Hintergrund
Die Dekontamination im Kontext der zivil-militärischen Zusammenarbeit ist ein zentraler Aspekt im Umgang mit chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen (CBRN) Gefahren. In solchen Szenarien arbeiten zivile Organisationen wie Feuerwehr, Katastrophenschutz und medizinische Dienste im Rahmen des Zivilschutzes eng mit militärischen Einheiten zusammen, um die Dekontamination betroffener Personen, Ausrüstung und Gebiete durchzuführen. Das Hauptziel der Dekontamination besteht darin, kontaminierte Menschen, Materialien und Infrastruktur von gefährlichen Stoffen zu befreien, um eine Ausbreitung der Kontamination zu verhindern und die Sicherheit der betroffenen Personen und Einsatzkräfte zu gewährleisten. Katastrophen wie der Sarin-Gasanschlag in Tokio 1995, die Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011 sowie chemische Unfälle in Industrieanlagen sind Beispiele für CBRN-Gefahren (chemische, biologische, radiologische, nukleare Gefahren).
Idealerweise sollte die Dekontamination der Patienten vor der medizinischen Behandlung erfolgen. Jedoch gibt es Ausnahmen, wie lebensrettende Sofortmaßnahmen, die bei lebensbedrohlichen Zuständen unverzichtbar sind, etwa das Sichern der Atemwege oder das Stoppen von Blutungen. Das Anlegen der notwendigen Schutzausrüstung erfordert allerdings Zeit, und auch der Aufbau einer Dekontaminationseinheit dauert mindestens 30 Minuten. Daher ist es umso wichtiger, dass lebensrettende Maßnahmen schnell und sicher beherrscht werden. Eine weitere Herausforderung in solchen Situationen ist die große Zahl an Verletzten, die rasch beurteilt und behandelt werden müssen.
Es ist anzunehmen, dass ein erhöhter Zustrom von Patienten zu den Dekontaminationseinrichtungen erfolgt. Bis zur Dekontamination kann sich der klinische Zustand eines zunächst stabilen Patienten rasch verschlechtern. Szenarien wie verschüttete Patienten mit schweren Weichteilverletzungen oder Amputationen, bei denen nach der technischen Rettung lebensgefährliche Blutungen auftreten, könnten eintreten. Dabei könnten Maßnahmen erforderlich werden, die über die üblichen lebensrettenden Sofortmaßnahmen hinausgehen. Allerdings ist die medizinische Versorgung auf das Ausbildungsniveau der verfügbaren Helfer beschränkt.
Wie in vielen anderen Ländern stützt sich auch der Zivilschutz in Deutschland weitgehend auf das Prinzip ehrenamtlicher Helfer mit unterschiedlicher medizinischer Qualifikation. Ein Problem besteht darin, dass hochqualifizierte Helfer, sowohl Ärzte als auch nicht-ärztliches Fachpersonal, im Zivilschutz eine Mangelressource sind, da diese in der Regel hauptberuflich im Rettungsdienst oder in Krankenhäusern tätig sind oder anderweitig gebraucht werden. Die im Zivilschutz vorgesehenen Ärzte müssten im Ernstfall aus den Versorgungseinrichtungen rekrutiert werden, wo jedoch gleichzeitig mit einem erhöhten Patientenaufkommen zu rechnen ist. Zudem herrscht bereits heute ein Mangel an Ärzten, der sich in den kommenden Jahren voraussichtlich verschärfen wird.
Eine mögliche Lösung könnte der Einsatz von Telemedizin sein. Diese wird seit vielen Jahren im Rettungsdienst erfolgreich eingesetzt1. Mit der entsprechenden technischen Ausrüstung ist eine Übertragung von Vitaldaten in Echtzeit sowie die audiovisuelle Kommunikation mit einem Telenotarzt möglich. Je nach Verfügbarkeit kann auch eine Live-Videoübertragung aus dem Rettungswagen hergestellt werden. Der Telenotarzt kann medizinische Maßnahmen, wie beispielsweise die Verabreichung von Medikamenten, an das Personal vor Ort delegieren.
Im Bevölkerungsschutz wird Telemedizin bislang nur selten eingesetzt. Abgesehen von militärischen Anwendungen gab es vereinzelte Einsätze bei Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Hurrikans. Mit dem Projekt TeleSAN (https://telesan.de) wurde erstmals im Auftrag des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) ein Technik-Demonstrator zur Nutzung der Telemedizin im Zivilschutzfall entwickelt und erfolgreich evaluiert2. Bis heute existiert jedoch noch kein technisches Konzept zum Einsatz von Telemedizinsystemen im CBRN-Schutzanzug. Vor diesem Hintergrund wurde ein erneuter Forschungsauftrag durch das BBK erteilt.
Entwicklung eines Technikkonzepts
Datenbrillen sind in vielen Bereichen der Industrie bereits nützlich, um Informationen ins Blickfeld des Nutzers einzublenden oder über eine Kamera Videodaten vom Blickfeld des Nutzers speichern oder streamen zu können. Dabei hat der Anwender die Hände frei und kann sich auf seine Tätigkeiten konzentrieren. Erste Studien zeigten bereits den möglichen Nutzen für den Einsatz im Katastrophenfall, wenngleich noch zahlreiche Limitationen durch die geringe Akkukapazität sowie eine erforderliche Netzwerkabdeckung zu beachten waren3,4.
Aufgrund dieser Vorkenntnisse wurden für den ersten Demonstrator ebenfalls Datenbrillen genutzt. Getestet wurden die Modelle „M300“ (Vuzix, West Henrietta, New York) sowie „HMT-1“ (Realwear, Vancouver, Kanada) in einem Gebläseschutzanzug. Beide Geräte verwendeten eine App, die auf einer zertifizierten Videosprechstunden-Software (Docs in Clouds TeleCare GmbH, Aachen, Deutschland) basierte. Die Telekonsultation mit dem Telemediziner wurde per Sprachsteuerung gestartet, wodurch der Arzt die Einsatzstelle in Echtzeit über die integrierte Kamera und Videoübertragung beobachten konnte. Es wurde jedoch kein Videobild des Telemediziners an die Einsatzkräfte übertragen. Die Kommunikation erfolgte über die integrierten Lautsprecher und Mikrofone der Datenbrillen.
Im Rahmen einer Simulationsstudie wurden verschiedene medizinische Maßnahmen delegiert (Abbildung 1). Dabei zeigte sich, dass die verwendeten Datenbrillen aufgrund mangelnder Benutzerfreundlichkeit und technischer Einschränkungen nur begrenzt für den Einsatz im CBRN-Schutzanzug geeignet waren. Die Sprachsteuerung erwies sich im Gebläseschutzanzug als kaum nutzbar, die Visierscheibe führte zu einem falschen Fokus der Kamera und zu einer verzerrten Bildübertragung an den Telemediziner. Zusätzlich war die Position der Datenbrille und damit der Kamera nach Ankleiden im Schutzanzug nicht mehr variierbar, führte zu einem geringen Tragekomfort und veränderten Blickwinkel.
Aus diesen Gründen basierte der zweite Demonstrator auf der Verwendung eines Mini-PCs (Asus NUC 13 Rugged, ASUSTeK Computer Inc., Taipeh, Taiwan), an den ein Headset, eine Kamera und ein Steuerboard mit großem Bedienknopf angeschlossen war. Der Mini-PC kann in einem Rucksack getragen werden und wird dabei über eine Powerbank geladen, wodurch eine Nutzungszeit von bis zu 5 Stunden realisiert werden kann. Der Steuerknopf wurde am Rucksackgurt auf Herzhöhe befestigt, um unerwünschtes Auslösen des Knopfes durch Bewegungen zu reduzieren, den Knopf aber jederzeit auch durch die Hülle des Schutzanzuges verfügbar zu haben. Das Headset wird vor Tragen des Schutzanzuges auf den Kopf gesetzt. Die Kamera kann nach dem Ankleiden befestigt werden.
Zur Befestigung der Kamera werden Magnete verwendet, die sie im Visierschild des Schutzanzuges positionieren (Abbildung 2). Dabei hat sich die Kinnhöhe als optimale Position herausgestellt. Wird die Kamera seitlich befestigt, zeigt die Kamera nicht das Sichtbild der Person im Anzug und eine ständige Anpassung der Körperhaltung wäre notwendig, um das gewünschte Bild zu zeigen. Bei einer Befestigung zu weit oben, etwa auf Stirnhöhe, zieht das Gewicht der Kamera das Kopfteil des Anzuges nach unten und das Kabel der Kamera hängt im Sichtfeld. Durch die Magnete kann auch gewährleistet werden, dass die Linse der Kameras möglichst nah auf der Oberfläche des Fensters im Anzug aufliegt, um den Autofokus nicht zu stören.
Zusammenfassung
Die Nutzung von Telemedizin im CBRN-Schutzanzug stellt die technische Entwicklung vor besondere Anforderungen. Der Autofokus darf durch das Frontvisier nicht gestört werden, eine Bedienbarkeit muss auch im sperrigen Gebläseschutzanzug jederzeit gewährleistet sein. Hier zeigten sich Datenbrillen als nicht geeignet. Ein neuer Ansatz – basierend auf einem Mini-PC mit externer Kamera, Headset und einem großen Bedienknopf – hat in ersten Tests eine technische Machbarkeit gezeigt. Nun müssen Simulationen diese Tests bestätigen.
Künftige Entwicklungen sollten sich darauf konzentrieren, die technische Integration von Telemedizin in CBRN-Schutzanzügen weiter zu optimieren, um deren Anwendbarkeit im Ernstfall zu erhöhen. Langfristig könnte dies dazu beitragen, den Mangel an hochqualifizierten Einsatzkräften auszugleichen und die Sicherheit und Effizienz bei der Dekontamination und medizinischen Versorgung in CBRN-Einsätzen zu verbessern.
Literatur bei Verfassern.
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3/2024
Für die Verfasser:
Dr. Andreas Follmann
Uniklinik RWTH Aachen
Pauwelsstraße 30, 52074 Aachen
E-Mail: afollmann@ukaachen.de