Kraniotomie im Einsatz durch einen Nicht-Neurochirurgen
In den Auslandseinsätzen der Bundeswehr kann es passieren, dass der vor Ort befindliche Chirurg bei Abwesenheit eines Neurochirurgen quasi als letzte Instanz gezwungen ist, auf neurotraumatologischem Gebiet tätig zu werden und beispielsweise eine Kraniotomie vorzunehmen. Im vorliegenden Fall musste während eines Einsatzes in Mazar-e-Sharif eine Kraniotomie wegen eines Steckschusses im Hinterhaupt vorgenommen werden.
Kasuistik
Am 29.05.2007 wurde ein 23-jähriger einheimischer, intubierter, männlicher Patient mit einem Steckschuss occipital links vom Balk Hospital in Mazar–e–Sharif in das Deutsche Einsatzlazarett eingeliefert. Ein Neurochirurg war nicht vor Ort, so dass ich als Chirurg die notwendige Operation durchzuführen hatte. Es handelte sich um ein Geschoss mit einem Durchmesser Ø 5,4 vom Kaliber 222 – 223 REM, das im Hinterkopf steckte (Abb. 1).
Die mitgebrachten Röntgenbilder waren falsch und gehörten zu einem anderen Patienten mit Kopfschussverletzung. Das angefertigte CCT und die Rekonstruktionen zeigten das wahre Ausmaß der knöchernen Zerstörung und den Schusskanal samt sekundärer Wundhöhle (Abb. 2) (Abb. 3).
Ziel der Behandlung konnte nur sein, das Geschoss zu entfernen und zur Vermeidung einer Infektion – laut Literatur 3% – 6% mit deutlicher Prognoseverschlechterung - die offene Schädel-Hirn-Verletzung in eine geschlossene zu überführen. Hierzu musste nach gültiger Lehre unter Antibiotikaschutz ein Wunddebridement mit Duraverschluss vorgenommen werden. Nach standardmäßiger Op-Vorbereitung konnte das Projektil ohne Probleme entfernt werden. Die Eintrittstelle wurde in einen bügelförmigen Hautschnitt einbezogen, der knöcherne Defekt mit einem Luer vorsichtig erweitert. Anschließend wurde der Schusskanal behutsam mit einem Sauger unter Spülung mit 0,9 % NaCl-Lösung gesäubert und enttrümmert, Hirndetritus wurde abgesaugt (Abb. 4).
Anschließend erfolgten eine Spülung mit Gentamycin und eine peinlichste Blutstillung unter Zuhilfenahme hämostyptischer Gazestreifen. Zum Verschluss der Dura musste ein Galealappen gehoben und eingeschwenkt werden. Nach Einlage einer Saugdrainage erfolgte der Hautverschluss. Abschließend wurde der Patient tracheotomiert und nach wenigen Stunden der postoperativen Überwachung auf der Intensivstation in das überweisende Krankenhaus zurückverlegt. Über das weitere Schicksal des Patienten wurde nichts bekannt (Abb. 5).
Neurochirurgische Kompetenz
Mit dieser Kasuistik soll die Kompetenz der Neurochirurgen für die operative Behandlung schädelhirnverletzter Patienten keinesfalls auch nur angetastet werden. Die Zeiten chirurgischer Allrounder gehen unaufhaltsam ihrem Ende entgegen. Dennoch ist es gerade für die Belange der Bundeswehr überlebenswichtig, angesichts der geringen Zahl neurochirurgischer Fachärzte unter den „Einsatzchirurgen“ eine Notfallkompetenz auch für neurotraumatologische Eingriffe zu etablieren. In der Literatur finden sich einige Veröffentlichungen u.a. darüber, dass in Ländern wie Australien mit einer dünnen Besetzung mit Neurochirurgen neurochirurgische Notfalleingriffe zum großen Teil von Allgemeinchirurgen vorgenommen werden (müssen), und zwar mit akzeptablen Ergebnissen. Auch in Deutschland wurden und werden, durch entsprechende Veröffentlichungen belegt, dringliche neurotraumatologische Eingriffe in allgemein- und unfallchirurgischen Kliniken vorgenommen, deren Qualitätsstandards sich selbstverständlich an den Ergebnissen neurochirurgischer Kliniken messen lassen müssen. Allein aus juristischen Gründen muss eine qualitativ hochstehende neurotraumatologische Erstversorgung unabdingbar an eine entsprechende Infrastruktur in personeller, organisatorischer und technischer Hinsicht gekoppelt werden.
Sowohl die Weiterbildungsordnung für Chirurgie als auch für Unfallchirurgie ermöglicht bzw. fordert sogar den Erwerb von Kenntnissen auf neurotraumatologischem Sektor, wie beispielsweise die Vornahme von Trepanationen.
Ich persönlich musste während meiner bisherigen zehn Auslandseinsätze dreimal operative Eingriffe an Schädel und Neurocranium vornehmen. Hierbei kamen mir die Absolvierung des „Neurotraumatologischen Weiterbildungskurses“, der von der Abteilung Neurochirurgie (Ltd.Arzt: OTA PD Dr.U.Kunz) des Bundeswehrkrankenhauses Ulm seit mehr als 10 Jahren durchgeführt wird, ebenso zunutze wie die Möglichkeit, den Neurochirurgen im eigenen Haus bei ihren Operationen über die Schulter schauen zu können. Erwähnt sei auch das kursbegleitende Handout „Kleiner Ratgeber zur Notfalltrepanation“. Die Erfahrungen der Ulmer Veranstalter des einwöchigen Neurotraumatologiekurses belegen eindeutig, dass die Grundtechniken und -prinzipien bei chirurgischer Vorbildung rasch erlernt werden können. Vorteilhaft sind bei Telekonsultationen aus dem Auslandseinsatz heraus die persönliche Bekanntschaft und die vertraute Nomenklatur im Hinblick auf erfolgreiche Therapieentscheidungen und -maßnahmen durch die dadurch vorhandene größere fachliche Sicherheit. Daher sollte jeder „Einsatzchirurg“ den Kurs durchlaufen und ausreichend Gelegenheit zum halbwegs regelmäßigen Üben, beispielsweise durch Hospitationen, bekommen.
Fazit
Jeder „Einsatzchirurg“ sollte neurotraumatologische Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, um in Auslandseinsätzen bei Abwesenheit eines Neurochirurgen notfallmäßig Operationen am Schädel vornehmen zu können. Die gültigen Weiterbildungsordnungen ermöglichen den Einstieg, Weiterbildungskurse vertiefen Wissen und praktisches Können, In-Übung-Haltung ist zur praktischen Anwendung unbedingt erforderlich.
Datum: 01.10.2008
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2008/3