MEDICAL INTELLIGENCE – „FORCE HEALTH PROTECTION“ IM EINSATZ

Das sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands und die globale geopolitische Lage hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Deutschland begegnet diesen Herausforderungen im In- und Ausland durch eine multinationale Sicherheitsvorsorge im Rahmen der europäischen und transatlantischen Sicherheitsarchitektur aus VN, OSZE, NATO und EU. Um dabei gesundheitlichen Risiken und Bedrohungen für beteiligte deutsche Soldaten wirkungsvoll begegnen zu können, bildet Medical Intelligence (MEDINT) in Einsatzplanung, -vorbereitung, -durchführung und -nachbereitung strategisch, operativ und taktisch eine Kernfähigkeit des Sanitätsdienstes der Bundeswehr.

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Zum Erhalt der militärischen Operabilität und Einsatzfähigkeit sieht sich der Sanitätsdienst vor neuen Herausforderungen. Unter den erschwerten Einsatzbedingungen in Krisensituationen haben Infektionserkrankungen eine besondere Bedeutung. (Abb. 1und 2). Die infektionsepidemiologische Risikoabschätzung und –bewertung ist eine wesentliche Aufgabe der Medical Intelligence (MEDINT) und stellt eine wichtige Säule der „Force Health Protection“ im Einsatz dar.

Warum MEDINT?

Neben der militärischen Bedrohung gibt es im Einsatz weitere potentielle Risiken und Gefahren für die Gesundheit der beteiligten Soldatinnen und Sodaten. Das Vorkommen zahlreicher tropischer Erkrankungen (z.B. Malaria, Leishmaniasis, Dengue-Fieber etc.) in einer Reihe von Einsatzgebieten der Bundeswehr macht es nötig, über viele Regionen der Erde medizinische und epidemiologische Daten zu sammeln und auszuwerten. Basierend auf den daraus resultierenden fachlichen Empfehlungen können die für einen spezifischen Einsatz verantwortlichen Stellen Maßnahmen anweisen, die das gesundheitliche Risiko der eingesetzten Soldatinnen und Soldaten minimieren. Während vergangener internationaler militärischer Auseinandersetzungen wurden bis zu 80% der Soldaten aufgrund von Infektionserkrankungen hospitalisiert oder repatriiert (Abb. 3). Bisher traten bei deutschen Einsatzrückkehrern dank effizienter Präventivmassnahmen nur ein kleiner Teil an spezifischen Tropenerkrankungen auf: 21 Fälle von Kutaner Leishmaniasis seit 2003 aus Afghanistan (ISAF) sowie 8 Malariaerkrankungen.

Definition

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Medical Intelligence.. … ist ein Produkt medizinischer, biologischer, epidemiologischer, umweltmedizinischer und weiterer relevanter Erkenntnisse, die sich auf die Gesundheit von Mensch und Tier beziehen. Diese Erkenntnisse stützen sich in ihrer Gewinnung und Bewertung auf standardisierte Verfahrensweisen ab und setzen medizinische Fachqualifikation für die Bearbeitung im Prozess des Wissensmanagement des Militärischen Nachrichtenwesens voraus. (Quelle: EK MEDINT) Unter dem zentralen Punkt der Einsatzrelevanz stellt MEDINT somit Informationen, Bewertungen und spezifische Handlungsempfehlungen zu folgenden Inhalten bereit:

  1. Infektions- und Tropenkrankheiten: Dies schliesst die regionale Inzidenz und Prävalenz, Morbidität und Mortalität inklusive Untersuchung und Management von Infektionskrankheitenausbrüchen, Infektionsepidemiologie, Impf- und Prophylaxeeffektivität sowie mögliche Medikamentenresistenzen ein. Gleichzeitig werden die Vektorepidemiologie (Überträger) und die zoonotischen Reservoire betrachtet.
  2. Zoonosen: Unter diesem Punkt werden regionale Inzidenz und Prävalenz, Morbidität und Mortalität einschließlich Zoonosenepidemiologie, Reservoire sowie Gifttiere betrachtet.
  3. Gefährdungslage durch Tierseuchen/ -krankheiten: Diese führt zur Evaluierung endemischer Tierseuchen/- krankheiten, zu Inzidenz und Prävalenz von Tierseuchen/-krankheiten, Maßnahmen zur Prophylaxe von Zooanthroponosen (Tierkrankungen die auf den Menschen übergehen können), Maßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Tierseuchen/- krankheitserregern durch militärische Operationen, Maßnahmen zur Verhinderung der Einschleppung von Tierseuchen/-krankheitserregern bei Rückverlegung aus dem Einsatzland nach Deutschland.
  4. Gefährdungslage durch Lebensmittel/ Trinkwasser Hierbei wird ein Maßnahmenkatalog zur Verhinderung potentiell alimentär gestützter Infektionen/ Intoxikationen erstellt.
  5. Abstützung auf lokale medizinische Behandlungsmöglichkeiten: Hierbei wird die Leistungsfähigkeit und Standards länderspezifischer Gesundheitssysteme sowie veterinärmedizinischer Organisationen und Einrichtungen (militärisch/zivil) zur Bewertung einer potentiellen eigenen Inanspruchnahme als sog. Host Nation Support betrachtet.
  6. Umweltmedizinische Aspekte und ABCBedrohung: Natürliche und artifizielle Umweltbedingungen (Klima, Geographie, Schadstoffbelastungen etc.) und deren umweltmedizinische Auswirkungen sowie die zu erwartende Gefahren- und Risikopotentialen durch ABCKampfstoffe und vergleichbare Noxen sowohl im Rahmen regulärer Einsätze wie auch im Rahmen asymmetrischer Bedrohung werden analysiert.Durch die Fachexpertise werden fachlich fundierte Empfehlungen gewährleistet, die zu belastbaren, praktikablen Handlungsanweisungen für die Truppe umgesetzt werden können (Abb. 8). Es gilt, in einem internationalen, interdisziplinären Team die Leistungsfähigkeit MEDINT weiter zu gestalten, wo nötig zu optimieren und ständig das übergeordnete Ziel im Auge zu behalten: die Gesundheit der weltweit eingesetzten Soldatinnen und Soldaten bestmöglich zu schützen.

Unter „Medical Intelligence“ (MEDINT) versteht man insgesamt die Gewinnung von vielfältigen Informationen zu Erkrankungen und Gesundheitseinrichtungen in verschiedenen Ländern, aktuelle Ausbruchsgeschehen und anderen medizinisch relevanten Besonderheiten. Über das reine Sammeln von medizinischen Daten hinaus analysiert MEDINT diese „Rohdaten“ und gibt die Ergebnisse als Empfehlungen für die Truppe im Einsatz heraus. Im Zusammenhang mit der Auswertung der „Medical Intelligence“ muss man sich stets bewusst sein, daß es sich bei der Epidemiologie von (Infektions-)Erkrankungen um einen dynamischen Prozeß handelt. Dieser muß kontinuierlich beobachtet und bewertet werden, um zeitgerecht auf spezifische Entwicklungen reagieren zu können. Für diesen Prozess wertet MEDINT neben den eigenen Erkundungsergebnissen sowohl offene (WHO, RKI, ProMed, Nachrichtenagenturen, internetbasierte Informationen etc.) als auch klassifizierte (z.B. BND) Informationsquellen aus. Daten relevanter Erkrankungen in den Einsatzgebieten fließen in die MEDINT-Lagebewertung mit ein. Zusätzlich zu den o.g. direkten Monitoringmaßnahmen ermöglicht der enge Informationsaustausch mit den örtlichen Gesundheitsbehörden eine rechtzeitige Erkennung von erhöhten Erkrankungszahlen in den Einsatzgebieten .

Aufgabenzuordnung und Abgrenzung

Die Verfügbarkeit von MEDINT ist eine Grund voraussetzung für die Minimierung von Gesundheitsrisiken deutscher Soldaten im Einsatz und trägt somit zu deren Überlebensfähigkeit und Schutz bei. Sie stellt eine wesentliche Fähigkeit für die militärische Auftragserfüllung der Bundeweshr dar und ist damit eines der zentralen Anliegen der Streitkräfte. Als streitkräftegemeinsame Fähigkeit wird MEDINT federführend im Zentralen Sanitätsdienst der Bundeswehr wahrgenommen und ist im Sanitätsamt der Bundeswehr als Arbeitsbereich abgebildet. MEDINT ist auf ein fähigkeitsorientiertes Zusammenwirken im Sanitätsdienst der Bundeswehr und vor allem im Informationsverbund des Militärischen Nachrichtenwesens angewiesen.

Organisation und Zusammenarbeit

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Das Sanitätsamt der Bundeswehr in München koordiniert und führt fachlich als Arbeitsstab des Bundesministeriums der Verteidigung sämtliche Aktivitäten auf dem Gebiet MEDINT. Das Sanitätsamt der Bundeswehr stellt in der Abteilung V, Präventivmedizin, bezüglich der Bereitstellung von MEDINT den alleinigen Ansprechpartner (Single Point of Contact) in der Bundeswehr. MEDINT nutzt moderne Informationssysteme um Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen bezüglich gesundheitlicher Risiken unmittelbar für die Entscheidungsträgern aller Ebenen verfügbar zu machen.
Das eigene Lagebild wird durch Informationsaustausch mit entsprechenden Einrichtungen der Sanitätsdienste und anderer militärischer Dienststellen von Verbündeten und Partnern, sowie geeigneten zivilen Fachinstituten, Dienststellen, Regierungs- und Nichtregierungs- Organisationen (GO/NGO) bestätigt bzw. ergänzt. (z.B. national Robert-Koch-Institut; international Global Alert and Response Network, WHO). Externer Sachverstand wird hierbei zur Ergänzung eigener Expertise einbezogen. Aktive Mitarbeit in Netzwerken ermöglicht den Zugriff auf den dort vorhandenen Datenbestand. Dies ist zugleich Voraussetzung für die auf Gegenseitigkeit undGleichberechtigung beruhende Teilhabe am nationalen und internationalen multilateralen Informationsaustausch, da der Zugriff auf vergleichbare Informationen und Aufklärungsergebnisse der Partner nur durch entsprechend bilaterale Verfahren erreicht werden kann (Abb. 4 und 5).

Kernfähigkeiten

MEDINT bildet im Rahmen der Bereitstellung bedarfsgerechter Produkte folgende Kernfähigkeiten ab:

  • Informiert auftragsbezogen über die Gesundheitssituation anderer Staaten,
  • Warnt frühzeitig durch umfassende Information vor Gefährdungspotenzialen und akuten Bedrohungen,
  • leistet so einen Beitrag zum Schutz eigener Kräfte(„Force (Health) Protection“),
  • stellt vor, während und nach Einsätzen medizinisch- epidemiologisches Grundlagenmaterial mit entsprechenden praxisorientierten Empfehlungen bereit,
  • betreibt Aufklärung von konkreten Gefährdungslagen (Reconnaissance), Beteiligung an Erkundungen (Fact- Finding-Missions, Site Surveys) sowie epidemiologisch- infektiologische Risikoevaluierungen aktueller und prospektiver Einsatzgebiete (Abb. 6 und 7).

Die angewandten Verfahren münden direkt in Empfehlungen (z. B. Impfungen) für das konkrete Einsatzgebiet.

MEDINT Produkte

Für die jeweiligen Einsatzszenarien / Ein satzgebiete der Bw werden durch MEDINT folgende modulare Produkte bereitgestellt:

MEDINT „Akut“ informiert (beschreibt, bewertet, empfiehlt) zu einsatzrelevanten Inhalten während der Einsatzvorbereitung und Einsatzdurchführung.MEDINT „Akut“ wird nach Anforderung durch den Bedarfsträger im Rahmen des Wissensmanagements im Militärischen Nachrichtenwesen prozessiert und dann zur Verfügung gestellt.

MEDINT „Aktuell“ informiert (beschreibt, bewertet, empfiehlt) unaufgefordert zu aktuellen Ereignissen mit medizinischer Relevanz im jeweiligen Einsatzland in Ergänzung zu MEDINT „Akut“.

MEDINT „Warnung“ warnt (beschreibt, bewertet, empfiehlt) unaufgefordert vor akuten medizinischen Ereignissen mit operativer Relevanz im jeweiligen Einsatzgebiet der Bw. Zusätzlich zu den oben beschriebenen modularen Produkten stellt MEDINT eine uneingeschränkte Ansprechbarkeit (24 Std /7 Tage-. MEDINT-Hotline) bereit. Diese Hotline wird in Kooperation der Dezernate Tropenmedizin und Medical Intelligence im Sanitätsamt, mit dem Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, Fachbereich Tropenmedizin am Bernhard- Nocht-Institut in Hamburg betrieben (FspNBw 90-6227-7575) und steht für Fragen zur Prävention von einsatzspezifischen Erkrankungen allen weltweit eingesetzten Soldatinnen und Soldaten zur Verfügung. Ergänzend zu allen genannten Produkten steht das Dezernat Medical Intelligence bei Bedarf für unmittelbare, einsatzbezogene Briefings zur Verfügung.

Weiterentwicklung des Aufgabenbereichs

Im Rahmen der Transformation sind durch „Concept Development & Experimentation“ (CD&E) bereits Arbeitskonzepte für die zukünftige nationale und internationale Ausrichtung von MEDINT entwickelt worden. So die schon beübte NATO Health Surveillance Capability, die als ein multinationales Deployment Health Surveillance Centre am Sanitätsamt der Bundeswehr in München eine neue Qualität multinationaler MEDINT darstellen soll.. Hierbei werden symptomorientiert Informationen zur besseren Vorhersage von Ausbruchsgeschehen bei Soldaten im Einsatz analysiert. In diesen Zusammenhang gehört das mit dem Amt für Geoinformationswesen der Bundeswehr und der Universität der Bundeswehr in Neubiberg in der Entwicklung befindliche „Disease Ma7pping“. Hierbei wird in Kombination von satellitengestützten meteorologischen und infektionsepidemiologischen Daten ein System zur möglichen Vorhersage von Infektionsgeschehen entwickelt.

Zusammenfassung und Fazit

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Die im Bereich MEDINT approbationsfächerund abteilungsübergreifend von einem hochmotivierten und engagierten Expertenteam geleistete Arbeit trägt wesentlich zur „Force (Health) Protection“ bei.Durch die Fachexpertise werden fachlich fundierte Empfehlungen gewährleistet, die zu belastbaren, praktikablen Handlungsanweisungen für die Truppe umgesetzt werden können(Abb. 8). Es gilt, in einem internationalen, interdisziplinären Team die Leistungsfähigkeit MEDINT weiter zu gestalten, wo nötig zu optimieren und ständig das übergeordnete Ziel im Auge zu behalten: die Gesundheit der weltweit eingesetzten Soldatinnen und Soldaten bestmöglich zu schützen.

Datum: 01.01.2009

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