24.10.2016 •

Der Menschlichkeit verpflichtet

Im Spannungsfeld zwischen der klinischen Maximalversorgung und der Damage Control Surgery in Insellagen

Aus der Abteilung CJMed (Abteilungsleiter: Oberstarzt Dr. M. Neuhoff) des TAAC N (Kommandeur: Brigadegeneral H. Renk), Afghanistan, Mazar e Sharif, Mai 2016

R. Carsjens

Das Konzept des militärischen Engagements in Afghanistan hat sich beginnend im Jahre 2013 bis hin zum neuen Mandat Resolute Support seit dem 1. Januar 2015 verändert. Wurden afghanische Sicherheitskräfte noch bis Ende 2014 auf Bataillonsebene beraten und ausgebildet, konzentriert sich die NATO geführte Mission nunmehr auf die Korpsebene und höher. Damit einhergehend reduzierte sich neben der Aufgabe der Provincional Reconstruction Teams (PRT) FEYZABAD (FEY) und KUNDUZ (KDZ) auch die Begleitung von Patrouillen durch Kräfte des ZSanDstBw erheblich.

Die ursprüngliche Planung der Aufgabe des deutschen Standortes Mazar e Sharif (Planungsanhalt bis ca. Mitte 2015) hatte deutliche Personal- und Materialreduzierungen zur Folge (Abb. 1). Beratung und Ausbildung (Train Advise Assist [TAA]) fand im Norden Afghanistans nur noch am Hauptquartier des 209th ANA Corps in Camp Shaheen, dem Regional Media Information Centre (RMIC), dem Operational Coordination Centre Regional (OCCR) sowie den Polizei - Hauptquartieren der Afghan Border Police (ABP), der Afghan National Civil Order Police (ANCOP) und der Afghan Uniformed Police (AUP) statt. Zwei neue Polizeihauptquartiere, das 707 Police Zone Headquarters (PZHQ) in MeS und 808 Police Zone Headquarters in KDZ wurden in 2015 etabliert. Sie teilen den Norden in zwei Verantwortlichkeiten und fassen organisatorisch die Säulen der
 Polizei zusammen.


Nach den Angriffen der Taliban auf KDZ im September und Oktober 2015 und dem zeitweisen Fall der strategisch wichtigen Provinzhauptstadt etablierte 

Photo
Abb. 1: TAAC N.
das 209th ANA Corps in KDZ ein Forward Commanding Element (FCE) und bezeichnete dieses als 20th Division.

Mit Etablierung dieser 20th Division, dem 808 PZHQ in KDZ sowie der Sorge um einen erneuten Verlust Kunduz‘ wurde der Auftrag des TAAC N um expeditionary Train Advice Assist (eTAA) auf den Raum Kunduz ausgeweitet. Der Personalumfang inklusive notwendiger Sicherungskräfte wurde von deutscher Seite um ca. 150 Soldatinnen und Soldaten erhöht.

Für den Sanitätsdienst stellte sich nunmehr erneut die Herausforderung, die sanitätsdienstliche Versorgung in einer Insellage außerhalb des geforderten Medevac Radius‘ sicherstellen zu müssen. Die vorgegebenen Zeitlinien der sanitätsdienstlichen Versorgung (vgl. Abbildung 2), unter dem Schlagwort der „Golden Hour“ subsummiert, konnten auch durch luftgestützte Rettungsmittel nicht sichergestellt werden.

Zeitlinien der medizinischen Versorgung
Gem. AJP 4.10 B[1] sind für die Planung des sanitätsdienstlichen Konzeptes die in der Abbildung dargestellten Zeitlinien bindend und gemäß Vorgabe Kommandeur Resolute Support „Kill-Kriterium“ in der Operationsplanung (Abb. 2).

Im Fall Kunduz liegt die durchschnittliche Flugzeit mit den zur Verfügung stehenden Luftrettungsmitteln (CH – 53) bei ca. 55 Minuten addiert man die 30 Minuten Notice to Move Zeit (NTM), wäre der Patient in frühestens zwei Stunden und 20 Minuten nach Verwundung oder Verletzung in der Role 2E in MeS.

Risikoanalyse, Personnel at Risk

Wie bereits oben beschrieben umfasst der Ausbildungsauftrag des TAAC N seit Anfang 2016 auch Einheiten der Afghanischen Sicherheitskräfte in Kunduz.

Südwestlich des KDZ Airport liegt das Camp Pamir, KDZ und darin das FCE 20th Div, 209 Korps. Innerhalb dieser Liegenschaft wurde ein sogenannter Safe Haven[2] eingerichtet. Dieser wird von einer Forceprotection-Einheit des TAAC N gesichert und gemeinsam mit sogenannten Force Enablern[3] betrieben. Er stellt die temporäre Heimat der Advisor, ihrer Sprachmittler und Guardian Angel (persönliche Sicherungskräfte) dar. Die eigentliche Arbeit der Advisor, das sogenannte advisory, findet im Hauptquartier der „Division“ statt.

Ranghohe Polizeioffiziere treffen „ihre“ Advisor ebenfalls im Camp Pamir, so dass kein Soldat des TAAC N das Camp Pamir verlassen muss.

Eine potentielle Gefährdung stellen somit Steilfeuerangriffe oder Angriffe durch Innentäter, sogenannte „green on blue“ Übergriffe, dar.

Insgesamt befinden sich ca. 80 Soldaten des TAAC N in dem Safe Haven.

Auftrag und Lösungsansatz

Der Auftrag der sanitätsdienstlichen Versorgung, nicht nur nach unserem Leitbild oder unserer Maxime des Sanitätsdienstes, sondern unter zwingender Einhaltung der Vorgaben der AJP 4.10B, war mit eigenen Kräften und Mitteln des TAAC N nicht zu erfüllen.

Mit der CH-53 MedEvac steht in MeS lediglich nur noch ein Luftrettungsmittel zur Verfügung, welches, wie bereits oben erörtert, die kritischen Zeitlinien nicht halten kann.

Der Zug bewegliche Kräfte (bwglKr) der Sanitätseinsatzkompanie (SanEinsKp) MeS verfügt ausschließlich über BAT und RettTrp. Eine Möglichkeit zur notfallchirurgischen Versorgung in einer mobilen Einrichtung besteht nicht.

Bereits in den Jahren 2013/2014 wurde durch die damaligen Kontingente des SanEinsVbd ISAF eine alternative Aufbauvariante des Luftlanderettungszentrums, leicht ISAF (DCS-U ISAF) (Abb. 3) entwickelt und gemeinsam mit dem Kdo SES eine mandatsbezogene Genehmigung zur Nutzung durch BAAIN Bw erwirkt. Diese Einrichtung bot in zwei Zelten die Möglichkeit zur Damage Control Surgery, um so die Transportfähigkeit von Verwundeten und Verletzten wieder herzustellen oder zu sichern und somit die lebensrettenden Zeitlinien zu treffen.

Fast zwei Jahre nach Rückverlegung nach Deutschland wurde diese alternative Aufbauvariante erneut aktiviert und dem Kdo SES der Auftrag zur Verlegung nach MeS erteilt.

Der SanDst des TAAC N ist nunmehr in der Lage, zeitlich befristet mit modernstem Equipment Verwundete/Verletzte so notfallchirurgisch zu behandeln, dass sich ein verzögerter Transport in eine Behandlungseinrichtung der Ebene 2E (MeS) oder Ebene 3 (Bagram) nicht negativ auf Überleben oder Genesung auswirkt.

Erneut wurde seitens BAAINBw eine beschränkte Genehmigung zur Nutzung des Luftlanderettungszentrums, leicht, alternative Aufbauvariante DCS-Unit RS erteilt. Materiell setzt sich die DCS-U aus Teilen des Rüstungsprojektes LSE (z. B. Zelte, Klimageräte und Stromerzeuger) sowie Neuerungen aus dem Rüstungsprojekt Luftlanderettungszentrum, Spezialeinsatz (LLRZ, SpezEins) zusammen (z. B. Behandlungstisch, Beleuchtung, Packgefäße und ausgewähltes Sanitätsmaterial) (Abb. 4).

Die DCS-U stellt somit sowohl von den abgebildeten Fähigkeiten zur Damage Control Surgery (DCS) als auch von den Anforderungen an die Transportumfänge und Luftverlegbarkeit mit Hubschraubern eine „Vorstufe“ des in der Entwicklung befindlichen LLRZ, SpezEins dar. Mit Einführung des Systems LLRZ, SpezEins ist eine weitere Reduzierung der Transportumfänge und der benötigten Zeit bis zur Arbeitsbereitschaft aber auch weiter modernisierte Technik zu erwarten, die es dem verantwortlichen sanitätsdienstlichen Führer ermöglicht temporär Lücken in der Rettungskette zu schließen und die Vorgaben der AJP zu erfüllen.

Herausforderungen an den medizinischen Leiter

Grundsätzlich findet das eingeteilte Ärzteteam alles erforderliche Equipment, welches für eine DCS bzw. die erste Versorgung eines Schwerstverletzten notwendig ist. Da der Einsatz jedoch immer abgesetzt von einer größeren Role 2 oder 3 Einrichtung stattfindet, ist die wesentliche zu beantwortende Frage immer: Ist diese chirurgische Intervention wirklich zwingend erforderlich? Oder ist das Risiko eines verzögerten Transportes im Ergebnis der Behandlung irrelevant und somit einzugehen? Der zweite Schritt ist das richtige Timing der Verwundetenversorgung und der Planung des entlastenden Verwundetentransportes (TacEvac).

In der DCS – U stehen keine postoperativen „Halteplätze“ zur Verfügung. Somit blockiert ein behandelter Patient einen Arbeitsplatz. Nur mit einem zeitlich gut abgestimmten und präzise getimten TacEvac kann dieser möglichst schnell wieder genutzt werden.

An das behandelnde Team (Abb. 5) wird also nicht nur die Anforderung an ein möglichst breites notfallmedizinisches und einsatzchirurgisches Spektrum gestellt, sondern auch die Fähigkeit zur Einschätzung über Behandlungsnotwendigkeit und Behandlungsdauer.

Zusammenfassung

Mit der DCS-U stellt der Sanitätsdienst dem militärischen Führer ein Element der medizinischen Versorgung zur Verfügung, das richtig in der Rettungskette platziert den Einsatz von Kräften außerhalb des „Stundenradius“ um den Stationierungsort von Forward AirMedEvac Mitteln sanitätsdienstlich absichern kann. Es ist ein Manöverelement dessen Weiterentwicklung durch das Rüstungsprojekt LLRZ SpezEins konsequent verfolgt wird.

Da sich im aktuellen Fall das klinische Personal in einer Bereitschaftszeit von fünf Tagen in Deutschland befindet, ist realistisch nicht mit einer Einsatzbereitschaft im Einsatzland vor Ablauf des achten oder neunten Tages zu rechnen. Die Lage in KDZ kann jedoch jederzeit den kurzfristigen Aufwuchs zur vollen Einsatzbereitschaft der DCS-U erfordern. Hieraus folgt, dass der zeitlich begrenzte Einsatz von vor Ort befindlichem Personal der SanEinsKp MeS an einem anderen Ort als Mazar e Sharif notwendig und befohlen werden kann. Aus diesem Grund müssen die Soldaten und Soldatinnen der beiden Operationsgruppen der Role 2E MeS bereits vor ihrer Verlegung nach MeS auf diese besondere Situation vorbereitet werden und sich damit auseinandersetzen[4] (Abb. 6).

Die DCS-U – als Schritt auf dem Weg zu LLRZ SpezEins – ist ein hochmobiles, luft-, land- und seegestützt zu verbringendes sanitätsdienstliches Manöverelement mit der Fähigkeit zur Damage Control Surgery und ist bezogen auf Personalkörper, Größe und Gewicht die derzeit kleinste notfallchirurgische Behandlungseinrichtung des ZSanDstBw. z

Bilder: R. Carsjens/M. Heckel

Anschrift des Verfassers:
Hauptmann Rainer Carsjens
Kdo SES
Evenburg Kaserne
Papenburger Straße 82
26789 Leer

E-Mail: rainercarsjens@bundeswehr.org



[1]Allied Joint Publication 4.10B, Ausgabe Mai 2015.

[2]Safe Haven = extra gesicherter Bereich, Rückzugsmöglichkeit in einem Compound.

[3]Force Enabler: i.d.R. Logistik, Führungsunterstützung, Sanitätsdienst.

[4]Vergleiche hierzu auch: Oberstarzt Prof. Dr. C. Willy u. 0a. „Strukturierung und Evaluation der chirurgischen Weiterbildung...“, Wehrmedizinische Monatsschrift, 59. Jahrgang Heft 8, Seite 236ff

 


Datum: 24.10.2016

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