Erkenntnisse des Sanitätsdienstes der Bundeswehr aus dem Ukrainekrieg
Kai Schmidt
Die Zeitenwende mit dem Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 führte zu verschiedenen Reaktionen in der Welt. Neben der Verstärkung der NATO-Ostflanke mit zusätzlichen Streitkräften wurde der Ukraine u.a. im Auftrag der Bundesregierung seitens der Bundeswehr und der deutschen Industrie neben persönlicher Ausrüstung auch Waffensysteme unterschiedlicher Kategorie geliefert. Weiterhin startete eine Europäische Mission (European Union Military Assistance Mission Ukraine - EUMAM UKRAINE) zur Ausbildung der ukrainischen Kräfte in militärischen und sanitätsdienstlichen Bereichen zur Stärkung der Resilienz. Letzteres insbesondere vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Missachtung der Genfer Konvention, der Quantität und Qualität der sanitätsdienstlichen Leistungen, des Patiententransportes und der Notwendigkeit gesamtstaatlichen Handelns von Frieden über Krise bis Krieg.
Zeitenwende
Der 24. Februar des Jahres 2022 stellt eine tiefgreifende Zäsur dar als Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine beginnt. Dieser Krieg hat die Welt verändert. Die Medien verdeutlichen dies alltäglich mit grausamen Bildern aus dem geschundenen Land am Schwarzen Meer und mit der Darstellung der verschiedenen Reaktionen aus aller Welt.
Die NATO antwortete noch im Februar 2022 mit der Verstärkung der enhanced Forward Presence (eFP) Battle Group (BG) im Baltikum auf über 1.600 Soldaten. Eine enhanced Vigilance Activities (eVA) Brigade wurde zusätzlich als Reaktion auf den russischen Überfall in der Ukraine als Verstärkung der NATO Ostflanke für Litauen vorgesehen. Weiterhin wurde durch Deutschland eine Kampftruppenbrigade identifiziert, die dauerhaft in LTU stationiert werden wird. Ihr Forward Command Element (FCE) ist bereits vor Ort stationiert und dient der schnellen Verlegung dieser Brigade aus Deutschland sowie der Abstimmung gemeinsamer Übungstätigkeiten.
Aus Beständen der Bundeswehr und durch Lieferungen der Industrie, die aus Mitteln der Ertüchtigungshilfe der Bundesregierung finanziert werden, erhielt die Ukraine bis heute anhaltend umfangreiche Ausrüstungs- und Waffenlieferungen (u.a. Kampfpanzer Leopard, Schützenpanzer Marder, Panzerhaubitzen 2000, Mehrfachraketenwerfer Mars II, das Allschutz- Transport Fahrzeug Dingo, Krankentransportfahrzeuge sowie Wärmebekleidung, Stromerzeugungsaggregate, Zelte, Verpflegungsrationen).
Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im August 2022 ein neues Programm zur Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte ins Gespräch gebracht. Mehrere EU-Staaten, die USA, Kanada und Großbritannien bilden ukrainische Soldaten auf Basis nationaler Absprachen aus. Die EU-Mission European Union Military Assistance Mission Ukraine (EUMAM UKRAINE) ist zunächst auf zwei Jahre angelegt. Sie soll u.a. Spezialfähigkeiten von Kampf- und Kampfunterstützungstruppen ausbilden und Fähigkeiten in Bereichen wie Gefechtsstandorganisation, Minenräumung und Sanitätsdienst vermitteln. Um das Risiko zu minimieren, dass Russland die Ausbildungsmission angreift, wird die Ausbildung in Ländern wie Polen und Deutschland organisiert und durchgeführt. Deutschland engagierte sich zuletzt vor allem in Bereichen gepanzerter Truppen, Infanterie, Luftverteidigung, Artillerie und Sanitätsdienst. Zudem wurde gemeinsam mit den Niederlanden erarbeitet, wie die Ausbildung zur Minenabwehr verstärkt werden kann.
Unterstützung durch den Zentralen Sanitätsdienst der Bundeswehr
Darüber hinaus leistet der Zentrale Sanitätsdienst der Bundeswehr (ZSanDstBw) weitere Unterstützungs- und Hilfeleistung für die Ukraine. Ein kräftebindender und zeitintensiver Auftrag ist die Ausbildungsunterstützung für Combat Surgery, Combat Lifesaver und Paramedic. Die Corona Pandemie hat beim Sanitätsdienst der Bundeswehr und der Bundeswehr allgemein in puncto Ausbildung, insbesondere im Bereich der Individualausbildung, einen massiven Rückstand bewirkt. Die wachsende Bedeutung der Sanitätsausbildung im Besonderen für Nicht-Sanitätspersonal wird auch in den deutschen Streitkräften immer offensichtlicher. Sie sind diejenigen, die vor der qualifizierten sanitätsdienstlichen Versorgung das Leben der verwundeten Kameradinnen und Kameraden initial quasi „in Ihren Händen halten“ und dazu befähigt werden müssen, kompetent erste Hilfe auf dem Gefechtsfeld zu leisten. Sie sind am scharfen Ende tätig. Hierzu muss sowohl innerhalb der Bundeswehr, aber ebenso in der Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte investiert werden.
Weiterhin übernimmt der Sanitätsdienst der Bundeswehr auch ukrainische Patienten inklusive des Transportes und der Behandlung in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und dem ebendort etablierten gemeinsamen Lagezentrum (GMLZ). Grundsätzlich ist die materielle Unterstützung ebenso wie die zusätzliche Abstellung von Ausbildungspersonal aber nur mit dem möglich, was durch den Sanitätsdienst im Rahmen freier Kapazitäten verfügbar gemacht werden kann und ad hoc einsatzbereit ist. So war gerade auch in Bezug auf die Unterstützung mit einer Behandlungseinrichtung der Ebene 2 für die Ukraine die multinationale Zusammenarbeit (hier mit Estland) von herausragender Bedeutung.
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr ist mehr gefordert und auch gefragter denn je. Nach der umfassenden Corona Hilfe, die seit 2020 anhaltend geleistet wurde, ist nun die Ukraine eine der Schwerpunktaufgaben. Die Koordination und Übernahme von ukrainischen Kriegspatienten stellt eine Fortführung der bereits seit 2014 nach der Annexion der Krim durch Russland laufende Behandlung von ukrainischen Verwundeten in den Bundeswehrkrankenhäusern (bis Ende 2021 mehr als 240 Patienten) dar. Über das BBK wurden mit Stand Oktober 2023 bereits über 900 Patienten per Lufttransport unter Beteiligung der Bundeswehr nach Deutschland geflogen. Seit Februar 2022 wurden davon 24 Patienten in den Bundeswehrkrankenhäusern (BwKrhs) behandelt.
Erkenntnisse aus dem Ukrainekrieg
Im Rahmen der COMEDS (Chief of Medical Services in NATO)-Konferenz in 2022 wurde eine erste Auswertung des aktuellen Konfliktes in der Ukraine aus sanitätsdienstlicher Sicht durch die ukrainische Surgeon General präsentiert. Die präsentierten Informationen waren die ersten verfügbaren Sachverhalte mit sanitätsdienstlichem Bezug aus einem Krieg auf europäischen Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Dies wurde zum Anlass genommen, die bisher im Planungsprozess verwendeten Annahmen und Rationale für die sanitätsdienstliche Unterstützung deutscher Streitkräfte einer nochmaligen Überprüfung zu unterziehen. In diesem Kontext lassen sich fünf Erkenntnislinien aufzeigen:
- Das notwendige Schutzniveau für Sanitätskräfte im Einsatz. Im Ukrainekrieg findet das Schutzzeichen wie in Syrien, Afghanistan und Irak wenig bis keine Beachtung seitens der russischen Aggressoren.
- Eine vergleichende Betrachtung der Ausfallraten für beteiligtes Personal und der Verwundungskategorien gibt Hinweise auf die Quantität und Qualität der benötigten sanitätsdienstlichen und medizinischen Leistungen.
- Evaluierung des qualifizierten Patiententransports im Hinblick auf die eingesetzten Transportmittel und Anzahl der zu verlegenden Patienten.
- Mobilität und Flexibilität der Elemente der Rettungskette in Bezug auf Verfügbarkeit von Kräften, Raum und Zeit.
- Die Notwendigkeit einer ressortübergreifenden Gesundheitsversorgung im Sinne einer gesamtstaatlichen Verantwortung.
- Die Relevanz der sanitätsdienstlichen Unterstützung für Moral und Einsatzwert von Streitkräften
Derzeit wird beispielsweise die Patiententransportorganisation durch das ukrainische Gesundheitsministerium geführt. Hierbei zeigt sich deutlich auf, lange Verbringungszeiten der Patienten, Überlastung der Krankenhäuser, ausgelastete Transportkapazitäten und fehlende Fachexpertise. Dies führt gemäß der Bewertung der World Health Organization zu einer qualitativen und quantitativen Überforderung des ukrainischen Gesundheitsministeriums und resultiert grundsätzlich in einer ungenügenden Patiententransportorganisation. Vor diesem Hintergrund, und unter Berücksichtigung eines Landes-/Bündnisverteidigung (LV/BV)-Szenario, ist es möglicherweise zweckmäßig, die Patiententransportorganisation in Deutschland durch das Bundesministerium der Verteidigung mit seinen bisher vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten neu zu verorten. Zur Nutzung des vorhandenen Potenzials ist es zudem unabdingbar, die Bereiche Digitalisierung und Ressourcen weiter auszubauen.
Schutzniveau des Roten Kreuzes
Aus den Informationen unabhängiger Beobachter und Aussagen sowie Bildern des ukrainischen Sanitätsdienstes wird klar, dass das Rote Kreuz als Schutzzeichen leider auch in diesem Konflikt kaum Schutzwirkung entfaltet. Es wurden sogar offensichtlich sanitätsdienstliche Einrichtungen und Fahrzeuge gezielt angegriffen, um nachhaltigen materiellen, personellen und moralisch Schaden zu erzeugen. Auch die öffentliche Berichterstattung bestätigt diese Wahrnehmung, die letztlich in sich die Grundlage der perfiden Kriegsführung trägt. Es wird zudem nicht zwischen militärischen und zivilen Kräften unterschieden. Ein steigender Ausfall beim unterstützenden medizinischen Personal steigert die ohnehin bestehenden Versorgungsdefizite im Verlaufe des Konfliktes.
Daher ist - entgegen des weitläufigen Irrtums, das Schutzzeichen alleine reiche aus - ein Schutz- sowie ein Mobilitätsniveau für die Sanitätskräfte zu realisieren, das dem der zu unterstützenden Truppe entspricht. Beide Entitäten bewegen sich im selben Raum und unterliegen der gleichen Gefährdung. Die geforderten geschützten Fahrzeuge und geschützten und hochmobilen Einrichtungen dienen dabei dem Schutz und der Versorgung der Patienten und des eigenen Personals. Zusätzlich ist die Resilienz des Sanitätsdienstes durch eine ausreichende personelle und materielle Hinterlegung zu steigern, um eventuelle Verluste ohne signifikante Einbußen in der medizinischen Versorgung ausgleichen zu können.
Ausfallraten, Verwundungskategorien, Flexibilität der Rettungskette
Die Kalkulationen für die Verwundetenzahlen zeigen im direkten Vergleich zu den bisherigen Planungen eine im Mittel ähnliche Anzahl, wobei nicht ausreichend Daten verfügbar sind, um die Ausfallraten evident berechnen zu können. Mit fast einem Fünftel liegt die Zahl der Gefallenen im Ukraine Konflikt allerdings deutlich höher als die von der NATO kalkulierte, welche auch als Grundlage für die deutschen Planungsrationale verwendet wurde. In der Konsequenz zeigt sich hier deutlich, dass ein nicht ausreichend dimensionierter Sanitätsdienst zu unverhältnismäßig höheren Verlusten nach Kampfhandlungen führt.
Die Arten der Verwundungen fordern sowohl eine hohe Qualifikation und gute Ausbildung von Ersthelfern und Sanitätspersonal, als auch eine umfangreiche Ausstattung mit Sanitätsmaterial (z. B. Tourniquets, Bandagen und Hämostyptika für die Blutstillung an Extremitäten und Weichteilen). Die vorliegenden Berichte zeigen deutlich prolongierte Versorgungszeiten und damit verbunden einen wesentlich schlechteren Outcome für die schwerverletzten Patienten. Eine suffiziente Rettungskette, unter Einhaltung der geforderten Zeitlinien für die medizinische Behandlung, garantiert am Ende die Rettung von Menschenleben bzw. Überlebensqualität. Dazu werden aber in ausreichendem Maße ausgebildetes und einsatzbereites Personal, Patiententransportmittel und Behandlungseinrichtungen für einen flexiblen Einsatz als Elemente der Rettungskette benötigt.
Patiententransport
Auch der Patiententransport wurde qualitativ und quantitativ beleuchtet. Hier zeigt sich, dass die durch den Sanitätsdienst der Bundeswehr kalkulierte Verteilung auf die Verkehrsträger (66% landgebunden, 33% luftgebunden) im Ukrainekrieg deutlich zu Ungunsten des Lufttransportes auf landbasierte Evakuierung verschoben wurde. Hier kommt insbesondere dem improvisierten Schienentransportmittel besondere Bedeutung zu. Ursächlich sind u.a. die nicht vorhandene Luftüberlegenheit und die damit verbundene Gefährdung von Patientenlufttransportmitteln zu nennen. Gleichwohl behält der vor allem strategische Verwundetenlufttransport gerade auch für das Internationale Krisenmanagement sowie die Nationale Krisenvorsorge eine hohe Bedeutung.
In der Konsequenz lässt sich bereits heute schon feststellen, dass in der Bundeswehr Großraumtransportmittel für hohe Patientenaufkommen fehlen und zur Bewältigung der zu erwartenden Patientenzahlen deutlich mehr an Transportkapazität benötigt wird. Vor allem im taktischen Verwundetentransport werden zusätzliche Großraumfahrzeuge - etwa Krankenkraftomnibusse - benötigt. In der Konsequenz kommt auf größerer Strecke der schienengebundenen Verlegung mit Lazarettzügen besondere Bedeutung zu. Zudem sind bei den Langstreckenverlegungen großer Patientenvolumina enge Kooperationen mit multinationalen und zivilen Hilfsorganisationen unabdingbar und zu suchen, welche qualifiziertes Personal zur Begleitung und Versorgung beistellen müssten. In der Vergangenheit wurden viele Denkanstöße bereits getätigt, oft wurden sie wegen anderweitiger Priorisierung jedoch nicht angegangen.
Zusammenfassend lässt sich somit konstatieren: Unter den aktuellen Rahmenbedingungen bestehen die unabweisbare Notwendigkeit und Dringlichkeit den Sanitätsdienst der Bundeswehr suffizient aufzustellen und damit das Leben und die Gesundheit der uns anvertrauten Soldatinnen und Soldaten und sonstigen Schutzbefohlenen nachhaltig zu sichern. Die bitteren Erfahrungen aus dem Ukrainekrieg sollten Mahnung sein!
Ressortübergreifende Gesundheitsversorgung
Entgegen der aktuellen Lage in der Ukraine, wo viele Drittnationen Hilfe anbieten und Patienten und Flüchtlinge aufnehmen, wird Deutschland im Falle von Krise und Krieg weitgehend primär medizinisch und sanitätsdienstlich auf sich alleine gestellt sein; so wie mutmaßlich jede andere Nation in Europa ebenfalls. Deutschland wird jedoch aufgrund der Drehscheiben-Funktion einerseits, seiner klinisch-medizinischen Standards andererseits eine gewichtige Bedeutung im multinationalen Kontext der nationenübergreifenden Gesundheitsversorgung beigemessen. Die Zahl der Verwundeten aus Kriegshandlungen, die nach Deutschland zurückgeführt werden, wird zunehmen und die teils hybriden Kriegshandlungen vermutlich auf der Zeitachse zunehmend auch Deutschland betreffen. Dies führt neben den normalen Bedarfen der zivilen Gesundheitsversorgung zu einer erheblichen Steigerung der Patientenzahlen, was nicht nur die nationale Rettungskette, sondern auch die Behandlungskapazitäten in den Kliniken enorm belasten wird.
Um dieser Situation wirksam begegnen zu können, sind bereits frühzeitig nationale Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Dies betrifft die Etablierung und Stärkung von Trauma-Netzwerken, eine koordinierte Patientensteuerung, die Bevorratung von Blutprodukten und Sanitätsmaterial, Planungen und Vorhalt von Material für Zentralunterkünfte und Sanitätszonen sowie Organisation und Vorhalt von Transport- und Aufnahmekapazitäten. Auch der verlässliche Zugriff auf in Deutschland ansässige Pharmaunternehmen- und Großhändler muss sichergestellt sein. Nur ein zu einem frühzeitigen Zeitpunkt zu etablierendem, ständig aufwachsendem Lagebild über alle zuständigen Bundesressorts, Regierungs- und Nicht-Regierungsorganisationen hinweg ermöglicht dieses gesamtstaatliche und koordinierte Handeln. Den Rahmen hierzu bildet ein Gesundheitsvorsorge- und -sicherstellungsgesetz, welches im Konzert der bereits erlassenen nationalen Sicherstellungsgesetze bislang aber fehlt.
Drehscheibe Deutschland
Die Drehscheibe Deutschland ist für den ZSanDstBw bereits im tagesaktuellen Grundbetrieb Standardaufgabe. Bereits in der Phase der Verlegung von Streitkräften werden Kräfte des ZSanDstBw in großer Zahl zu den jeweiligen Verlegepaketen gehören und stehen somit für die sanitätsdienstliche Versorgung im Inland nicht mehr zur Verfügung. Dies beeinflusst insofern den Grund- und Regelbetrieb, als dass das medizinische Fachpersonal aus den BwKrhs für die Feldsanitätseinrichtungen abgestellt wird und somit in den BwKrhs nicht mehr zur Verfügung steht, die aber als Role 4-Einrichtung unverändert Teil der terminalen Rettungskettenversorgung sind. Die Folge dieses „Single Set of Forces“ im LV/BV-Szenar ist eine reduzierte Aufnahme- und Behandlungskapazität in den BwKrhs. Dem kann nur insofern entgegengewirkt werden, indem zivile Patienten frühzeitig bei Aktivierung auf zivile Krankenhäuser verteilt werden und so freie Ebene 4-Kapazitäten für Verwundete geschaffen werden können, als auch Reservisten und Hilfsorganisationen unterstützend herangezogen werden.
Es ist selbstredend, dass die klinischen Kapazitäten der BwKrhs bei zunehmender Gefechts- und damit Patientenintensität bei weitem nicht mehr ausreichen werden und eine grundsätzliche Abstützung auf externe, also zivile Behandlungskapazitäten unabdingbar sein wird. Ebenso wird die sanitätsdienstliche Unterstützung der Streitkräfte im Inland bei einer Lageentwicklung zu einem NATO Artikel 5-Szenario zunehmend eingeschränkter, da auch der ZSanDstBw Ausfälle im Rahmen der Kriegshandlungen erleiden wird und Sanitätskräfte nachgeführt werden müssen. Auch dabei wird die unabweisbare Abstützung auf das nationale Gesundheitssystem, aber auch insbesondere der Preis für den „Single Set of Forces“- Kräfteansatz deutlich. Die zu erbringenden Aufgaben Drehscheibe Deutschland können also bei fortschreitender Lageentwicklung immer weniger allein durch den ZSanDstBw wahrgenommen werden, sondern sind eine gesamtstaatliche Aufgabe in koordinierender Funktion durch den ZSanDstBw mit dem Inspekteur des Sanitätsdienstes an der Spitze. Auf die medizinische Unterstützung von in Mitleidenschaft gezogener Zivilbevölkerung und auch von potentiellen Flüchtlingsströmen muss darüber hinaus Erwähnung und Beachtung finden.
Gesundheitsversorgung in Deutschland bei Krise, Konflikt und Krieg
Um die gesamtstaatliche Aufgabe “Koordinierung der Gesundheitsversorgung im Falle von Krise, Konflikt und Krieg“ bewältigen zu können, bedarf es etablierter Strukturen und Prozesse, die ressortübergreifend abgestimmt und fachlich umzusetzen sind. Die Position des Inspekteurs des Sanitätsdienstes der Bundeswehr als sanitätsdienstlicher Berater des/der Inhaber(in) der Befehls- und Kommandogewalt und Gesamtverantwortlicher für den Leistungsprozess “Gesundheitsversorgung sicherstellen” kann hier das Bindeglied zwischen zivilen und militärischen Kräften, Mitteln und Bedarfen sein. Eine militärische geprägte Urteilskraft zur Beurteilung der sanitätsdienstlichen Lage und zur Steuerung der Prozessabläufe in einem Krisen- oder Kriegsszenario, eingebettet in die reguläre Führungsstruktur der Bundeswehr, ermöglicht zielgerichtetes gesamtstaatliches strategisches Handeln. In allen Phasen von Art. 4 und 5-Szenaren besteht ein erhebliches Erkenntnisinteresse hinsichtlich eines ganzheitlichen Gesundheitslagebildes Deutschland, welches auf dem sanitätsdienstlichen Lagebild der Bundeswehr kontinuierlich aufwachsen muss.
Ein enges Zusammenwirken eines Lagezentrum Sanitätsdienst mit den Lagezentren der Bundesministerien für Inneres und Gesundheit als Teilprozess der Lageführung im Bundesministerium für Verteidigung ermöglicht eben genau dieses ressortübergreifende gesamtstaatliche Lagebild und führt bereits zu Friedenszeiten zu einem Vertrauen der Soldaten sowie auch der deutschen Bevölkerung. Dem zunehmenden Bedarf an zivilen Unterstützungsleitungen in der Gesundheitsversorgung stehen rapide abnehmende Fähigkeiten der sanitätsdienstlichen Unterstützung der Bundeswehr im Inland entgegen. Dies ist zu koordinieren, mit belastbaren Strukturen auszugestalten und insgesamt als gesamtstaatliche Aufgabe zum Gesundheitsschutz der deutschen Bevölkerung zu verstehen. Dazu bedarf es gesetzlicher Rahmenbedingungen, die in einem ressortübergreifenden Ansatz erarbeitet und abgestimmt werden und idealerweise in ein Gesundheitsvorsorge- und -sicherstellungsgesetz münden.
Einfluss auf Moral und Einsatzwert von Streitkräften
Die Relevanz der sanitätsdienstlichen Unterstützung für Moral und Einsatzwert von Streitkräften wird durch die ukrainischen Streitkräfte sowie in der internationalen Wahrnehmung divers beschrieben, ja hervorgehoben. Das renommierte Magazin Foreign Policy titelte in 2022 Ukraine`s Military Medicine is a Critical Advantage. Sinnbildlich hier ist auch der Umstand, dass die ukrainischen Soldaten bei ihrer Ausbildung in Deutschland die besondere Bedeutung der Schulung in sanitätsdienstlichen Themen - sei es für Nicht-Sanitätsangehörige und für Sanitätsfachpersonal - betonen. Eine gute und intensive Sanitätsausbildung rettet Leben an der Front; ganz vorne durch Erstmaßnahmen zur Blutstillung – insbesondere mit der korrekten Anwendung von Tourniquets sowie darüber hinaus durch qualifizierte Versorgung auf allen Ebenen.
Folgerungen
Die Notwendigkeit eines Gesundheitsvorsorge- und -sicherstellungsgesetzes wurde bereits erörtert. Nur mit einem ganzheitlichen konsolidierten Lagebild zur Gesundheitsversorgung auf gesetzlicher Basis kann in Deutschland die sanitätsdienstliche Versorgung der Streitkräfte auch als Host Nation Support und der Zivilbevölkerung sichergestellt werden. Aktuelle Kooperationen etwa mit dem BBK zeigen, dass im Bereich der Gesundheitsversorgung unabweisbarer Handlungsbedarf besteht - auch wenn erste Ansätze vielversprechend sind. Der ZSanDstBw wird bei der kontinuierlichen Schaffung von verlässlichen und belastbaren Rettungs- und Versorgungsstrukturen sowie durch seinen Beitrag in der wehrmedizinischen Forschung und der Bekämpfung von biologischen und chemischen Lagen für den Faktor Mensch zum tatsächlichen Effektor und trägt so maßgeblich zur Stärkung der Resilienz bei.
Auf Ebene Bundesministerium der Verteidigung kommt daher der strategischen und ressortübergreifenden Abstimmung bei Fragen der Gesundheitsversorgung und der Koordinierung ziviler und militärischer Ansätze eine besondere Bedeutung zu. Hierzu ist die Abbildung der Gesamtverantwortung für die Gesundheitsversorgung der Bundeswehr auf strategischer Ebene im Bundesministerium der Verteidigung unumgänglich. Nur so kann die unmittelbare Beratung des/der Inhaber(in) der Befehls- und Kommandogewalt und die enge Verbindung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr mit dem zivilen Gesundheitssystem gewährleistet werden. Dieser ganzheitliche Ansatz ermöglicht es, die nationale Gesundheitsversorgung im Einklang mit der sanitätsdienstlichen Versorgung der Streitkräfte so sicherzustellen, dass auch unter Artikel 4 resp. 5-Bedingungen eine koordinierte und robuste sanitätsdienstliche Versorgung in einheitlicher Führungsstruktur erfolgen kann.
Das derzeitige „Single Set of Forces“ des ZSanDstBw ist hinsichtlich Quantität und Durchhaltefähigkeit klar limitiert. Um die Durchhaltefähigkeit des medizinischen Fachpersonals bruchfrei sicherstellen zu können, sind weitere Vorhalte- und Reservekräfte für den ZSanDstBw auszuplanen, zu beordern und deren gesicherte Heranziehung durch gesetzliche Regelungen zu ermöglichen. Das derzeitige Konzept der Reserve des Sanitätsdienstes generiert nur unzureichend Reservedienstleistende für die medizinisch-fachlichen und approbierten Dienstposten. Alle geeigneten Reservedienstleistende sind in allen Phasen im Zivilen hauptberuflich in Gesundheits(fach)-berufen oder im Ehren- bzw. Nebenamt eingesetzt. Beide Seiten greifen sozusagen in denselben Topf.
Der Aufwuchs im Bereich der Reserve gestaltet sich daher bei insgesamt gesamtstaatlicher Ressourcenknappheit des erforderlichen Fachpersonals schwierig. Konsequenterweise muss somit die Dienstposten-Besetzung im Wesentlichen mit zusätzlich aktivem Personal berücksichtigt werden. Der Planungsrahmen für den ZSanDstBw ist demnach anzupassen. Diese Herausforderung besteht auch im „Kampf“ um querschnittliche Fachkräfte, etwa für Feldlagerbetrieb, IT, Versorgung und Verpflegung. Mangels Rückgriffes auf verfügbares Fachpersonal aus dem zivilen Gesundheitssystem ist die Ausplanung nicht-aktiver Truppenteile für den ZSanDstBw entlang der Konzeption der Reserve ebenfalls nur begrenzt anwendbar. Es ist daher von großer Bedeutung, die Kooperationen mit Kliniken in Netzwerken und Verbünden weiter zu verstetigen und auch die Einbindung des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) auf ein breiteres und belastbares Fundament als bislang zu stellen. Der ZSanDstBw muss daher seine Bemühungen um Verstärkungskräfte nicht nur hinsichtlich Einzelpersonal intensivieren, sondern vor Allem eine enge Zusammenarbeit mit Einrichtungen und Organisationen im Sinne eines belastbaren und aufwuchsfähigen Wirkverbundes Gesundheitsversorgung in Deutschland anstreben.
Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr
Dr. Kai Schmidt, M.Sc.
Oberstarzt
Von-Kuhl-Str. 50
OT Falckenstein-Kaserne
56070 Koblenz