03.10.2018 •

„…mit Stolz, aber auch Bescheidenheit dem Wohle unserer Patienten dienen.“

Interview Frau Heike Lange, Geschäftsführung Beta Verlag, und Flottenarzt Dr. Volker Hartmann, Chefredakteur WM, mit dem Inspekteur des Sanitätsdienstes, Generaloberstabsarzt Dr. Michael Tempel

WM: Sehr geehrter Herr Generalarzt, Ende September 2018 werden Sie nach über dreijähriger Amtszeit als Inspekteur des Sanitätsdienstes in den Ruhestand treten. Wie beurteilen Sie diese Zeit, was konnten Sie erreichen und worin liegen die Herausforderungen für Ihren Nachfolger?

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Generaloberstabsarzt Dr. Michael Tempel im Gespräch mit dem Chefredakteur, Flottenarzt Dr. Volker Hartmann, und der Verlegerin, Heike Lange (Abb.: Beta Verlag)
Generaloberstabsarzt Dr. Tempel: Die Frage ehrt mich, wenn ich gleich zu Beginn gefragt werde, was ich als Inspekteur erreichen konnte. Selbstverständlich kann man Fortschritte immer nur im Team erlangen. Und ich hatte das große Glück, in diesen fordernden Jahren ein hervorragendes und schlagkräftiges Team von Soldatinnen und Soldaten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um mich zu haben. Darüber bin ich dankbar und das hat mir sehr geholfen, in dieser Zeit, die einiges an Anstrengungen gekostet hat, unsere Position auf vielen Gebieten zu erhalten und weiter auszubauen. Inhaltlich war es mir wichtig, die Rolle des Sanitätsdienstes mit dem ZSanDstBw als eigenständigem militärischen Organisationsbereich zu vertiefen und zu bekräftigen, denn der Zentrale Sanitätsdienst der Bundeswehr ist und bleibt ein Erfolgsmodell. Er hat sich allen Herausforderungen – sei es im Einsatz und im Inland – gestellt und diese hervorragend gemeistert. Wir sind bei den anderen TSK/OrgBereichen anerkannt und geschätzt und überzeugen mit unseren Leistungen und unserer Tatkraft. Natürlich freue ich mich sehr darüber, dass sich der Sanitätsdienst der Bundeswehr mit den Kliniken und in vielen Bereichen der Wissenschaft auf Augenhöhe mit der zivilen Gesundheitsversorgung befindet. Dies spielt auch eine große Rolle, sich gerade heute im Wettbewerb um die Besten als hochattraktiver Arbeitgeber zu präsentieren. Nämlich als ein Sanitätsdienst, der auch für Seiteneinsteiger und für unseren Nachwuchs, die studierenden Sanitätsoffizieranwärterinnen und –anwärter, attraktiv ist und bleibt. Und auf diesem Gebiet sind wir doch in den letzten Jahren relativ erfolgreich gewesen.

Was mich aber doch sehr bewegt und beschäftigt hat, war die „Refokussierung“, die Neuausrichtung der Bundeswehr und die Neuorientierung an den alten Themen Landes- und Bündnisverteidigung. Wer hätte tatsächlich vor 10 Jahren daran gedacht, dass dieser klassische Auftrag von Streitkräften erneut eine solchen Stellenwert bekommen wird? Nun muss man Altes wieder neu lernen. Es gilt als „Dienstleister“, neudeutsch als „Enabler“, insbesondere mit den Entwicklungen des Heeres und der Streitkräftebasis – den klassischen Landstreitkräften – vornehmlich im Hinblick auf Robustheit und Mobilität „Schritt zu halten“. Nur in einem ­engen Verbund im Rahmen der Fähigkeiten, der gemeinsamen Anstrengungen und dem Kennen der jeweiligen Abläufe wird es uns gelingen, die jetzige Leistungsstärke zu halten.

Schließlich ist auch die Internationalität ein bedeutender Bereich, den wir in den letzten Jahren intensiv weiterentwickelt und nach vorne gebracht haben. Ohne die Multinationalität geht es im Sanitätsdienst, wie auch in anderen Bereichen, nicht mehr. Wir konnten damit nicht nur gute Beziehungen zu vielen unserer Partner aufbauen, sondern sie hat uns auch die Chance gegeben, zu zeigen, was wir können und damit eine gewisse Vorreiterrolle in vielen Bereichen der sanitätsdienstlichen Versorgung einzunehmen. Um die Operationsfähigkeit der Sanitätsdienste effektiv und zielorientiert zu gewährleisten, wird nun unter unserer Federführung ein multinationales Planungselement aufgestellt und zusammen mit unseren Framework Nation Concept (FNC) - Partnern betrieben. Hauptaufgabe des aufzustellenden Multinational Medical Coordination Center (MMCC) wird die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für die multinationale sanitätsdienstliche Unterstützung von Streitkräften im gesamten Aufgabenspektrum sein, also eine Fähigkeitsbündelung, eine Art Drehscheibe sowohl für die NATO als auch für EU Operationen. Damit forciert das MMCC die bereits stattfindende Entwicklung hin zu deutlich mehr internationaler Zusammenarbeit und wirkt als Katalysator im Bereich Capability Enhancement. Der Aufstellungsstab dieses neuen Elementes wurde im April 2018 in Dienst gestellt. Die Aufgabe besteht in der ressourcenschonenden Vernetzung bestehender und neuer Expertiseträger und der entsprechenden Koordinierung der Arbeit, alles in allem ein wirkliches Riesenprojekt, das wir erfolgreich auf den Weg gebracht haben. 

Ein weiteres Highlight, das mich sehr beschäftigt hat und das auch meinen Nachfolger noch sehr beschäftigen wird, ist die Digitalisierung. Das Programm zur Digitalisierung der Gesundheitsversorgung der Bundeswehr wird im Rahmen der IT-Strategie des BMVg durchgeführt. Es soll in den Jahren 2018 - 2020 die notwendigen Voraussetzungen für eine durchgehende, prozessorientierte Digitalisierung der Gesundheitsversorgung der Bundeswehr schaffen. Wir sprechen also von weit mehr als der elektronischen Patientenakte. Vielmehr ist die Digitalisierung der Daten der Gesundheitsversorgung der Bundeswehr (GesVersBw) ein entscheidendes Zukunftsprojekt, das sich in die noch in der Entwicklung befindliche Gesamtarchitektur des Geschäftsbereichs BMVg integrieren wird. Es gilt, das hochkomplexe Gesamtsystem der GesVersBw, seine notwendigen Informationsbedarfe und -flüsse und seine operativen Anforderungen sowie die zugehörige bestehende IT-Landschaft nach den Vorgaben des NATO Architec­ture Framework abzubilden, um anschließend übergreifend die GesVersBw, inklusive deren IT-Systemarchitektur und IT-Projekte zu planen und zu steuern.

Sie sehen, dass auch mein Nachfolger viele herausfordernde Projekte, die in den letzten Jahren begonnen worden sind, fortführen wird: Denn tatsächlich gibt es heutzutage kaum noch Themen, die in der Dienstzeit eines einzigen Inspekteurs so gestaltet werden können, dass sie dann auch zu einem Abschluss kommen. Auch das ist ein Zeichen unserer immer komplexeren Zeitumstände.

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Generaloberstabsarzt Dr. Michael Tempel (Abb.: PIZSanDst)
WM: Sie haben sich in Ihrer Amtszeit immer für eine weitere Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit zwischen den Sanitätsdiensten der Partnernationen eingesetzt. Mit im Fokus der letzten Jahre stand die Kooperation mit dem Sanitätsdienst der französischen Armee. Wie schätzen Sie das bisher Erreichte ein und welche Perspektiven bieten sich für die Zukunft?

Generaloberstabsarzt Dr. Tempel: Multinationalität ist eine strategische Norm innerhalb der Bundeswehr. Die alltägliche Zusammenarbeit mit unseren multinationalen Partnern in unseren Einsätzen und einsatzgleichen Verpflichtungen ist zudem heutiges Wesensmerkmal des Zentralen Sanitätsdienstes. Noch mehr als in anderen TSK/milOrgBer reicht diese Zusammenarbeit bis auf Teileinheitsebene in den Sanitätskompanien. Auch in der internationalen Kooperation gibt es eine Vielzahl von Nationen, mit denen wir u. a. wehrwissenschaftlich verbunden sind. Diese vielfältigen Aktivitäten folgen einer jährlichen Länderpriorisierung des Kdo SanDstBw. Ein herausragendes Kooperations­interesse besteht, neben den USA und auch den Niederlanden, mit dem französischen Sanitätsdienst. Wir blicken gemeinsam mit den Franzosen auf einen sehr starken sanitätsdienstlichen Verbund. Der deutsche und der französische Sanitätsdienst sind leistungsfähige, große Sanitätsdienste, bei denen vielleicht nicht die gleiche Sprache gesprochen wird, wenn es um ­bloße Kommunikation geht, aber wir haben absolut die gleiche Diktion, wenn man das Verständnis von sanitätsdienstlicher Versorgung bei Truppenkörpern, von gemeinsamen Forschungsprojekten, vom Austausch von Studenten und insbesondere von der Zusammenarbeit in den Einsätzen als Maßstab nimmt. Seit Jahren treffen wir uns auf Generalsebene mit dem französischen Sanitätsdienst, die Inspekteure mit ihren engsten Stäben, um dort im unmittelbaren Kontakt Herausforderungen anzugehen, Probleme zu lösen und auch die gewonnene Freundschaft weiter zu vertiefen. Exemplarisch für die gute Zusammenarbeit soll hier auch die nachhaltige Vertiefung der Arbeitsbeziehungen der Bundeswehrkrankenhäuser mit ihren Partnerhäusern in Frankreich zu einem „erweiterten Systemverbund Krankenhäuser“ genannt werden, um eine noch verbreiterte und effizientere Basis für eine gemeinsame Ausbildung, einschl. des wichtigen SanOA-Austausches, zu schaffen. Selbstverständlich gehört hier auch die verstärkte gemeinsame klinische Forschung dazu.

WM: Sie pflegten stets ein enges Verhältnis zu wichtigen Angehörigen des US-amerikanischen Sanitätsdienstes.

Generaloberstabsarzt Dr. Tempel: Die Franzosen sind sicherlich unser größter Partner in Europa. Wenn wir von Multinationalität reden, darf man aber nicht vergessen, dass der wichtigste Hauptverbündete nach wie vor die Amerikaner bleiben werden. Die Sanitätsdienste der Vereinigten Staaten von Amerika haben sich uns in jahrzehntelanger Verbundenheit unverändert als ein ebenso hochleistungsfähiger wie verlässlicher Partner gezeigt. Aus den vielfältigen dienstlichen Kontakten sind über die Jahre natürlich auch enge persönliche Bindungen erwachsen. Auch durch meine Prägung als Verbindungsoffizier in San Antonio vor über 25 Jahren habe ich natürlich einen sehr profunden Einblick in die amerikanischen sanitätsdienstlichen Systeme und durchaus auch eine gewisse Affinität zu unseren amerikanischen Partnern. Ich bin gerade vor einigen Tagen von einer Dienstreise aus den USA zurückgekommen, habe mich dort im Pentagon abgemeldet, aber auch Gespräche geführt mit meinen sanitätsdienstlichen Counterparts. Sie sind ausgesprochen fruchtbar und offen gewesen. Auf unserer Ebene gibt es keine Unstimmigkeiten, so hat sich in den vergangenen Jahren auch die bilaterale Zusammenarbeit mit der US Army Europe, die im Schwerpunkt ja unverändert in Deutschland stationiert ist, weiter vertieft. Dies hat sich auch kürzlich wieder in der Teilnahme des SanRgt 2 an der US-Sanitätsübung „Maroon Surge“ gezeigt. Das KdoSanEinsUstg ist dazu eng mit der 30 Medical Brigade der USAREUR verbunden, ebenso wie das BwZKhrs Koblenz mit dem Landstuhl Regional Medical Center in der Pfalz. Nicht zu vergessen ist auch die intensive Kooperation im Bereich der wehrmedizinischen Forschung, so dass sich die Verbindung unserer Sanitätsdienste mit Fug und Recht als eng und vertrauensvoll darstellt. Ich möchte aber betonen, dass im Zusammenhang mit der internationalen Zusammenarbeit natürlich nicht nur die Amerikaner und die Franzosen genannt werden dürfen, sondern auch die Sanitätsdienste der kleineren Partnernationen wie die Niederländer oder Ungarn, mit denen wir höchst wirkungsvoll in gemischten OP-Teams in den Auslandseinsätzen stehen.

WM: Die aktuellen Fähigkeiten des deutschen Sanitätsdienstes sind über Jahrzehnte an die Erfordernisse in den Einsätzen auf dem Balkan, im Mittleren Osten und in Afrika angepasst worden. Welche Modelle gibt es nun – in groben Zügen – die Fähigkeiten für die neuen Einsatzoptionen, v. a. hinsichtlich ausreichender Kapazitäten bei erhöhtem Verwundetenaufkommen, personell und materiell zu erreichen?

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InspSan beim Truppenbesuch im Auslandseinsatz (Abb.: PIZSanDst)
Generaloberstabsarzt Dr. Tempel: Wir unterscheiden uns im Sanitätsdienst natürlich nicht von den anderen Bereichen der Bundeswehr. Zur Bewältigung der neuen Herausforderungen bei der Landes-/ Bündnisverteidigung bedarf es eines streitkräftegemeinsamen Ansatzes. Das heißt, wie ich vorhin schon angesprochen habe, wir müssen alte Lektionen wieder neu lernen. Bei der qualitativen und quantitativen Ausplanung, bei Personal und Material, wird es einen engen Schulterschluss mit den anderen TSK/ MilOrgBer geben, insbesondere dem Hauptbedarfsträger Heer. Ich stehe hierzu in sehr engem Kontakt mit dem Inspekteur des Heeres, um auf der einen Seite unseren Bedarf zu artikulieren, aber auch um notwendige Rüstungsprojekte in einem gemeinsamen Ansatz voranzubringen. Dabei ist der überwiegende Teil der Fähigkeiten auch für die Rettungskette durchaus vorhanden bzw. sind die notwendigen Rüstungsprozesse angeschoben. Es gilt nun im engen Schulterschluss mit BMVg, PlgABw und BAAINBw die Prozesse umzusetzen, zu finalisieren und Systeme in Nutzung sowohl qualitativ als auch in ihrer Summe zukunftsfähig zu machen. Für den Sanitätsdienst heißt dies natürlich auch, trotzdem präsent und leistungsfähig in den weiter laufenden Auslandseinsätzen zu bleiben. Auf die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit zwischen den Sanitätsdiensten gerade bei der Refokussierung habe ich schon hingewiesen. Wir stehen aber auch in engem Kontakt zu staatlichen Hilfsorganisationen, wie dem Deutschen Roten Kreuz, um Ressourcen für einen Verwundetenanfall in Europa zu identifizieren und vertraglich auszuplanen. Im Hinblick auf die Fachliche Leitlinie des Sanitätsdienstes der Bundeswehr möchte ich ausdrücklich betonen, dass man Bewährtes nicht ohne Not ändern darf. Sie ist unverändert gültig, gleich, in welchem Szenario wir uns bewegen. Gerade bei einem möglichen Konflikt in Europa halte ich die Maxime für fast noch selbstverständlicher als für die Auslandseinsätze.

WM: In den letzten Jahren sind auch im Sanitätsdienst vielfältige Maßnahmen zur Sicherung der Personalgewinnung und –bindung, zur Verbesserung der materiellen und sozialen Bedingungen und der Vereinbarkeit Familie und Dienst ergriffen worden. Wie bewerten Sie den Erfolg dieser Maßnahmen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Personallage und der Stimmung in der Truppe? 

Generaloberstabsarzt Dr. Tempel: Die Anstrengungen der letzten Jahre, den Dienst im Sanitätsdienst der Bundeswehr, auch im Vergleich zu der Arbeit im zivilen Gesundheitsbereich, attraktiver zu gestalten, zeigen doch deutliche Wirkung.

Im Rahmen der Neuausrichtung der Bundeswehr kam es zu einer nicht unerheblichen Erhöhung des Bedarfs an medizinischem Personal verschiedenster Berufe; ärztlich und nicht-ärztlich, approbiert und aus den Assistenzberufen. Dieser Aufwuchs konnte nicht ad hoc mit bereits qualifiziertem Personal gedeckt werden und so musste ein Großteil davon über Studium und Ausbildung selbst generiert und ausgebildet werden. Das nimmt Zeit in Anspruch. Aber dieses Personal kommt nun nach und nach in der Truppe an und so verbessert sich die Personallage zusehends. Die getroffenen Maßnahmen waren insoweit richtig und wichtig.

Aber auf dem, was wir bisher erreicht haben, ruhen wir uns, auch trotz guter Bewerberzahlen nicht aus, sondern arbeiten ständig daran, uns weiter zu optimieren. Neben einem verbesserten Besoldungsangebot (Rettungsmediziner- und Facharztzulage, Verpflichtungsprämien, transparente Privatliquidations- und Beteiligungsregelungen, Verbesserung der Vergütung von Ruf- und Bereitschaftsdiensten, die nicht in Freizeit abgegolten werden können), werden verstärkt auch nicht-monetäre Anreize eingesetzt. Ich denke hier an ein verstärktes Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebot sowie die konsequente Umsetzung arbeitszeitrechtlicher Regelungen.

Auch die Vereinbarkeit von Familie und Dienst im Sanitätsdienst wurde und wird stetig verbessert. Bei 40 % Frauenanteil ist dies auch absolut notwendig. Beispielhaft dafür sei genannt, dass den Beschäftigten der Bundeswehrkrankenhäuser Koblenz und Ulm nunmehr insgesamt 104 Kinderbetreuungsplätze in bundeswehrnahen Kindertagesstätten zur Verfügung stehen. In Berlin entsteht am Bundeswehrkrankenhaus eine Kindertagesstätte mit 46 Plätzen, deren Inbetriebnahme im Herbst 2018 geplant ist.

Insbesondere in den Regionalen Sanitätseinrichtungen haben wir den Anteil an länger besetzbaren Dienstposten erhöht. Die konsequente Nutzung der bestehenden Möglichkeiten nach Einrichtung von Kompensationsdienstposten trägt sowohl zur einfacheren Inanspruchnahme von Teilzeit als auch zur Entlastung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei. Dies gestattet durch individuellere Dienstzeitmodelle eine zeitgemäße Gestaltung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Nicht zuletzt möchte ich auch auf die vergleichsweise attraktiven Arbeitsbedingungen, z. B. im truppenärztlichen Bereich, hinweisen. Zudem sehe ich für einen jungen Sanitätsoffizier auch die Bewährung in einem anspruchsvollen Auslandseinsatz als Attraktivitätsmerkmal an.

WM: Das berufliche Selbstverständnis der Angehörigen des Sanitätsdienstes, seine Wurzeln in der deutschen Militärgeschichte, aber auch die besonderen ethischen Verpflichtungen für das Sanitätspersonal im Einsatz wurden in den letzten Jahren immer wieder in unterschiedlichen Foren diskutiert. Wie sehen Sie den Sanitätsdienst auf diesem Gebiet auch vor dem Hintergrund neuer Aspekte in den kürzlich in Kraft getretenen Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege aufgestellt?

Generaloberstabsarzt Dr. Tempel: Der Sanitätsdienst der Bundeswehr kann auf eine eigene Tradition zurückblicken, die 60 Jahre alt ist. Was in der Heimat und in den Einsätzen über Jahrzehnte geleistet wurde, ist vorbildlich und traditionsstiftend – und wir alle können darauf stolz sein. Diese 60 Jahre stellen auch einen Zeithorizont dar, den unser Nachwuchs, unsere Jugend überblicken und verstehen kann. Für uns gilt es, dies glaubwürdig zu vermitteln. Vor dem Hintergrund des neuen Traditionserlasses werden wir deshalb in naher Zukunft die Traditionslinien des Sanitätsdienstes noch konkreter herausarbeiten und formulieren. Denn wir möchten im Ergebnis allen Angehörigen des Sanitätsdienstes zusätzliche Orientierung und weitere Anreize zur Identifikation mit ihrem besonderen Dienst zu geben. Dabei ist die Bindung an das humanitäre Völkerrecht und an die Humanitas für uns stets eine Selbstverständlichkeit gewesen und wird es auch in Zukunft sein. Die Diskussion über das berufliche Selbstverständnis der Angehörigen des Sanitätsdienstes hat angesichts veränderter Rahmenbedingungen durch die Einsätze der vergangenen Jahre natürlich Fahrt aufgenommen und sicherlich auch eine Wendung erfahren. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Frage nach den Grenzen des Waffeneinsatzes des Sanitätspersonals, das aufgrund der Gefährdungen im Einsatzland nun auch intensiv und gut infanteristisch ausgebildet wird. Dies kann natürlich die Gefahr in sich bergen, trotz des Nichtkombattantenstatus in Grenzsituationen zu geraten, in denen das eigene Handeln im Hinblick auf die ethische und rechtliche Vertretbarkeit abgewogen werden muss. Um die Soldatinnen und Soldaten dazu in die Lage zu versetzen, bedarf es einer intensiven Vermittlung völkerrechtlicher Grundlagen, historischer Zusammenhänge und medizinethischer Fragestellungen. Es ist auch sehr wichtig, zu wissen, wer man ist, wo man herkommt und wofür man einsteht und kämpft. Daher haben wir bereits vor drei Jahren ein unter unserem Wahlspruch „Der Menschlichkeit verpflichtet.“ stehendes neues Leitbild des Sanitätsdienstes der Bundeswehr entwickelt. Wir sind also auf einem guten Wege.

WM: Sie sind 1973 zunächst als Fallschirmjäger in die Bundeswehr eingetreten, haben seither viele entscheidende Momente in der Geschichte der Bundeswehr und ihres Sanitätsdienstes in leitender Funktion miterlebt und mitgestaltet. Beim Blick zurück, welche Ereignisse sind Ihnen als besondere Wendepunkte in Erinnerung geblieben?

Generaloberstabsarzt Dr. Tempel: Wenn man wie ich 1973, noch in der Zeit der Ost-­West-Spannungen, in der Zeit des Bedrohungspotenzials durch den Warschauer Pakt Soldat geworden ist, war natürlich der Mauerfall und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ein überwältigendes Ereignis. Diese politische Entwicklung, diese Deeskalation in ganz Europa, die Auflösung der Sowjetunion, hatten wir noch wenige Jahre zuvor nicht für möglich gehalten. Und natürlich auch die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 sind mir – wie wahrscheinlich den meisten von uns unauslöschbar in Erinnerung, auch deswegen, weil daraus größte Folgerungen für die Struktur der Bundeswehr und des Sanitätsdienstes erwachsen sind. Die ganze Professionalisierung, die langen und komplexen Neustrukturierungsprozesse der Streitkräfte, die Auslandseinsätze oder auch die Selbstständigkeit des Sanitätsdienstes, hatten in solchen Ereignissen mit ihre Ausgangspunkte. Und nun erleben wir wieder die Hinwendung zur Landes- und Bündnisverteidigung, ein Szenario, das für uns vor 1989 schon einmal prägend gewesen ist.

WM: Auch in vielen Einsätzen sind Sie im Laufe der Jahre in Führungspositionen tätig gewesen. Welche ihrer Auslandseinsätze haben Sie rückblickend gesehen am meisten bewegt und geprägt?

Generaloberstabsarzt Dr. Tempel: Natürlich hat mich mein erster Einsatz in Kambodscha Anfang der neunziger Jahre – wie übrigens alle damals Beteiligten – sehr geprägt. Ich hatte das Privileg, dort als Kommandeur eines der drei Kontingente zu dienen. Dieser erste UN Einsatz, ein humanitärer Einsatz, noch dazu kurz nach der Wiedervereinigung, eignete sich natürlich nicht als Blaupause kommender Einsatzszenarien. Aber es war von allen Soldaten ein großer Pioniergeist, eine Notwendigkeit zur größten Improvisation gefordert. Die Bundeswehr ist damals vollkommen unerfahren gewesen mit allen Notwendigkeiten, die ein solcher Einsatz mit sich bringt. Und die Bewährung in einer solchen herausfordernden Situation ist natürlich sehr prägend gewesen. Aber auch der Einsatz 1995 auf dem Balkan hat mich sehr bewegt. Der Zerfall dieses auf den ersten Blick stabilen Staates Jugoslawien mit der folgenden brutalen Kriegsführung innerhalb seiner Ethnien war für uns Mitteleuropäer kaum nachvollziehbar. Ich bin zu einer Zeit heftiger Kämpfe dort gewesen und ich erinnere mich an das schwere Artilleriefeuer um Sarajevo, das aussah wie ein Wetterleuchten in der Ferne. Natürlich hat auch heute noch jeder Einsatz seine Besonderheiten und prägt junge Menschen nachhaltig.

WM: Auf Ihren hohen Positionen im Sanitätsdienst standen Sie über Jahre unter dem Diktat vielfältiger Aufgaben und eines stets vollen Terminkalenders. Wie werden Sie nach der Zurruhesetzung Ihr Leben gestalten?

Generaloberstabsarzt Dr. Tempel: Tatsächlich bin ich in den letzten Jahren wahrscheinlich in über 90 Prozent nicht Herr meiner eigenen Termine und meiner eigenen Zeit gewesen. Ich freue mich, wenn dies nun erst einmal etwas nachlässt. Ganz sicher weiß ich, dass die Familie zu kurz gekommen ist in den letzten Jahren, um nicht zu sagen Jahrzehnten. Familie heißt jetzt natürlich für mich in meinem Altersband und am Ende meiner Laufbahn auch: sich um Enkel kümmern. Aber ich weiß auch, dass ich beruflich von hohen Drehzahlen nicht auf Leerlauf umschalten kann, sondern selbstbestimmt auch künftig Herausforderungen annehmen möchte – ohne mich freilich vereinnahmen zu lassen.

WM: Was möchten Sie als scheidender Inspekteur des Sanitätsdienstes an dieser Stelle den Leserinnen und Lesern der Zeitschrift WEHRMEDIZIN UND WEHPHARMAZIE als persönliche Botschaft mit auf den Weg geben?

Generaloberstabsarzt Dr. Tempel: Die meisten Leserinnen und Leser sind ja aktive oder ehemalige Soldatinnen und Soldaten des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, von denen ich im Laufe meiner Dienstzeit viele kennenlernen durfte. Solche menschlichen Begegnungen, z. B. im Rahmen meiner Dienstaufsichtsbesuche und Dienstreisen, haben mich immer sehr beeindruckt. Es war für mich eine große Freude, in dieser Zeit auf hochmotivierte Angehörige des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zu treffen, die Tag für Tag „ihr Bestes“ geben, jeder nach seiner Ausbildung und auf seinem Dienstposten. Ich habe dies in allen Bereich erleben dürfen, sei es in den Regimentern, in den Krankenhäusern zu Hause und den Behandlungseinrichtungen im Einsatz, in den Instituten, in den Kommandostäben, der Akademie und in allen anderen Bereichen, die hier nicht genannt – aber nicht weniger wichtig sind. Dafür möchte ich mich bedanken. Ein Inspekteur kann nur so gut sein wie die Menschen, die er führen darf. Es war für mich ein Privileg auf diesem Dienstposten zu dienen und sie alle, diese Männer und Frauen da draußen, zu führen, die tapfer jeden Tag weltweit, aber auch im Inland, ihren Dienst verrichten. Ich glaube, dass sie alle stolz darauf sein können, Angehörige des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zu sein, um – und auch das ist mir wichtig – mit Stolz, aber auch Bescheidenheit dem Wohle unserer Patienten zu dienen. 

WM: Herr Generalarzt, wir bedanken uns bei Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen für die Zukunft nur das Beste. 

Datum: 03.10.2018

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