01.01.2006 •

NRF: HERAUSFORDERUNGEN AUS WEHRPHARMAZEUTISCHER SICHT

Mit dem Beschluss der NATO-Partner zum Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe - NATO Response Force (NRF) in Stärke von etwa 21.000 Soldaten - auf dem NATO-Gipfel in Prag am 21./22. November 2002 hat sich auch Deutschland verpflichtet, wichtige militärische Beiträge als Truppensteller für die NRF-Kräfte zu leisten. Der Sanitätsdienst der Bundesweehr, als unverzichtbarer und wesentlicher Anteil duetscher NRF-Kräfte, muss sich diesen neuen Herausforderungen im multinationalen Umfeld stellen und seine Fähigkeiten an die neuen Aufgaben anpassen.

Rahmenbedingungen

Um rasch und flexibel auf Krisen reagieren zu können, sieht das Konzept für NRF vor, binnen fünf Tagen erste Verbände in jedes Krisengebiet der Welt verlegen zu können. Die NRF-Kräfte sollen in der Lage sein, rund 30 Tage autark im Operationsgebiet zu agieren. Das Auftragsspektrum reicht von der Evakuierung gefährdeter Zivilpersonen über Humanitäre Einsätze bis hin zum Einsatz als schnelle Eingreiftruppe zur Unterstreichung der Entschlossenheit der NATO. Der Einsatz kann in allen Klimazonen und mit unsicheren Unterstützungsmöglichkeiten durch das Einsatz- oder ggf. ein Gastland erfolgen. Die vorläufige NRF-Einsatzfähigkeit (Initial Operational Capability -IOC-) wurde im Oktober 2004 erreicht, die Erlangung der vollständigen NRF-Einsatzfähigkeit (Full Operational Capability -FOC-) ist für Oktober 2006 vorgesehen. Die NRF verfügt dann über Landstreitkräfte bis zur Brigadestärke, Seestreitkräfte bis zur Stärke einer „NATO Task Force“, einschließlich einer Flugzeugträgergruppe, sowie Luftstreitkräfte mit genügend Luftfahrzeugen und Führungseinrichtungen für 200 Einsätze pro Tag.

Zyklen

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Die Zusammenstellung der einzelnen NRF-Kontingente erfolgt in einem halbjährigen Rotationszyklus. Jedes Partnerland legt fest, ob und mit welchem militärischen Beitrag es sich beteiligen will. Die Land-, Luft- und Seestreitkräfte werden in einem Kräftekatalog (Combined Joint Status Of Requirement -CJSOR-) festgehalten. Der Phase der Alarmbereitschaft (stand-by) der NRF von sechs Monaten geht je eine halbjährliche Trainings- und Zertifizierungsphase mit festgelegten NATO-Standards voran. Im Falle eines Einsatzes stellt der Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) aus dem angezeigten Kräftedispositiv lagebezogen die benötigten Streitkräfte zusammen („tailored to the mission“). Mit der Aufstellung von NRF setzt die NATO ein sichtbares Zeichen ihrer Fähigkeiten und ihrer Entschlossenheit, die assignierten Kräfte im Krisenfall auch einzusetzen. (Abb. 1)

Bisherige Beteiligung deutscher Sanitätskräfte: Die NRF-Zyklen 1 und 2 galten als „Initial NRF“. Die deutsche Beteiligung erstreckte sich auf Marine- und Luftwaffenkräfte in einer Gesamtstärke von ca. 1.200 Soldaten. Der ZSanDstBw stellte die sanitätsdienstliche Versorgung der Lw-Kräfte in der Behandlungsebene 1 (Role 1) mit einer Rettungsstation (RS) sowie 3 SanTrp sicher. Im Zyklus NRF 3 (Juli bis Dezember 2004) - mit Erreichen der IOC NRF- beteiligte sich Deutschland mit einem vergleichbaren Kräfteansatz. Für den Zyklus NRF 4 (Januar bis Juli 2005) meldete Deutschland gemeinsam mit den Niederlanden das I. Deutsch-Niederländische Korps als Land Component Command (LCC, Kommando für Landstreitkräfte). Deutschland stellte in diesem Zeitraum den Großteil der Heereskräfte. Für die sanitätsdienstliche Versorgung (Role 2) der Landstreitkräfte wurde eine deutsch-niederländisch-belgische Medical Task Force (MedTF) aufgestellt, in der Deutschland die Funktion der Lead Nation übernommen hatte. Der deutsche Anteil der benötigten Kräfte wurde durch das Kommando Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst (Kdo SES) in Leer gestellt. Neben der Beteiligung an der MedTF stellte der ZSanDstBw die Kräfte zur Sicherstellung der sanitätsdienstlichen Versorgung Role 1 der übrigen deutschen Anteile an NRF 4.

Für alle NRF Zyklen gilt, dass die Evakuierung und erforderliche Repatriierung von Verwundeten und Verletzten (STATAIRMEDEVAC) in nationaler Zuständigkeit verbleibt. Die Bundeswehr verfügt hierfür über vielfach mit ausgezeichnetem Ergebnis erprobte Fähigkeiten. In den vergangenen Jahren konzentrierte sich der Sanitätsdienst neben dem Aufbau des eigenen Organisationsbereichs im Schwerpunkt auf die sanitätsdienstliche Versorgung der Stabilisierungsoperationen auf dem Balkan und in Afghanistan. Im Rahmen von NRF gilt es nun, unter Beibehaltung der anspruchsvollen Beteiligung in den Stabilisierungsoperationen, die Fähigkeiten zur sanitätsdienstlichen Unterstützung im mobilen Einsatz weiter auszubauen, die beteiligten Truppenteile entsprechend auszubilden und im NATO-Rahmen zu zertifizieren.

Die Sicherstellung der Auftragserfüllung der Wehrpharmazie

Im Folgenden wird exemplarisch anhand der Erfahrungen MedTF NRF 4 dargestellt, welche Problemfelder sich für die Wehrpharmazie, insbesondere in Bezug auf die Sanitätsmaterialversorgung, ergeben. Die Sicherstellung der Auftragserfüllung der Wehrpharmazie im Hinblick auf die Wahrnehmung öffentlich-rechtlicher Aufgaben im Bereich der Lebensmittelüberwachung sowie in der Untersuchung von Lebensmitteln sollen im Rahmen dieses Beitrages nicht näher betrachtet werden. Diesbezügliche Kräfte und Mittel werden in Anlehnung an die bisherigen Auslandseinsätze der Bundeswehr ausgeplant. Bei der Erfüllung des Auftrages MedTF, die sanitätsdienstliche Versorgung des Land Component NRF in der Role 2 sicherzustellen, muss je nach Einsatzoption davon ausgegangen werden, dass die zu versorgenden Kräfte in stark überdehnten Räumen disloziert sind und dass die operativen Rahmenbedingungen eine schnelle Beweglichkeit erfordern.

Kräfte des ZSanDstBw

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Abb. 2 stellt schematisch die MedTF NRF 4, einschließlich des deutschen Beitrags an den sanitätsdienstlichen Kräften, dar. (Abb. 2) Schwerpunkt der deutschen Kräfte bildeten neben der Stabs- und Versorgungskompanie eine Sanitätskompanie mit Rettungszentrum, leicht (RZ, le) – MSE - und Luftlanderettungszentrum, leicht (LLRZ, le) sowie eine MEDEVAC- (Medical Evacuation) Kompanie. Zur Sicherstellung der Versorgung mit Sanitätsmaterial wurden für das RZ, le eine Bundeswehrapotheke (Stärke 2/4/3//9) und für das LLRZ, le ein SanMatTrp (Stärke 0/1/1//2) ausgeplant. Zur Unterstützung des Umschlags von SanMat wurde für NRF 4 auf eine Nachschubeinrichtung SanMat als SanBasis Einsatzland verzichtet und lediglich ein Umschlagtrupp SanMat (Stärke 0/2/1//3) in der Stabs- und Versorgungskompanie MedTF ausgebracht. Im Rahmen der Zertifizierungsphase sollten der gewählte Ansatz überprüft und Defizite aufgezeigt werden.

Sanitätsmaterialversorgung
Im Rahmen der Sanitätsmaterialversorgung der deutschen Kräfte NRF ist es logistische Aufgabe der Wehrpharmazie, kontinuierlich während des gesamten Einsatzes sicherzustellen, dass:

  • ein in Qualität und Quantität dem Bedarf entsprechendes und im Spektrum den Bedingungen des Einsatzes angepasstes Sortiment an EVGSan zur Verfügung steht,
  • die Instandsetzung von Sanitätsgerät bis zur Materialerhaltungsstufe 3 im Einsatzgebiet durchgeführt werden kann, sowie
  • der rasche Ersatz von nicht im Einsatz instand zu setzendem Schadgerät NVGSan gewährleistet ist.


Die Versorgungsleistung ist für die deutschen Anteile MedTF sowie die nationalen Role 1-Einrichtungen zu erbringen.
Als Grundlage für die Aufstellung eines am Auftrag ausgerichteten Vorrates an EVGSan wurde SanABw im Vorfeld von NRF 4 gebeten, kurzfristig das erforderliche Artikelspektrum sowie einen zu erwartenden Verbrauch, hochgerechnet für 1000 Soldaten je Standardeinsatztag, festzulegen. Eine entsprechende Festlegung konnte nur unter Definition von Annahmen erfolgen, da entsprechende Erfahrungswerte für die Bundeswehr nicht vorliegen, unter anderem musste eine hohe Auslastung der OP-Kapazitäten zu Grunde gelegt werden. Auf der Basis der Arbeitsergebnisse des SanABw wurde SanKdo I, in Zusammenarbeit mit Kdo SES, beauftragt, ein Konzept für die Bevorratung EVGSan für NRF 4 sowie zur Regelung der Folgeversorgung SanMat zu erarbeiten. Bei der Ausplanung der Folgeversorgung war, neben der Regelung innerhalb des Einsatzgebietes, dem reibungslosen Zusammenwirken von SanBasis Inland und SanBasis Einsatzland eine besondere Bedeutung beizumessen. Im Rahmen von Packversuchen und während der Zertifizierungsübung „WHITE ROCK“ galt es, Teile dieses Konzeptes sowie den Ansatz von Kräften und Mitteln auf Einsatztauglichkeit zu erproben und die Erkenntnisse für zukünftige Planungen verfügbar zu machen.

Nachdem im Frühjahr 2004 die Gliederung der MedTF sowie die logistischen Rahmenbedingungen feststanden, begann auf der Ebene Kdo SES der detaillierte Planungsprozess für die Festlegung der EVGSan Ausstattungen für die medizinischen Funktionsbereiche der Ebene 2 Einrichtungen, der Ausstattung der luft- und bodengebundenen MEDEVAC-Teile und der Vorräte in den Sanitätsmaterialversorgungseinrichtungen. Ausgangspunkt dieser Überlegungen waren im Kdo SES bereits für schnelle luftbewegliche Operationen vorgehaltene Sanitätsausstattungen, sowie das SanMatVersPaket der aufgelösten AMF Brigade. Parallel hierzu lief ebenfalls die Feinausplanung der Einsatzkompanien weiter. Für die Verlegeplanung sind frühe genaue Transportanmeldungen nach Art und Menge der zu befördernden Güter notwendig. EVGSan mit ihrem nicht unbeträchtlichen Anteil an Gefahrgütern (Brennbare Flüssigkeiten, Druckgase) können hierbei schnell zu einem „Showstopper“ werden, noch dazu, wenn außer den oben genannten Ausstattungen keine Erfahrungswerte vorliegen. (Die Gesamtmasse der für NRF 4 verpackten EVGSan beträgt ca. 25 Tonnen). Die Bevorratungshöhe des oben beschriebenen „1000 Mann Pakets“ war zunächst als Gesamtmenge und nicht bis auf die Ebene der einzelnen medizinischen Funktionsbereiche ausgeplant. Eine Feinausplanung der EVGSanAusstg der medizinischen Funktionsbereiche sowie der Vorräte für die Bundeswehrapotheke des Rettungszentrums und des SanMatTrp des LLRZ ist jedoch aus sanitätstaktischer Sicht für eine schnelle Herstellung der Einsatzbereitschaft am Einsatzort notwendig und wurde vor der Zertifizierungsübung „White Rock“ abgeschlossen. Aus dem Bereich des SanABw wurde die Zuführung der Laborcontainer Veterinärmedizin, Lebensmittelchemie und Mikrobiologie vorbereitet. Für die Aufnahme der in der Regel temperaturempfindlichen Reagenzien musste planerisch Vorsorge getroffen werden.

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Packversuche für die medizinischen Funktionsbereiche des LLRz, le, seinen SanMatTrp und Teile der Apotheke im Einsatzland wurden bei der 5./SanRgt 12 in Quakenbrück durchgeführt. Die hierbei gewonnenen Werte fanden Eingang in die Ausplanung der Sanitätskompanien. (Abb. 3) Für die Apotheke beim Rettungszentrum MSE wurden sieben Einheitszelte Typ 2 und für den SanMatTrp des LLRZ, le zwei luftgestützte Zelte Typ 2 als „mobile Infrastruktur“ ausgeplant. (Abb. 4) Im Rahmen der Übung „White Rock“ wurde erkannt, dass die Beweglichkeit des ausgeplanten Rettungszentrums MSE im Einsatz aufgrund seines Aufbauumfangs zu gering war. Die erforderliche Erhöhung der Mobilität konnte nur durch eine Reduzierung des Aufbauumfangs des Rettungszentrums MSE erreicht werden.. In der Folge dieser Umplanung wurde unter anderem die Apotheke im Einsatzland in zwei Bausteine zerlegt. Eine Modul mit zwei Zelten verblieb beim Rettungszentrum, während ein Modul mit 5 Zelten zur StVersKp der MedTF trat. Das zuletzt genannte Modul nahm hierbei auch den Umschlagtrupp SanMat der StVersKp auf.

Die Lagerung und Bewirtschaftung der Sanitätsausstattungen erfolgte während der stand-by Phase für die Kräfte mit einer kurzer Alarmierungszeit (LLRZ,le und Teile MEDEVAC-Kompanie) am Heimatstandort der Kompanien, für die restlichen Teile durch die 5./SanRgt 12 in Quakenbrück.

Zusammenfassung

Die Sanitätsmaterialversorgung der deutschen Anteile eines multinationalen NRF Kontingentes, stellt die Wehrpharmazie vor große Herausforderungen. Die während aller Phasen von NRF 4 gewonnenen Erkenntnisse bilden eine wertvolle Grundlage für die Ausplanung von zukünftigen NRF Kontingenten. Umfassende Planungen für die Sanitätsmaterialversorgung in der Größenordnung NRF 4 erfordern Zeit und eine intensive Beschäftigung mit der Thematik auf allen beteiligten Führungsebenen. Eine wichtige Erkenntnis aus den Packversuchen ist, dass der für Eingreifoperationen ermittelte Bedarf an EVGSan nun in Tonnen und Kubikmetern quantifizierbar geworden ist; ein gewaltiges Volumen an Sanitätsmaterial, das im Einsatz bewirtschaftet und transportiert werden muss. Die Sanitätsmaterialversorgungseinrichtungen dürfen aufgrund ihres Umfangs nicht der limitierende Faktor für die Beweglichkeit eines Rettungszentrums sein.

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Zwei wesentliche Änderungen in der Sanitätsmaterialversorgung NRF 7 gegenüber NRF 4 seien an dieser Stelle exemplarisch genannt: • die Ausplanung der benötigten EVGSan-Vorräte für NRF 7 erfolgte auf der Grundlage von wesentlich differenzierteren, bis auf die Ebene der medizinischen Funktionsbereiche ausgeplanten EVGSan-Listen, die durch das Sanitätsamt der Bundeswehr zur Verfügung gestellt wurden; • im Einklang mit den Planungen für die Neuausrichtung der Sanitätsmaterialversorgungseinrichtungen der Eingreifkräfte wurden für NRF 7 erstmalig Bundeswehrapotheken, zum einen als Basisversorgungspunkt (BVP) SanMat in der Log/San Basis Einsatzgebiet und zum anderen als Teil eines Unterstützungspunktes (UP) San im Einsatzraum, in dem alle LogKr des deutschen Anteils der MedTF NRF 7 zusammengefasst werden, ausgeplant. (Abb. 5)

Die Erfahrungen aus der Aufstellungs- und Zertifizierungsphase NRF 7 werden uns zeigen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Schon jetzt gilt es jedoch allen zu danken, die auf den unterschiedlichsten Ebenen unermüdlich ihren Beitrag zur Weiterentwicklung der Sanitätsmaterialversorgung in potentiellen Eingreifoperationen leisten. Zu einem späteren Zeitpunkt gilt es sicherlich, ausführlich über die Ergebnisse dieses Entwicklungsprozesses zu berichten.

Datum: 01.01.2006

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2006/1

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