Effekte des Hautkampfstoffs Schwefellost auf Stammzellen

Aus dem Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr (Leiter: Oberstarzt Prof. Dr. Thiermann)

Schwefellost (S-Lost) ist ein blasenbildender, chemischer Hautkampfstoff, der bereits vor über hundert Jahren das erste Mal eingesetzt wurde. In den letzten Jahren wurde S-Lost trotz eines Verbots durch das Chemiewaffenübereinkommen wiederholt beispielsweise in Syrien verwendet.

Einleitung

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Abb. 1: Isolationsprozess von humanen mesenchymalen Stammzellen aus dem Knochenmark von nach totaler Endoprothese gespendeten Hüftköpfen
Schwefellost (S-Lost) ist ein blasenbildender, chemischer Hautkampfstoff, der bereits vor über hundert Jahren das erste Mal eingesetzt wurde. In den letzten Jahren wurde S-Lost trotz eines Verbots durch das Chemiewaffenübereinkommen wiederholt beispielsweise in Syrien verwendet. Das zeigt, dass gegenwärtig mit einer zunehmenden Gefahr für Soldaten und die Zivilbevölkerung durch den Einsatz durch terroristische Gruppen zu rechnen ist. Hauptsächlich werden die Organe Haut, Augen und Lunge geschädigt, es kann aber auch zu systemischen Vergiftungen kommen. Besonders charakteristisch ist eine symptomfreie Zeit nach Exposition, die eine bis mehrere Stunden andauert, den anschließenden Rötungen, die mit einem Juckreiz einher gehen können und dem Entstehen von flüssigkeitsgefüllten Hautblasen, die sehr groß werden können. 

Es entstehen typischerweise großflächige Wunden, die in schweren Fällen auch ulze­rieren können. Im weiteren Verlauf entwickeln sich oft Wundheilungsstörungen, die über Monate anhalten können. Interessanterweise können auch bereits verheilte Hautareale auf eine erneute Exposition mit S-Lost, selbst an weit entfernten Körperstellen, mit einem Aufflammen des „alten“ Wundareals reagieren. Dieses Phänomen konnte bereits während des 1. Weltkriegs festgestellt werden, jedoch sind die pathophysiologischen Hintergründe dieses Geschehens noch unklar. Obwohl seit Langem intensiv an den grundlegenden Mechanismen sowie möglichen Gegenmitteln gegen S-Lost geforscht wird, gibt es aktuell keine zielgerichtete Therapie. Derzeit ist die Behandlung an die von Brandwunden angelehnt.

Bei der Wundheilung der Haut spielen mesenchymale Stammzellen (MSC) eine essenzielle Rolle, indem sie durch sekretierte Stoffe andere Zellen stimulieren oder selbst differenzieren können. Zusätzlich sind sie in der Lage, weit entfernte Körperregionen durch ihre hohe Migrationsfähigkeit zu erreichen. Eine Schädigung der Funktion dieser regenerativen Zellen könnte möglichweise die Ursache für die Wundheilungsstörung nach S-Lost Vergiftung sein.

Erkenntnisse aus der Stammzellforschung

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Abb. 2: Tägliche morphologische Kontrolle der MSC am Durchlichtmikroskop
MSC sind multipotente adulte Stammzellen mit einem hohen Proliferations- und Differenzierungspotenzial. Neben vielen anderen Geweben können MSC aus dem Knochenmark isoliert werden. Dieses Verfahren wurde vor Jahren am InstPharmToxBw etabliert. Aus dem Knochenmark von humanen Hüftköpfen, die beim Einsetzen von totalen Endoprothesen des Hüftgelenks als Abfallprodukt anfallen, werden die MSC frisch isoliert. Hierfür wird in einer sterilen Sicherheitswerkbank das Knochenmark aus dem Hüftkopf mittels eines scharfen Löffels herausgelöst und in Stammzellmedium überführt. Durch sanftes Schwenken lösen sich die Zellen und gehen ins Medium über. Durch ein Zellsieb werden im Folgenden die Zellen von Knochenbälkchen getrennt und eine erste Separation der Zellsuspension wird über eine Dichtegradientenzentrifugation erreicht. Die MSC, die sich in der Zwischenphase angereichert haben, werden abgenommen, gewaschen und anschließend in Zellkulturschalen mit frischem Nährmedium ausplattiert. Im Inkubator bei 37 °C, 5 % CO2 und hoher Luftfeuchtigkeit können die MSC über zwei Tage an der Plastikoberfläche adhärieren. Hämatopoetische Zellen, die noch im Medium schwimmen, werden durch vollständigen Austausch des Nährmediums entfernt. Im weiteren Verlauf proliferieren die Zellen und können bei Erreichen einer geeigneten Anzahl für Versuche eingesetzt werden. Eine Übersicht über das Isolationsverfahren ist in Abb. 1 dargestellt.

Der große Vorteil bei der Verwendung dieser primär isolierten MSC ist eine höhere biologische Variabilität im Vergleich zu etablieren Zelllinien, da die MSC zum Teil spenderabhängige Unterschiede aufweisen. Erkennt man in einem solchen Setting statistisch signifikante Effekte, ist die Aussagekraft als sehr hoch einzustufen. Da es sich um primär isolierte Zellen handelt, sind Qualitätskontrollen der Zellen bei jedem Spender sehr wichtig. Hierfür wird die fibroblastenartige oder spindelförmige Morphologie sowie deren Wachstum regelmäßig mikroskopisch kontrolliert (Abb. 2). Zusätzlich werden fünf spezifische Oberflächenmarker angefärbt und deren Expression auf den MSC mittels Durchflusszytometrie überprüft (Abb. 3). Dabei müssen MSC negativ für CD14, CD34 und CD45, aber doppelt-positiv für CD105 und CD106 sein. Die Reinheit an MSC in der Kultur beträgt meist 95 %. Zusätzlich wird das Differenzierungspotential der Zellen in Adipozyten, Chondrozyten und Osteozyten bestätigt.

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Abb. 3: Qualitätskontrolle der MSC mittels einer Fünffachfärbung an spezifischen Oberflächenmarkern und Durchflusszytometrie
Durch die erfolgreiche Etablierung des Isolationsverfahrens von humanen MSC besteht nun die Möglichkeit, Effekte einer S-Lost Vergiftung spezifisch in diesen wundheilungsrelevanten Zellen zu untersuchen. Bei ersten Analysen konnten wir zeigen, dass MSC eine erstaunlich hohe Resistenz gegenüber S-Lost zeigten, da erst deutlich höhere Konzentrationen zu einer Einschränkung bzw. dem Verlust der Viabilität führten als es beispielsweise bei Keratinozyten der Fall ist. Da allerdings ein reines Überleben der Zellen noch keine Aussage über ihre Funktionsfähigkeit gibt, haben wir in einem nächsten Schritt die Differenzierung sowie die Migration der MSC nach einer Exposition mit S-Lost untersucht. Hierbei konnten wir zeigen, dass selbst hohe Konzentrationen zu keiner Beeinträchtigung der Differenzierungsfähigkeit zu Adipozyten, Chondrozyten und Osteozyten führten. Im Gegensatz dazu zeigten bereits sehr geringe Konzentrationen einen deutlichen Einfluss auf die Migrationsfähigkeit. Da MSC zwar hohe Dosen an S-Lost überleben können, aber dennoch vorher eine stark reduzierte Migration zeigen, konnte erstmals ein direkter Effekt des S-Lost auf MSC nachgewiesen werden. Gerade deren Migrationsfähigkeit ist aber essenziell, um zu geschädigten Körperregionen zu gelangen, um dort ihre regenerative Wirkung zu entfalten. Hierdurch konnte bereits ein möglicher negativer Einfluss von S-Lost auf die Wundheilung aufgedeckt werden.

Die Sekretion löslicher Faktoren, wie beispielsweise von Zytokinen, Chemokinen oder Wachstumsfaktoren, durch MSC ist ein entscheidender Faktor sowohl für die Migration als auch die regenerativen Eigenschaften, da sie dadurch Entzündungszellen anlocken und gewebeständige Zellen zur Proliferation, Sekretion oder Differenzierung anregen. Nach einer Exposition mit S-Lost konnten wir bereits acht Stunden später eine Hoch- oder Runterregulierung einer Vielzahl an sekretierten Faktoren feststellen. Vor allem konnten reduzierte Level mehrerer Faktoren festgestellt werden, die in Zusammenhang mit der Migration von MSC stehen. Viele dieser Faktoren könnten zusätzlich eine Auswirkung auf das Entzündungsgeschehen haben. Eine stimulierte Produktion an pro- oder eine verminderte Sekretion an anti-inflammatorischen Faktoren würde eine starke Beeinflussung des direkten Umfelds der Zelle bedeuten und die lokale Entzündungsreaktion nach S-Lost weiter fördern. Hierzu sind weitere Untersuchungen nötig.

In einem weiteren Ansatz untersuchten wir, ob die eingeschränkte Migration durch gezielte Zugabe einzelner sekretierter Faktoren, bei denen wir zuvor eine veränderte Regulierung festgestellt hatten und die für einen direkten oder indirekten Einfluss auf die MSC Migration bekannt sind, wieder erhöht wird. Dabei zeigte beispielsweise die Zugabe von Interleukin-8 eine erstaunliche Erhöhung der Migration unter allen getesteten S-Lost Konzentrationen. Eine Zugabe einzelner Wachstumsfaktoren oder einer Kombination könnte somit vermutlich die Wundheilung in vivo stimulieren. Ein Vorteil hierbei wäre, dass bei lokaler Applikation am Wirkort hohe Konzentrationen erreicht und bei einer geringen Resorption systemische unerwünschte Effekte, wie z. B. die ­Stimulation von Tumoren, auf ein Minimum reduziert werden können.

Da die Viabilität allein noch keine Rückschlüsse auf Apoptose oder Proliferation der Zellen zulässt, wurden weitere zelluläre und molekulare Effekte des S-Lost in MSC analysiert. Interessanterweise konnte selbst bei höheren S-Lost Konzentrationen kein Anstieg an Apoptose-assoziierten Proteinen nachgewiesen werden. Allerdings sank der Anteil an proliferierenden MSC konzentrationsabhängig ab. Gleichzeitig zeigten die Zellkerne eine morphologische Veränderung. Diese ungewöhnliche Kombination von Effekten warf die Hypothese auf, dass S-Lost eine Seneszenz in MSC induzieren könnte. Diese vorzeitige Alterung der Zellen ist unter anderem durch Proliferationsverlust, Apoptoseresistenz sowie weitreichenden Veränderungen des Zellkerns beschrieben. Erste Befunde wiesen auf eine akute Seneszenz bereits innerhalb von fünf Tagen nach S-Lost Exposition in MSC hin. Die Rolle von seneszenten Zellen in der Wundheilung wird aktuell kontrovers diskutiert, wobei man davon ausgeht, dass eine vorübergehende Seneszenz eher zu einer Limitierung der Fibrose beiträgt, eine chronische Seneszenz wie beim Altern jedoch eher mit chronischer Inflammation und Wundheilungsstörungen einhergeht. In den letzten Jahren wurde bereits gezeigt, dass einige so genannte senolytische Medikamente, welche spezifisch seneszente Zellen abtöten, erste Erfolge im Tiermodell zeigen, wie beispielsweise ein späteres Auftreten von altersassoziierten Erkrankungen oder die Verlängerung der gesunden Lebensspanne. Perspektivisch könnte die Anwendung dieser Medikamente somit auch bei S-Lost induzierten Wundheilungsstörungen wirken.

Schlussfolgerung

Die Etablierung des Isolationsverfahrens humaner MSC aus Knochenmark erlaubt die Untersuchung spezifischer S-Lost Effekte auf diese wundheilungsrelevanten Stammzellen. Dabei konnte bereits gezeigt werden, dass MSC zwar im Vergleich zu Keratinozyten eine höhere Resistenz gegenüber S-Lost haben, eine Exposition aber sowohl die Migrationsfähigkeit stark reduziert als auch eine große Veränderung der sekretierten Faktoren induziert. Damit sind zwei der wichtigsten Eigenschaften beeinträchtigt. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Stammzellen nur noch bedingt in der Lage sind, zum geschädigten Gewebe zu gelangen und selbst wenn sie dies erreicht haben, die regenerativen Effekte auf andere wundheilungsrelevante Zellen nicht ausüben können. Eine Erhöhung an entzündlichen Mediatoren könnte sogar die Wundheilung weiter negativ beeinflussen. Hieraus kann geschlossen werden, dass S-Lost direkt das therapeutische Potential der körpereigenen MSC beeinträchtigt. Dies könnte eine mögliche Ursache für die Wundheilungsstörung sein. Ein therapeutischer Ansatzpunkt wäre die lokale Zugabe an Zytokinen oder Wachstumsfaktoren. Weitere Forschungsergebnisse sind erforderlich, um die ursächlichen molekularen Zusammenhänge aufzudecken und den Einsatz dieser innovativen Therapieoptionen möglich zu machen. z

Für die Verfasser:
Major Simone Rothmiller
Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr
Neuherbergstr. 11, 80937 München
E-Mail: Simone1Rothmiller@bundeswehr.org 

Alle Abbildungen bei Verfasserin

Datum: 30.11.2020

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