INTERVIEW MIT DEM AMTSCHEF SANITÄTSAMT DER BUNDESWEHR, GENERALSTABSARZT DR. JÜRGEN DICK
WM: Herr Generalarzt, wie schätzen Sie die derzeitige Ausbildungssituation für die Auslandseinsätze der Bundeswehr ein?
GenStArzt Dr. Dick: Zurzeit stehen das Vermitteln und Üben von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die man vor allem im Rahmen der präklinischen Einsatzversorgung braucht, sehr stark im Fokus der Ausbildung. Dies umfasst die Bergungs- und Rettungsmaßnahmen beginnend am Ort der Verwundung im Rahmen der Selbst- und Kameradenhilfe durch alle Soldaten, die zum Ersthelfer A ausgebildet sein müssen, die erweiterten lebensrettenden Maßnahmen durch die sogenannten Ersthelfer B der ( Kampf-)Truppe bis zum Eintreffen von Sanitätspersonal und die erste sanitätsdienstliche Versorgung durch die Rettungsassistenten der Rettungstrupps oder durch den Beweglichen Arzttrupp (BAT). Hinzu gehört auch die Ausbildung in und für die weiteren Schritte der Rettungskette, also organisatorische Koordination und Steuerung des MEDEVAC, Herstellen der Transportfähigkeit und Behandlungsmaßnahmen während des Transportes, sei es landgestützt mit geschütztem Verwundetentransportraum oder mit Hubschraubern, direkt oder indirekt über eine Rettungsstation bis in eine Sanitätseinrichtung der Ebene 2 mit der Möglichkeit zu lebensrettenden chirurgischen Behandlungsmaßnahmen.
In dieser fachlichen rettungsmedizinischen und sanitätsdienstlichen Ausbildung haben wir zuletzt Vieles umgestellt, weiterentwickelt, neu eingeführt und sind auf einem guten Weg, sodass ich die Ausbildungssituation unter diesem Aspekt bereits als „gut“ bewerten kann - auch wenn hier noch genügend Raum für Steigerungen möglich sind wie z.B. eine weitere Ausrichtung der bereits eingeleiteten Ausbildung auf Fähigkeiten, die unter Friedensbedingungen dem Arzt vorbehalten sind, die aber unter Einsatzbedingungen, weil wir es einfach nicht mehr leisten können, auf unsere Rettungsassistenten im Rahmen der Notkompetenz übertragen werden können. Wir schaffen es einfach nicht mehr, überall den beweglichen Arzttrupp sofort beim Verwundeten zu haben. Sie kennen ja die Richtlinie der platinum ten minutes, manche sagen sogar platinum five minutes. Spätestens nach 10 Minuten muss eine qualifizierte Erstversorgung im Sinne von lebensrettenden Maßnahmen geleistet werden. Und dies muss nun auch im Notfall in entsprechenden Gefechtssituationen der zum „Einsatzersthelfer B“ oder „Combat First Responder“ ausgebildete Nichtsanitäter im Stande sein, zu leisten. Diese Ersthelfer B-Ausbildung findet bereits seit Januar in unseren Rettungsdienstschulen statt. Die Ausbildung verläuft in sehr qualifizierter Form, vor allem auch mit sehr hoher Akzeptanz seitens der Truppe, die ihre Leute als Lehrgangsteilnehmer dorthin schickt.
WM: Wie beurteilen Sie denn den Stand der Ausbildung für unsere Sanitätsoffiziere?
GenStArzt Dr. Dick: Wir haben ja nach wie vor aus meiner Sicht das Manko, dass die primäre Basisausbildung unserer Sanitätsoffizieranwärter eigentlich relativ kurz ist. Das ist ein Problem der verfügbaren Zeit. Das heißt, wenn wir die Ausbildung länger machen, müssen wir in irgendeiner Form hinterher „Nutzungszeit“ als Sanitätsoffizier abzweigen. Ideal wäre aus meiner Sicht eine einjährige Ausbildung vor dem Studium, aber das ist zur Zeit nicht zu realisieren. Wir haben, jetzt seit einem Jahr eingeführt, die postuniversitäre modulare Ausbildung (PUMA) mit verschiedenen Modulen, in denen der junge Sanitätsoffizier zum optimalen Zeitpunkt die Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt bekommt, die er für die anstehende Verwendung benötigt, z.B. vor der Truppenarztverwendung das notwendige fachliche Rüstzeug, um als Truppenarzt eingesetzt zu werden wie u.a. die Befähigung, auch als militärischer Vorgesetzter zu agieren oder Führungs- und Einsatzgrundsätzen anwenden zu können. Was auch mittlerweile obligat in die Ausbildung der Sanitätsoffiziere integriert ist, ist die Ausbildung zum Rettungsmediziner mit entsprechenden praktischen Anteilen an den Bundeswehrkrankenhäusern. Damit soll erreicht werden, dass das nach wie vor bestehende Problem der personellen Durchhaltefähigkeit gerade im Bereich Rettungsmedizin abgebaut wird. Entsprechend ausgebildete Sanitätsoffiziere benötigen wir ja vorrangig im Einsatz vor allem zur Besetzung unserer beweglichen Arzttrupps.
WM: Wie sieht es dann mit der Vorbereitung auf die Auslandseinsätze aus?
GenStArzt Dr. Dick: Ein wesentlicher Aspekt ist die Einsatzvorbereitende Ausbildung (EVA). Wir haben relativ früh erkannt, spätestens mit Etablierung der Quick Reaction Forces, dass wir die sogenannte Kohäsionsausbildung mit der Truppe deutlich verbessern müssen. Wir hatten von Anfang an die entsprechenden Ausbildungsabschnitte am Gefechtsübungszentrum des Heeres (GÜZ) für die bewegliche Sanitätskompanie, die ja Komponente dieser QRF ist. Wir haben diesen Ausbildungsabschnitt seit etwa einem halben Jahr auch obligat für die komplette Medevac- Kompanie des Einsatzsanitätskontingents übernommen. Das Konzept sieht zur Zeit so aus, dass zunächst die individuelle Ausbildung durchlaufen wird, die so genannte ZAEAKK bei uns am Zentrum für Einsatzausbildung und Übungen des Sanitätsdienstes (ZEUS), wo primär die Teamausbildung vor allem im Bereich der sanitätsdienstlichen Maßnahmen im Einsatz trainiert wird. Anschließend werden sie dann mit der im Einsatz zu versorgenden Truppe zusammengeführt, wo dann die entsprechende Ausbildung am GÜZ gemeinsam verläuft.
Für die Zukunft ist es sogar vorgesehen, dass diese Medevac-Teams ein halbes Jahr vorher komplett mit der Truppe trainieren, um damit die erwähnte Kohäsionsausbildung sicherzustellen. Sie müssen aber erst einmal die individuelle fachliche Ausbildung sichergestellt haben, dann die sanitätsdienstliche Teamausbildung, und erst wenn das steht, können sie letztendlich diese sanitätsdienstlichen Teams mit der zu versorgenden Truppe zusammenbringen. Was wir brauchen, ist ein „train as you fight“, wir brauchen aber nicht zwingend ein „organize as you fight“. Das heißt, um diese Kohäsionsausbildung sicherzustellen, ist es nicht erforderlich, dass die Sanität der entsprechenden Truppe schon in der Friedensstruktur unterstellt ist. Das kann aus einem starken einheitlich geführten Sanitätsdienst heraus sehr viel effektiver geleistet werden.
WM: Herr Generalarzt, es werden immer Stimmen laut, die den Sanitätssoldaten im Einsatz zwar eine gute fachliche Expertise bescheinigen, aber Zweifel an den militärischen Fähigkeiten äußern.
GenStArzt Dr. Dick: Wie bereits vorher angeschnitten: Das Entscheidende ist, dass die Kameradinnen und Kameraden, die primär in der MedEvac-Kompanie eingesetzt werden und als BAT zum Einsatz kommen, die notwendige militärische Handlungssicherheit benötigen. Das eine ist die schon erwähnte Kohäsionsausbildung, die muss und soll intensiviert werden. Was ebenfalls intensiviert werden muss, ist die Führerausbildung. Die Sanitätsoffiziere aber auch die als Rettungsassistenten eingesetzten Feldwebel müssen imstande sein, ihren Trupp zu führen und entsprechende Anweisungen zu geben. Sie müssen vor allem auch die allgemeinen soldatischen Fertigkeiten und Fähigkeiten beherrschen, das gehört dazu. Wir müssen in der Tat versuchen, für die entsprechende Ausbildung die erforderlichen Freiräume zu schaffen.
Wir haben ja zurzeit folgendes Problem: Einige unserer Rettungsmediziner kommen aus der Klinik, die Masse ist aber eingesetzt als Truppenarzt. Diese Tätigkeit per se bereitet in keinster Weise auf den Einsatz vor, es entsteht sogar sehr häufig eine Konkurrenzsituation mit dem Auftrag der sanitätsdienstlichen Versorgung am Heimatort.
Hier müssen wir Freiräume schaffen, damit das sichergestellt wird. Man muss ganz klar sagen: Ein Sanitätsoffizier, der ein halbes Jahr mit der Truppe übt, damit er nicht nur fachlich, sondern auch militärisch topfit ist und dann auch mit der entsprechenden Sicherheit in den Einsatz geht, kann nicht gleichzeitig die truppenärztliche Versorgung übernehmen, sondern er muss freigestellt werden. Diese Freiräume brauchen wir in der künftigen Struktur. Das führt zwangsläufig zur Fragestellung, ob dann wirklich noch die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung (UTV) insgesamt in der Fläche sicherzustellen ist, was ja nach wie vor angestrebt wird. Dennoch – im Zweifelsfall hat die Einsatzvorbereitung Vorrang, und dann muss eben an einzelnen Standorten u.U. die truppenärztliche Versorgung durch Vertragsärzte oder durch einen beauftragten Arzt, d.h. durch einen niedergelassenen Kollegen, wahrgenommen werden.
WM: Dies wird ja auch in vielen Bereichen schon so durchgeführt. Doch haben wir nicht auch ein Problem mit der Akzeptanz dieser Situation? Auf der einen Seite genießen wir eine hohe Reputation in den Auslandseinsätzen, auf der anderen Seite muss sich der Sanitätsdienst im Inland wiederholt Kritik gefallen lassen, er wäre schlecht organisiert. Wie passt das zusammen?
GenStArzt Dr. Dick: Sie meinen den zum Teil gebetsmühlenartig wiederholten Vorwurf, es seien zu viele Sanitätsoffiziere in Führungsbzw. OrgVerwendungen eingesetzt. Bereits mehrfach wurde klargestellt, nicht zuletzt durch unseren Inspekteur persönlich, dass nur 3 % unserer Sanitätsoffiziere (Arzt) auf Dienstposten eingesetzt sind, für die approbationsgebundene Kenntnisse hilfreich sind, die aber nicht zwingend die Approbation erfordern. Alle anderen, d. h. 97 % sind überwiegend im kurativen Bereich, zum Teil in der Prävention oder auf eindeutig approbationsgebundenen Dienstposten (z. B. gutachterlich) in Stäben tätig. Eine weitere Entlastung könnte hier die ja vorgesehene Einführung einer AVR für Truppenoffiziere im Sanitätsdienst bringen.
Im Übrigen gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder werden die entsprechenden Dienstpostenumfänge bereitgestellt und dann auch vorrangig, was zurzeit noch aufgrund des Fehls von über 350 Sanitätsoffizieren Schwierigkeiten bereitet, besetzt. Oder es muss eindeutig gesagt werden, dass die UTV nicht mehr in der Fläche in kleinen Standorten angeboten werden kann. Der Truppensanitätsdienst wird vor die Aufgabe der „Quadratur des Kreises“ gestellt. Die Soldatinnen und Soldaten des Truppensanitätsdienstes sollen neben den Abstellungen für die Einsätze die Heilfürsorge sicherstellen, die Leute müssen selbst gut ausgebildet sein, und zwar fachlich und militärisch, sie sollen Übungsunterstützung leisten, und müssen zusätzlich im Rahmen der einsatzvorbereitenden Ausbildung mit der Truppe zusammengeführt werden. Dann haben sie ja auch in großem Umfang Materialverantwortung. Das strukturelle Ausbringen von Einsatzelementen der Ebene 1 in der Sanitätstruppe, d. h. unseren Sanitätsregimentern, könnte hier Entlastung für die Regionalen Sanitätseinrichtungen bringen. Dort müssen auch große Teile der Ausbildung erfolgen, weil dort das entsprechende „Knowhow“ und die Ausbildungskapazitäten eher vorhanden sind. Ansonsten führt diese Vielfalt an Aufgaben für die Regionalen Sanitätseinrichtungen dazu, dass sie überdehnt werden. Da muss man klare Prioritäten setzen.
WM: Herr Generalarzt, das waren sehr klare Worte, für die wir sehr dankbar sind. Können Sie vielleicht schon ein Blick in die Zukunft wagen in Hinblick auf eine mögliche Aufgabenumverteilung für das Sanitätsamt?
GenStArzt Dr. Dick: Es ist ja wohl so gut wie entschieden, dass in der neuen Struktur Sanitätsführungskommando, Sanitätsamt und wesentliche Teile des Führungsstabes fusionieren. Wir müssen überlegen, welche Aufgaben in Zukunft auf welcher Ebene wahrzunehmen sind. Ich persönlich plädiere dafür, dass wir einige Aufgaben gerade im Bereich der Ausbildung, die zurzeit bei uns im Sanitätsamt wahrgenommen werden, dann in die Sanitätsakademie verlagern. Mit Sicherheit wird ein Modul Ausbildung auch im Bereich der dann neuen Höheren Kommandobehörde sein. Der ganze Bereich der Weiterentwicklung der Konzeptionen, Erstellung von Lehrplänen etc. sollte an der Akademie gemacht werden. Ich gehe ferner davon aus, dass der Akademie die drei Institute Medizinischer ABC-Schutz unterstellt werden. Die Sanitätsakademie wird nach meiner Vorstellung neben dem Hauptauftrag Ausbildung bzw. Lehre, dann mit Sicherheit als zweites Standbein die Forschung haben. Das macht Sinn, da Lehre und Forschung sich ja gegenseitig positiv beeinflussen sollen.
Was mir vorschwebt, ist weiterhin ein Institut Vorbeugender Gesundheitsschutz, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Diese Aufgaben können wir nicht auf verschiedene Bereiche verteilen, sondern sie müssen in einem Institut, das ist meine feste Überzeugung, zusammengefasst werden. Das könnte dann auch der Akademie unterstellt werden. Das sind alles Ideen, die ich auch schon eingebracht habe, aber es ist natürlich alles noch nicht entscheidungsreif. Was wir aber noch ergänzen sollten zum Thema Ausbildung bzw. Weiterentwicklung: Seit Juli haben wir im Sanitätsamt einen multidisziplinären Arbeitskreis Präklinische Versorgung neu etabliert. Darin sitzen u. a. Vertreter der Fachgebiete wie z. B. der Anästhesie, der Rettungsmedizin, der Chirurgie aber auch Einsatzplaner, Sanitätsoffiziere mit Führungsverantwortung und Vertreter der TSK. Die Zielrichtung dieses Arbeitskreises ist, orientiert am Lessons – Learned - Prozess, die systematische Auswertung der Einsatzerkenntnisse und Einsatzerfahrungen durch alle Beteiligten. Daraus leitet sich dann die Weiterentwicklung sowohl von Führungs- als auch Einsatzgrundsätzen ab. Daraus wird wiederum der Rüstungsprozess beeinflusst, gleiches gilt für Ausbildungsrichtlinien.
WM: Herr Generalarzt, wir bedanken uns, dass Sie sich die Zeit für dieses offene Gespräch genommen haben und wünschen Ihnen für die Herausforderungen der nahen Zukunft alles Gute!
Datum: 07.02.2011
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2010/4