14.02.2013 •

DER EINFLUSS VON TIEFENRAUSCH AUF DIE SCHMERZWAHRNEHMUNG

The Influence of Inert Gas Narcosis on the Perception of Pain



Aus dem Schifffahrtmedizinischen Institut der Marine Kronshagen (Leiter: Flottenarzt Dr. S. Neidhardt)



Saskia Vetter und Stefan Röttger



WMM, 57. Jahrgang (Ausgabe 1/2013: S. 20-21)

Zusammenfassung



Hintergrund: Tiefenrausch entsteht durch den erhöhten Stickstoffpartialdruck beim Tauchen ab Tiefen von 30 m (Umgebungsdruck = 4 bar). Berichtete Symptome des Tiefenrausches sind zum Beispiel Euphorie sowie Verschlechterung der motorischen und kognitiven Leistungen. In dieser Studie wurde der Effekt des Tiefenrausches auf die Schmerz­wahrnehmung untersucht.

Methode: 22 Studienteilnehmer unternahmen zwei Tauchgänge in einer Druckammer: einen Experimentaltauchgang (50 m = 6 bar) und einen Kontrolltauchgang (0 m = 1 bar). Vor und während jedes Tauchganges schätzten die Teilnehmer die wahrgenommene Schmerzintensität beim Cold-Pressure-Test auf einer visuellen Analogskala ein.
Ergebnisse: Im Unterschied zum Kontrolltauchgang zeigte sich während des Experimentaltauchganges eine signifikante Reduktion der wahrgenommenen Schmerzintensität.
Schlussfolgerungen: Der Tiefenrausch verringerte die wahr­genommene Schmerzintensität. Diese Erkenntnis kann Personen, die unter hyperbaren Bedingungen arbeiten oder Sport treiben, für die Gefahren der Stickstoffnarkose sensibilisieren.
Schlagworte: Tiefenrausch, Stickstoffnarkose, Schmerzwahrnehmung, Cold-Pressure-Test.

Summary

Background: Breathing air at depths below 30 m (ambient pressure = 4 bar) results in nitrogen narcosis due to the increased nitrogen partial pressure. Reported symptoms of nitrogen narcosis are, for example, euphoria and impaired motor and cognitive performance.
Our study examined the effect of nitrogen narcosis on the perception of pain.
Methods: 22 subjects completed two dives in a hyperbaric chamber: an experimental dive (50 m = 6 bar) and a control dive (0 m = 1bar). After completing a standardized cold pressure test (before and during each dive), subjects assessed their perceived pain by using a visual analogue scale.
Results: A significant reduction of perceived pain was found in the experimental dive, but not in the control dive.
Conclusions: The nitrogen narcosis reduced the perceived intensity of pain. This knowledge can help persons who work or do sports under hyperbaric conditions by sensitizing them to dangers of nitrogen narcosis.
Keywords: nitrogen narcosis, inert gas narcosis, perception of pain, cold pressure test.

Einleitung und Fragestellung

Das Tauchen in dem für Menschen fremden Element Wasser birgt zahlreiche Gefahren. Tiefenrausch, synonym auch Inertgas- oder Stickstoffnarkose, ist eines der tückischsten Phänomene beim Presslufttauchen mit normaler Atemluft. Er entsteht in hyperbarem Milieu durch einen erhöhten Stickstoffpartialdruck und tritt ab Tauchtiefen von 30 m auf (Umgebungsdruck = 4 bar; Stickstoffpartialdruck = 3,12 bar).
Unter Tiefenrausch zeigen sich erhöhte Reizbarkeit, Euphorie, Verschlechterung der motorischen und kognitiven Leis­tungen, eingeschränkte Urteilsfähigkeit, Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung, Leichtsinnigkeit, Schwindelgefühle, übertriebene Selbstsicherheit, verzögerte Reaktionen auf sensorische Reize, Desorientierung, Halluzinationen, Gedächtnisdefizite für die unter Druck verbrachte Zeit sowie Taubheit der Lippen und Wangen (1 – 10, 13, 15, 17, 18, 21). Zwischen Tiefen von 90 und 120 m kann es schließlich zum Bewusstseinsverlust kommen (3, 21). Die Ausprägung des Tiefenrausches wird durch verschiedene psychologische und physikalische Faktoren wie Taucherfahrung, Angst, aber auch Schlafmangel, Kälte, Dunkelheit und harte Arbeit beeinflusst (6).
Der Stickstoff verursacht unter hyperbaren Bedingungen ähnliche Symptome wie Alkohol (6), wobei dieser Zusammenhang anekdotisch als „Martini-Regel“ beschrieben wird (13, 16). Diese besagt, dass 15 m Tauchtiefe die gleichen narkotischen Wirkungen wie ein Glas Martini ausüben. Eine wissenschaftliche Untersuchung des Zusammenhanges zwischen Stickstoffnarkose und Alkohol zeigte, dass Probanden, die stärker durch die Stickstoffnarkose beeinträchtigt werden, ebenfalls stärker durch Alkohol beeinflussbar sind (11).
Obwohl einige Studien darauf hinweisen, dass die Stickstoffnarkose ähnliche Effekte wie die Lachgasnarkose auf den Körper von Tieren (19, 20) und Menschen (8) hat, finden sich unter der Vielzahl der Untersuchungen zum Tiefenrausch keine Arbeiten, die sich mit seiner Auswirkung auf die Schmerzwahrnehmung beschäftigen. In der hier berichteten Studie wurde untersucht, ob der Tiefenrausch eine schmerzhemmende Wirkung hat.

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Methoden

22 Studienteilnehmer im Alter zwischen 22 und 59 Jahren unternahmen in der Druckkammer „Hydra 2000“ von Haux am Schifffahrtmedizinischen Institut der Marine je zwei Tauchgänge zusammen mit einem Tauchbegleiter. Die Studie wurde durch die Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität zu Kiel begutachtet und genehmigt. Vor der Untersuchung erhielten die Studienteilnehmer schriftliche Informationen über die Freiwilligkeit an der Teilnahme, den Ablauf sowie die möglichen Risiken der hyperbaren Exposition und sie unterschrieben eine Einwilligungserklärung.
Der Umgebungsdruck betrug beim Experimentaltauchgang in 50 m Tiefe 6 bar und beim Kontrolltauchgang 1 bar (0 m Tiefe = 1 bar). Der Experimental- und der Kontrolltauchgang waren in Ablauf, Länge und Umgebungsgeräuschen identisch. Die während des Experimentaltauchganges vorhandenen Geräusche (Kompressoren, Ventile) wurden auch während des Kontrolltauchganges per Lautsprecher eingespielt. Abbildung 1 zeigt den Versuchsaufbau.
Jeweils vor den Tauchgängen und beim Erreichen der Isopressionsphase wurde der Cold-Pressure-Test appliziert. Dabei hielten die Teilnehmer für 15 Sekunden die Hand in Eiswasser (konstant auf 1 – 2°C gehalten) und schätzten die wahr­genommene Schmerzintensität auf einer 100 mm Visuellen Analogskala (VAS) ein. Auf einer 100 mm VAS schätzten sie auch vor Beginn der Dekompressionsphase die Höhe des subjektiv verspürten Tiefenrausches ein.

Ergebnisse

Bezüglich der generellen Einschätzung des subjektiv erlebten Tiefenrausches während der Isopressionsphase unterschieden sich die beiden Gruppen signifikant voneinander. Die Probanden schätzten den subjektiv erlebten Tiefenrausch während des Experimentaltauchganges größer ein als während des Kontrolltauchganges (p < 0,001). Abbildung 2 visualisiert Mittelwerte und Standardfehler der Mittelwerte der wahrgenommenen Schmerzintensität für die vier Untersuchungsbedingungen. Während des Tauchganges war die wahrgenommene Schmerzintensität in der Experimentalgruppe signifikant geringer als vor dem Tauchgang (via Kontrastanalysen, p = 0,034). In der Kontrollgruppe ergab sich hingegen kein signifikanter Unterschied zwischen der Schmerzwahrnehmung vor und während des Tauchganges (p = 0,371).

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Diskussion

In der vorliegenden Untersuchung wurde unserer Kenntnis nach erstmalig die Veränderung der wahrgenommenen Schmerzintensität unter Tiefenrauschbedingungen untersucht. Im Gegensatz zu den meisten anderen Studien aus dem Bereich der hyperbaren Medizin (12) wurde dabei eine Sham-Bedingung in Form eines simulierten Tauchganges verwendet. Dieses Design ermöglichte die Kontrolle vieler mit einem Tauchgang einhergehenden Rahmenbedingungen, die möglicherweise einen Einfluss auf das Schmerz- und Tiefenrauschempfinden haben. Trotzdem konnten die Teilnehmer dieser Untersuchung bemerken, dass unter der Sham-Bedingung kein Druckausgleich nötig war. Eine weitergehende Kontrolle der Rahmenbedingungen könnte in Folgeuntersuchungen erreicht werden, indem während der Sham-Bedingung zumindest geringe Tauchtiefen erreicht werden oder bei gleicher Tauchtiefe mit Gasgemischen gearbeitet wird, die nicht zu einem Tiefenrausch führen.
Zur Überprüfung der aufgestellten Hypothese wurde der Cold-Pressure-Test unter normobaren und unter hyperbaren Bedingungen durchgeführt. Während sich in der Experimentalgruppe ein signifikanter Unterschied bezüglich der wahrgenommenen Schmerzintensität zwischen den Messzeitpunkten vor dem Tauchgang und während des Tauchganges ergab, zeigte sich dieser Unterschied in der Kontrollgruppe nicht. Daher kann hypothesenkonform angenommen werden, dass der Tiefenrausch die wahrgenommene Schmerzintensität verringert. Die narkotische Wirkung des Stickstoffes geht somit offenbar über die bisher bekannten neurophysiologischen Auswirkungen hinaus. Die in der Einleitung beschriebenen Effekte des Tiefenrausches deuteten primär auf die Beeinträchtigung höherer Hirn­leistungen wie Planung, Aufmerksamkeits- und Handlungssteuerung, an denen präfrontale Kortexstrukturen beteiligt sind. Die hier vorgestellten Befunde können allerdings darauf hinweisen, dass auch an der Schmerzverarbeitung beteiligte Strukturen, die den somatosensorischen Kortex ebenso wie subkortikale Strukturen wie die Amygdala und die Basalganglien umfassen, betroffen sind. Denkbar ist aber auch, dass durch den erhöhten Stickstoffpartialdruck das periphere nozizeptive System beeinträchtigt ist. Für das Einwirken von Stickstoff auf das periphere Nervensystem könnte auch der Befund einer Untersuchung sprechen, die bei Tauchern mit extrem häufigen Tauchgängen unter normobaren Bedingungen signifikant verlangsamte motorische Reaktionszeiten zeigte (14). Dies kann mit Läsionen des peripheren Nervensystems erklärt werden, die möglicherweise entstehen, wenn Taucher sehr häufig erhöhten Stickstoffpartialdrücken ausgesetzt sind.

Schlussfolgerungen

Die in dieser Studie gewonnenen Daten zur reduzierten Schmerzwahrnehmung unter Tiefenrausch sind auch von praktischer Relevanz. Verletzungen oder körperliche Überlastung können unter hyperbaren Bedingungen leicht unterschätzt werden, wenn Schmerzen weniger intensiv wahrgenommen werden als unter normobaren Bedingungen. Zusammen mit der Tendenz zur Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, die bei Tiefenrausch auftreten kann, können Verletzung und Überlastung unter Wasser zu lebensgefährlichen Situationen führen.
Das Wissen über die Veränderung der Schmerzwahrnehmung soll Marine-, Sport- und Berufstaucher, medizinisches Personal in der hyperbaren Therapie und alle anderen Personen, die unter hyperbaren Bedingungen arbeiten oder Sport treiben, für solch gefährliche Situationen sensibilisieren.

Literatur

  1. Abraini JH, Joulia F: Psycho-sensorimotor performance in divers exposed to six and seven atmospheres absolute of compressed air. Eur J Appl Physiol 1992; 65: 84-87.
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  3. 3. Barnard EEP: Aspects of underwater medicine. Postgrad Med J 1966; 42: 636-642.
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  10. 10. Hesser CM, Fagraeus L, Adolfson J: Roles of nitrogen, oxygen, and carbon dioxide in compressed-air narcosis. Undersea Biomed Res 1978; 5: 391-400.
  11. 11. Hobbs M: Subjective and behavioral responses to nitrogen narcosis and alcohol. Undersea Hyperb Med 2008; 35: 175-184.
  12. 12. Jansen T, Mortensen CR, Tvede, MF: Is it possible to perform a double –blind hyperbaric session: A double blind randomized trial performed on healthy volunteers. Undersea Hyperb Med 2009; 36: 347-351.
  13. 13. Kiessling RJ, Maag CH: Performance impairment as a function of nitrogen narcosis. J Appl Psychol 1962; 46: 91-95.
  14. 14. Kowalski JT, Klein F, Kähler W et al.: Neuropsychometrische Veränderungen bei Marinetauchern, Wehrmedizin 2009, 54: 55-58.
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Datum: 14.02.2013

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2013/1

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