drei Arbeitsbereiche abdecken mussten: die Begleitung von Patrouillen, Verbringungen zum einen, dann die IRF (Immediate Reaction Force)-Bereitschaft sowie den Lagerdienst. Zunächst war alles neu und aufregend. Ich war verwundert über so viele „Einheimische“, die im Lager in verschiedenen Bereichen beschäftigt waren, nach kurzer Zeit war es „Alltag“. Obwohl es Winter war, waren die Temperaturen milder, als ich erwartet hatte. Die Luft war schwerer, als ich gewohnt war, brannte an manchen Tagen richtig in den Augen. An den andauernden Lärmpegel tagsüber und auch nachts musste ich mich doch sehr gewöhnen.

Mehrere Tage hintereinander hatte ich IRFBereitschaft, es ist nichts passiert. Das Tetrapol Tag und Nacht, in jeder Situation am Mann zu haben, immer erreichbar sein zu müssen, hat mich anfangs belastet. Die Tage im Lager waren zum großen Teil strukturiert; zwischendurch gab es Möglichkeiten, den Kollegen in der Klinik über die Schulter zu schauen und auch zu helfen. Die ersten Alarmierungen während der IRF-Bereitschaft waren anspannend, da niemand genau wusste, welche Situation einen erwartet. Ich bin immer wieder im Kopf die Handlungsabläufe durchgegangen, was mache ich, wenn das oder jenes passiert, so dass auch in Stresssituationen eben alles funktioniert, vor allem ich selbst.

Auch das Herausfahren aus dem Lager war die ersten Male ebenfalls mit Stress verbunden, da ich mich doch schnell an eine gewisse Sicherheit im Lager gewöhnt hatte. Die wenigen Male, in denen wir alarmiert wurden und herausgefahren sind, waren zum Glück kleinere Situationen, oftmals nur mit Materialschäden verbunden (Abb. 1).

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Abb. 1: PHQ in der Nähe von Kunduz

Aufgelockert wurden die IRF-Dienste durch ein paar Tagesfahrten in benachbarte PHQ´s (afgh. Polizeihauptquartiere). Während dieser Fahrten habe ich oftmals Dörfer, Städte, Land und Leute gesehen. Ich hatte schon einiges im Vorfeld gehört und gesehen, aber „live“ vor Ort war es etwas anderes. Es war nicht immer mit einem guten Gefühl verbunden, vor allem wenn die Kollegen von den benachbarten BAT´s vom Auffahren auf IED´s (engl.: Improved Explosive Device, unkonventionelle Sprengvorrichtung) und Unfällen etc. berichteten. Im PHQ hatte ich auch erstmals richtigen Kontakt als Arzt zu den Einheimischen. Durch Übersetzer überall vor Ort gab es kaum Probleme in der Verständigung. Einen Migrationshintergrund als positive Eigenschaft zu bewerten, habe ich ehrlich gesagt erst sehr spät zu schätzen gelernt.

In Afghanistan habe ich eben mit diesem Migrationshintergrund eindeutig positive, wertvolle Erfahrungen gemacht. Die Tatsache, als Frau medizinisch zu versorgen und damit auch bei der einheimischen männlichen Bevölkerung Akzeptanz zu finden, ergab für mich keine Schwierigkeiten. Ich wurde zu jeder Zeit freundlich behandelt, begrüßt und respektiert (Abb. 2) und (Abb. 3). Die kleinen Besuche in der Klinik waren insgesamt sehr bewegend, da der Kontakt enger als sonst zur einheimischen Bevölkerung war. Von einer älteren Dame, die als Großmutter ein kleines, mit heißem Wasser verbrühtes Mädchen in die Klinik begleitete, habe ich nach dem dritten Besuch am Krankenbett einen kleinen silbernen Ring geschenkt bekommen. Als ich ihn nicht annehmen wollte, deutete sie an, dass sie wisse, dass der Ring dreckig und alt sei, aber er sei ihr Verlobungsring, was anderes Wertvolles besitze sie nicht. Ich könnte ihn ja nochmal waschen, deutete sie an, dies hat mich sehr in Verlegenheit gebracht und ich nahm ihren Ring dankend an.

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Abb. 2: Eindrücke von der Straße

Ich sollte erwähnen, dass wir bei allen drei Besuchen keinen Übersetzer dabei hatten. Ich spreche kein Wort Dari, und die Dame sprach kein Wort einer anderen mir bekannten Sprache. Ich hatte ihre Enkeltochter nicht gerettet, operiert oder betreut, ich hatte nur versucht, ihr Hoffnung zu geben und Mut zuzusprechen. Die heile Welt, die angenommene Sicherheit, die ich im Lager fühlte, hatte nur kurzen Bestand, als ich durch das Ereignis am 18. Februar 2011 schnell in die harte Realität geholt wurde.

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Abb. 3: Kontakte mit der Zivilbevölkerung

 

Wir haben an diesem Tag die schwerverletzten Kameraden vom Kunduz-Helipad (Hubschrauberlandeplatz) in die Klinik im Lager gefahren. Ich war beim ersten Anblick der Verletzten kurzfristig wie gelähmt. Es war so ganz anders als in der Vorausbildung, als wir präparierte Übungsverletzte versorgen sollten. Nun hatte ich in der notärztlichen Tätigkeit auch schon einige Schwerverletzte gesehen, aber dieses Gefühl damals vor Ort kann ich schlecht beschreiben und auch nicht in der Vorausbildung üben. Das professionelle Arbeiten des Rettungspersonals und der Einsatzkräfte, die schon Erfahrung hatten, halfen mir, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren.

Die Klinik wurde hochgefahren, jeder Bereich kannte seine Aufgaben und arbeitete diese in Ruhe soweit möglich ab. Ich war sehr beeindruckt und vergaß, dass ich mich nicht im Krankenhaus in Deutschland, sondern eben in Kunduz im Lager befand. Nach diesem Ereignis passierte mir etwas, von dem ich nicht angenommen hatte, dass es mich treffen würde. Ich hatte unangenehme, mir neue Gefühle entwickelt, die sich in Misstrauen und Enttäuschung gegenüber der einheimischen Bevölkerung äußerten. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob der Sprachmittler wirklich so nett war, wie er tat. War unsere Mühe für dieses Land und die Menschen vielleicht doch umsonst?

Ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren; genau das, was durch diesen Anschlag bewirkt werden sollte, hatte bei mir schon angefangen zu wirken. Gespräche mit einsatzerfahrenen Kameraden und Kollegen halfen mir, diese Situation zu verstehen und zu verarbeiten. Die Klinik wurde während meines Aufenthaltes in Kunduz noch einige Male hochgefahren, Schwerverletzte wurden versorgt, ich hatte aber gelernt, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Die Tage vergingen, der März hatte angefangen, das war ein schönes Gefühl, im März sollte es wieder nach Hause gehen.

Unser BAT bekam den Auftrag, für einige Tage in ein kleineres Lager nach Taloqan zu fahren. Taloqan hat mir in den letzten Tagen im Einsatzland noch sehr positive Erlebnisse beschert. Die zu betreuende Anzahl an Soldaten war überschaubar, der Kontakt zu Einheimischen, die in verschiedenen Bereichen eingesetzt waren, war sehr nett. Meine persönlich schönste Erfahrung während dieses Aufenthaltes war die Einladung zum Weltfrauentag am 8. März 2011. Diese großangelegte Feier in der „Wedding hall“ (Veranstaltungssaal) deckte mir ein buntes Bild über die sonst so im Hintergrund verbleibende Welt der afghanischen Frauen und ihren mutigen Aktivitäten auf. Kommunale Politiker/Innen, Presse und Fernsehsen der waren vor Ort. Unser Major ließ mich an diesem Tag die Ansprache im Namen von ISAF halten. Die Ansprache beinhaltete u.a. Passagen aus dem Koran, die die Ausbildung und Lehre der Frau unterstützen und preisen. Ich war aufgeregt, war geehrt und habe mich gefreut, die kleinen Fortschritte in verschiedenen Ansprachen und Vorführungen dieser hoffnungsvollen Menschen zu sehen (Abb. 4). Der Folgetag war im Gegensatz zum Vortag erneut mit einem kleinen „mentalen Tief“ verbunden. Der 9. März 2011 war der 4. Geburtstag meiner Tochter, den sie nun ohne mich feiern musste. Nach Ablauf unserer Zeit in Taloqan sollte es insgesamt sehr schnell gehen. Beim Abendbrot in Kunduz sagte der Einsatzoffizier, dass ich die Möglichkeit hätte, am Folgetag nach Mazar-e-Sharif vorzushutteln, ob ich das alles mit dem Material schaffen würde. Ohne viel zu überlegen sagte ich ja. Nun verstand ich auch, warum das mit der Materialübergabe nicht immer wie geplant ablief. Ich verstand, dass vermutlich jeder die Möglichkeit einer früheren Abreise in Anspruch nehmen würde.

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Abb. 4: Ansprache am Weltfrauentag in Taloqan

In einem straffen Tempo wurde gepackt, das Material übergeben und die Abreise konnte angetreten werden. So groß die Vorfreude auf meine Familie war, es waren auch gemischte Gefühle da. Das Mitgefühl für die neu eingetroffenen Kameraden, der kommende Sommer, damit verbunden die Sorge, dass Einigen etwas passieren könnte und sie die Heimreise nicht antreten können. Am Folgetag flog ich nach Mazar-e-Sharif, wo ich zwei Tage Zeit hatte, ohne einen speziellen Auftrag nochmal meine Gedanken zu sortieren und auf die Abreise nach Deutschland wartete. Der Abflug sowie die Ankunft in Köln-Wahn verliefen wie geplant. Meine Familie konnte mich an der Haustür empfangen, so wie sie mich verabschiedet hatte.

Wieder zu Hause ankommen

Ich war nur zwei Monate im Einsatz, habe aber unbewusst im Nachhinein fast genauso lange gebraucht, um wirklich zu Hause wieder anzukommen.

Abschließend möchte ich mich für all die Unterstützung in Form von Gesten, guten Wünschen, Gebeten und Gesprächen bedanken, die ich von Kameraden, Vorgesetzten, meiner Familie sowie Freunden vor dem Einsatz, während des Einsatzes und auch nach diesem erhalten habe. Ich habe gesehen, dass sich trotz umfassender Planung dennoch Schwierigkeiten ergeben haben, die ich nicht einkalkulieren konnte. Es kostet ganz viel persönliche Entbehrung, in den Einsatz zu gehen. Wie wichtig und nicht selbstverständlich all die kleinen Freiheiten sind, die wir haben und uns nehmen, sehen wir erst im Einsatz, wenn wir sie entbehren müssen. Geduld, ganz viel Geduld mit mir selbst, und im Umgang mit anderen Menschen habe ich während des Einsatzes geübt und gelernt. Sich zusammenreißen, sich zurücknehmen, auch wenn es schwerfällt, und Verantwortung zu übernehmen, diese Last mit dem Bewusstsein zu tragen, dass andere Menschen bei unsachgemäßem Umgang zu Schaden kommen können, sieht und lernt man im Einsatz.

Ein ärztlicher Kollege fragte mich kurz vor dem Einsatz: „Sag mal, bist Du verrückt, Soldat aus Leidenschaft oder brauchst Du das Geld, warum sonst geht man freiwillig in den Einsatz?“ Sicherlich ist von allem etwas bei dem einen oder anderen dabei. Ich möchte meinen persönlichen Katalog der verschiedenen Gründe ergänzen durch meinen Anspruch, Verantwortung für die Gesellschaft sowie für meinen Beruf zu übernehmen. Ergänzen durch die Liebe zum Leben und zu Menschen sowie dem Bewusstsein, dass jeder noch so schwierige Weg zum gewünschten Ziel mit dem ersten Schritt begonnen wird. Ich muss mich nur für die Richtung entscheiden.

Datum: 02.01.2012

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2011/4

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