Wir stecken noch inmitten einer Pandemie durch einen zoonotischen Erreger – der größten infektiologischen Herausforderung des 21. Jahrhunderts neben der wenig beachteten massenhaften Zunahme der Antibiotikaresistenzen. Weltweit bedrohen uns zahlreiche weitere Zoonosen und vektorübertragene Erkrankungen aus dem Krankheitsreservoirsystem zwischen Wild- und Nutztieren, Mensch, Vektoren und Umwelt. Der Übergang von Tier zum Menschen wird aufgrund der hohen Anzahl der Weltbevölkerung und seiner steten Ausbreitung in neue Habitate wahrscheinlicher. Damit dies rechtzeitig erkannt wird, sind Frühwarnsysteme erforderlich, um rasche medizinische Gegenmaßnahmen einleiten zu können.
Was ist es, was wir in dieser komplexen Bedrohung zeitnah als Frühwarnsysteme etablieren und vor allem für ein umfassendes Public Health-Wissensmanagement zusammenführen sollten?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert für den gesundheitspolitischen Kontext und Standard in Europa zehn „Wesentliche Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit“ („Essential Public Heath Operations“, EPHO). Ausgehend von der WHO-Definition der nachhaltigen Gesundheit und des menschlichen Wohlbefindens werden als Kernbereiche u. a. Gesundheitsschutz, -förderung, Krankheitsprävention sowie Informationen – aus Ergebnissen von Surveillance, Monitoring sowie Public Health Intelligence – herausgestellt. Dabei sind politischer Gestaltungswille, Personal, Finanzierung, Kommunikation und Forschung wichtige Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Realisierung (sogenannte „Enabler“).
Ausgehend von diesem WHO-Modell wird auch das aktuelle Public Health-Wissensmanagement in der Bundeswehr betrieben bzw. ausgerichtet. Hierbei fließen v. a. Ergebnisse aus Surveillance und Medical Intelligence insbesondere für den akuten Gesundheitsschutz ein. Die Themenfelder Gesundheitsschutz, Krankheitsprävention sowie Gesundheitsförderung werden seit fast 20 Jahren in Form von verschiedenen MedInt-Produkten als Grundlage für entsprechende Maßnahmen entwickelt. Im Laufe der Coronakrise wurden zudem Dashboards zur digitalen Lageführung entwickelt, die als innovatives Werkzeug im Krisenmanagement genutzt werden. Die notwendigen Ressourcen für diese Fähigkeit werden über Führung, Personal, Finanzierung, Kommunikation sowie über die wehrmedizinische Forschung sichergestellt.
Das technologische Zentrum des Gesamtansatzes „Wissensmanagement in Public Health(-Krisen)Bw“ stellt ein Enterprise Content Management System dar: das sogenannte HERAS (Health Evaluation Reporting & Analysis System). Dieses Berichts- und Analysesystem ist ein SASPF-Teilprojekt, das sich seit gut vier Jahren in Entwicklung befindet und sowohl für die zivil-militärische als auch internationale Nutzung mit diversen Kooperationspartnern als gemeinsame Plattform konzipiert ist. Die folgende Abbildung soll dies plastisch auf einen Blick darstellen.
Surveillance/Monitoring (WHO EPHO 1): Hierbei handelt es sich um einen fortlaufenden Prozess der Sammlung eigens erhobener Daten, der vorzugsweise laborbestätigte bzw. qualitätsgesicherte Angaben im Sinne eines ganzheitlichen One Health-Ansatzes enthält und aus folgenden Quellen besteht: der Humanmedizin (z. B. individualmedizinische ambulante oder prä-/klinische anonymisierte bzw. pseudonymisierte Daten der Patientenversorgung oder Labordaten oder populationsmedizinisch ausgerichtete Daten zur Influenza-Surveillance), der Tiermedizin (beispielsweise Tierseuchennachrichten oder Zoonose-Daten, Antibiotikaresistenz-Entwicklung v. a. im Nutz-, aber auch Luxustierbereich), aus dem Umweltbereich (u. a. Luft- und Abwassermonitoring, aber auch Strahlenmessdaten, Klimaprognosen und Wetterdaten), aus Quellen zur Lebensmittel- wie Trinkwasser- oder auch Arzneimittelsicherheit, zu Fauna wie Vektoren (z. B. Stechmückenmonitoring in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, im Mückenkataster des Friedrich-Löffler-Instituts oder dem Zeckenatlas ZEPAK des Robert Koch-Institutes – fehlend wäre dabei beispielsweise noch ein entsprechendes Nagermonitoring für potentielle zoonotische Erkrankungen), georeferenzierte Datenbank der gefährlichen Fauna und Flora, Genomsequenzierung gefährlicher Erreger und georeferenzierte Zuordnung, Daten aus Logistiksystemen (beispielsweise Antibiotikaverbrauch für ein Antibiotic Stewardship) und molekulare und epidemiologische Analysen zu Antibiotikaresistenzen. In die Datensammlung sollen auch bereits bestehende militärische Meldesysteme, wie z. B. EpiNATO-2 (Nutzung in NATO-Auslandseinsätzen) sowie das Pilotprojekt VISIT/RESIST als Input in den Bereich Surveillance/Monitoring einfließen. VISIT/RESIST wurde zunächst als syndrombasierte Surveillance während der Flüchtlingskrise 2015 aus anonymisierten Patientendaten abgeleitet und im Nachgang während des Mali-Einsatzes der Bundeswehr auf militärische Belange umfunktioniert.
Weiterhin sollen aus der IT-Unterstützung der Regionalen Sanitätsversorgung (digitale Patientenakte) anonymisiert Symptome/Syndrome zur frühzeitigen Erkennung von Symptom- oder Erkrankungsclustern integriert werden. Zukünftig werden auch die Erkenntnisse aus der Neu- bzw. Weiterentwicklung der „Near Real Time Surveillance“ durch die Force Health Protection Branch des NATO Military Medical Center of Excellence in diesem umfänglichen Ansatz berücksichtigt. Dieses Programm befindet sich derzeit in der Pilotphase und wird in diversen internationalen Übungsvorhaben getestet.
Public Health Intelligence (WHO EPHO 1): Im Unterschied zur Datensammlung „Surveillance/Monitoring“ enthält dieser Bereich weltweite Informationen aus nicht eigenen Quellen und umfasst offene Internetrecherchen, Mitteilungen über Ergebnisse aus Künstlicher Intelligenz (algorithmenbasierte teil-/automatisierte Recherchen) und standardisierten (aber nicht zertifizierten) Ergebnissen aus Erkundungen, Reconnaissance, Site Survey im Vorfeld neuer Missionen/Einsätze bzw. One Health-Risikoevaluierungen in den bestehenden Einsatzgebieten der Bundeswehr.
Die gesamte Daten- und Informationssammlung wird derzeit noch „händisch“ aggregiert – ohne die erwähnte IT-Plattform HERAS – was einen nicht unerheblichen Mehraufwand- und möglicherweise auch Wissensverlust darstellt. Die gesammelten Informationen werden im Anschluss visuell in Dashboards und digitalen Karten für das Krisenmanagement gemäß WHO EPHO 2 aufbereitet und dargestellt.
Zum Zwecke der WHO EPHOS 3–5 (Gesundheitsschutz, -förderung und Krankheitsprävention) werden daraus Risiko-/Krisenkommunikationsprodukte, beispielsweise Epidemiologische Bulletins, Health Country Profiles, MedInt Akut/Aktuell/Warnung, Präventivmedizinische Länderinformationen, InfektInfos oder auch der gemeinsame Wochenbericht mit dem Zentrum für Internationalen Gesundheitsschutz sowie andere Public Health-Maßnahmen erstellt. Durch diese ganzheitliche One Health-Perspektive – insbesondere bei Zoonosen und vektorübertragenen Erkrankungen – konnten in den letzten beiden Jahrzehnten vergleichsweise geringe krankheitsbedingte Ausfälle unserer Soldaten in den weltweiten Einsatzgebieten verzeichnet werden. Um dies aber auch wissenschaftlich eindeutig belegen zu können, müssen die Daten besser digital auswertbar umgestaltet werden. Für eine weitere Verbesserung der Einsatzbereitschaft durch die wehrmedizinisch auch heute noch höchst relevante Prävention von Infektionserkrankungen ist die weitere Digitalisierung zwingend notwendig, da „Daten die Grundlage für Taten“ sind. Ohne ein suffizientes Lagebild – als Grundlage eines Wissensmanagements – können keine sinnhaften wie rechtlich zulässigen Entscheidungen zur Prävention oder Intervention bei bereits eingetretenen und auch zukünftigen (Gesundheits-)Krisen erfolgen. Dabei wird eine der Herausforderungen sein, für bestimmte Fragestellungen maßgeschneiderte Datenpakete zu sammeln und auszuwerten, um möglichst genaue Aussagen zur Entwicklung von dezidierten Gesundheitsrisiken tätigen zu können. Dieses Lagebild ist insbesondere vor dem Hintergrund des Klimawandels mit zoonotischen und bis dato sub-/tropisch eingeordneten Vektoren/Erregern/Erkrankungen weiterzuentwickeln.
Aktuell wird dieser in der Bundeswehr bereits im Wesentlichen etablierte Ansatz für zivile Partner in Bundesministerien im Diskurs zur Verfügung gestellt, angepasst und weiterentwickelt. Zahlreiche einzelne Formen der Surveillance sind in diversen Ressorts in Deutschland verankert und etabliert. Eine Zusammenführung im Sinne „One Health für alle Ressorts“ für eine gemeinsame und ressortübergreifende „Health in all Policies“-Strategie wie der WHO drängt sich auf und ist vor dem Hintergrund der Bewältigung der COVID-19-Pandemie zumindest schon einmal initialisiert worden. Diese Initiative muss unbedingt, auch mit der Unterstützung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, fortgesetzt werden:
Wissensmanagement in Public/One Health als ein ressortgemeinsames Verständnis für Handlungsleitlinien im Sinne „Wir für Deutschland“ – der Sanitätsdienst hat damit schon mal begonnen.
Anmerkung der Redaktion: Die Autoren des Beitrages bitten um Feedback zur Verständlichkeit und Relevanz dieses Artikels für die Wehrmedizin.
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3/2022
Oberstveterinär Dr. K. Roßmann
Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr
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