PRIMÄR- UND SEKUNDÄRPRÄVENTION EINSATZBEZOGENER PSYCHISCHER ERKRANKUNGEN
Seit Beginn der Auslandseinsätze der Bundeswehr mit einem Feldlazarett in Kambodscha 1992/1993 haben mehr als 300 000 Bundeswehrsoldaten einen mehrmonatigen Einsatz in Kriegs– oder Krisengebieten absolviert. Diese Einsätze bedeuten eine hohe Belastung für die teilnehmenden Soldaten und ihre Familien.
Epidemiologische Erhebungen aus jüngster Zeit haben dementsprechend erhöhte Prävalenz- und Inzidenzraten verschiedener psychiatrischer Erkrankungen von Einsatzsoldaten erbracht, insbesondere der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) [Wittchen 2012]. Damit einhergehend stieg auch die Zahl der in den psychiatrischen Abteilungen der Bundeswehrkrankenhäuser wegen psychoreaktiver Erkrankungen behandelten Soldaten in den letzten Jahren signifikant an [Zimmermann 2009, Kowalski 2012]. Vergleichbare Entwicklungen wurde auch für andere Streitkräfte berichtet [Fear 2010].
Psychische Erkrankungen sind gut behandelbar, allerdings kann auch nach erfolgreicher Therapie eine relevante Restsymptomatik bestehen bleiben [Zimmermann et al., 2007]. Zudem haben sie eine erhebliche sozio-ökonomische Dimension, z. B. durch Frühpensionierungen und Arbeitsausfälle [Kessler 2005]. Vor diesem Hintergrund haben in den letzten Jahren in den westlichen Streitkräften Maßnahmen der Prävention psychischer Erkrankungen vor und nach Auslandseinsätzen (Primär- und Sekundärprävention) einen zunehmenden Stellenwert erlangt [Morgan 2011], für deren inhaltliche Ausgestaltung eine Reihe an therapeutischen Elementen als hilfreich im Sinne einer Stärkung der individuellen Resilienz erkannt wurden. Dazu gehören u.a. körperliche Fitness, Humor, Hoffnung, Gruppenkohäsion in den militärischen Einheiten, soziale Unterstützung, Sinngebung, Spiritualität und Optimismus [Southwick 2010].
Primärprävention psychischer Erkrankungen verfolgt den Zweck, die Entstehung einer Symptomatik zu verhindern oder abzuschwächen, indem vor der Exposition mit pathogenen Belastungen die Copingstrategien und die psychische Resilienz (Widerstandsfähigkeit) gefährdeter Personenkreise gestärkt werden.
Sekundärprävention kommt zur Anwendung, wenn die Belastung bereits eingewirkt hat. Wiederum spielt die Resilienzstärkung eine wesentliche Rolle. In diesem Fall erfolgt diese allerdings noch gezielter auf den Stressor bezogen und verbessert die Verarbeitungsmechanismen des Betroffenen. Dazu kommen Ansätze der Sensibilisierung für Frühsymptome und der Erleichterung der Einleitung einer Behandlung.
Primärprävention psychischer Erkrankungen
Die in der Primärprävention wirksamen Maßnahmen sind im Regelfall inhaltlich den Bereichen der „Psychoedukation“ sowie der „Stress-Inokulation“ (Stressimpfung) zuzuordnen.
Psychoedukation beinhaltet die Aufklärung und Information über Entstehung, Verlauf und Therapie psychischer Erkrankungen, um die Früherkennung einer entstehenden Symptomatik sowie den Umgang damit zu erleichtern und Latenzen bis zum Beginn einer adäquaten Therapie zu verkürzen, zum Beispiel durch Verminderung von Stigmatisierungsängsten. Innerhalb der Bundeswehr werden entsprechende Unterrichte im Regelfall ein bis zweimal im Rahmen der Vorausbildungen im Umfang von 90 - 120 Minuten gehalten, eine Standardisierung in Bezug auf den Umfang oder den Inhalt der Veranstaltungen bzw. die Qualifikation der Unterrichtenden ist bislang nicht erfolgt.
Allerdings sind zusammenfassende Monographien zum Thema Umgang mit Stressbelastung – vor, während und nach dem Einsatz – in Gebrauch, unter anderem als kurzgefasste „Taschenkarten“. Darüberhinaus hat das Psychotraumazentrum 2011 eine Orientierungshilfe für Mitarbeiter in den psychosozialen Netzwerken mit Hinweisen zu einer Reihe von Thematiken aus diesem Themengebiet herausgebracht, die unentgeltlich abgegeben wird [Eisenlohr et al., 2011].
Eine praktische Einweisung und Ausbildung ist an der Sanitätsakademie in München möglich. Sanitätsoffiziere erhalten in ihrer Einweisung nach dem Studium unter anderem auch Unterrichte zum Umgang mit stressbedingten psychischen Erkrankungen. Vertiefende Informationen bieten die Lehrgängen „Grundlagen der psychosozialen Unterstützung“ und „Grundlagen der Psychotraumatologie“ an, die zweimal jährlich für jeweils eine Woche durchgeführt werden.
Abb. 1: Das "Stress-Spiel" - eine Komponente des Trainingsprogramms "CHARLY"
Ergänzend zu persönlichen „Frontalunterrichten“ sind Internetangebote etabliert worden, die vielfältige Informationen bereitstellen, unter anderem auch in Form eines Lehrfilms zum Thema PTBS („Wenn die Seele schreit“). www.PTBS-Hilfe.de ist eine dienstlich betriebene Website, www.angriff-auf-die-seele.de liegt zwar in der Trägerschaft eines privaten Vereins, wird jedoch fachlich durch das Psychotraumazentrum unterstützt. Ein Jahr nach Freischaltung des Angriff-auf-die-Seele-Angebots wurden 116 Anfragen, die über ein Internet- Kontaktformular gestellt und durch das Psychotraumazentrum Berlin beantwortet werden, ausgewertet.
Tabelle 1 gibt die Verteilung der Nutzergruppen dieses Präventionsangebots wieder. Soldaten (bzw. deren Angehörige) mit einem Einsatz in Afghanistan nutzten die Seite signifikant häufiger als Beteiligte der Kosovound Bosnien-Kontingente. 12,1 % der Nutzer wurden zu ambulanten Gesprächen innerhalb der Bundeswehr vermittelt, 1,7 % in den zivilen Bereich, 4,3 % erhielten im Verlauf eine stationäre Psychotherapie in einem Bundeswehrkrankenhaus.
Die amerikanischen Streitkräfte verfügen über mehrere vergleichbare Internetangebote, die unter anderem auch präventive Elemente umfassen. Das „Comprehensive Soldier Fitness“- Programm beinhaltet die „Resilience Training“-Plattform mit Informations- und Trainingsmodulen für verschiedene Nutzergruppen, vor allem aktive Soldaten, Vorgesetzte und Angehörige [Adler 2009].
Ebenfalls computerbasiert ist das einsatzvorbereitende CHARLY-Training. Dieses bietet eine Kombination aus stress-, einsatz- und traumabezogener Psychoedukation, dem Erlernen eines Entspannungsverfahrens sowie dazugehörigen Anwendungsübungen in Form von Stress-Spielen (Abb. 1) und zu sozialen Kompetenzen im Einsatzszenario. Die Übungen werden begleitet durch Rückmeldungen zur jeweils aktuellen Stressreaktion der Teilnehmer durch einen Biofeedback-Sensor und fachlich durch truppenpsychologisch geleitete Feedbackgespräche. Bei CHARLY kommen somit zusätzlich zur Psychoedukation wesentliche Elemente eines Stressimpfungstrainings zur Anwendung.
Die praktische Ausführung erfolgt in Gruppen von 10 - 30 Personen, die jeweils einen eigenen Übungs-PC zur Verfügung gestellt bekommen, die miteinander vernetzt sind. Im Frühjahr 2012 führte das Psychotraumazentrum in Zusammenarbeit mit dem Kommando SES die Eingangserhebung einer longitudinalen Studie durch, die erste Daten zu einer Wirksamkeit von CHARLY auf einsatzbezogene Stressbelastung im Vergleich zu einer Kontrollgruppe erbringen soll. Ziel ist die Verbreitung des Programms in den verschiedenen Truppengattungen zur Anwendung durch Mitarbeiter der psychosozialen Netzwerke.
Ein Ansatz, der sich methodisch erheblich von den bisher geschilderten Verfahren unterscheidet, ist das Lernprogramm für Paare EPL („Ein Partnerschaftliches Lernprogramm“). Dabei handelt es sich ebenfalls um ein vom PsychDstBw finanziertes Forschungsprojekt des Psychotraumazentrums in Kooperation mit der Technischen Universität Braunschweig sowie der Evangelischen Militärseelsorge. Truppenteile, die für einen Einsatz vorgesehen sind, haben die Möglichkeit, beim Psychotraumazentrum unentgeltlich Trainer anzufordern, die vor Ort Paare im Hinblick auf die Einsatzsituation trainieren. In einem zweitägigen Seminar für Gruppen von 3 - 5 Paaren werden Grundlagen der partnerschaftlichen Kommunikation besprochen und in zahlreichen praktischen Übungen mit Videounterstützung geübt.
Aufgrund der Erfahrungen mit ähnlichen Projekten in den US-amerikanischen Streitkräften kann davon ausgegangen werden, dass ein solches Programm den trainierten Paaren den Umgang mit der einsatzbedingten Trennung erleichtert. Dies bedeutet für den Einsatzsoldaten eine Stärkung seiner sozialen Ressourcen und kann dazu beitragen, die Auswirkungen etwaiger Traumatisierungen zu minimieren. In zahlreichen Studien hat sich eine gute soziale Unterstützung als bedeutsamer Prädiktor für einen günstigen Verlauf nach traumatischen Belastungen erwiesen [Brewin 2000]. In dieser Hinsicht haben auch die Familienbetreuungszentren der Bundeswehr eine Präventionsfunktion, indem sie Familienangehörige während des Einsatzes unterstützen und dadurch deren Kompetenzen stärken.
Eine wichtige ergänzende Rolle für die Primärprävention spielt die ärztliche Untersuchung der für Auslandseinsätze vorgesehenen Soldaten. Die Erkennung von psychosozialen Vulnerabilitäten kann die Entstehung psychischer Erkrankungen verhindern, z. B. durch zumindest vorübergehende Freistellung von einem Einsatz oder auch durch Vermittlung an entsprechende Präventiv- oder Beratungsangebote wie den Sozialdienst. Bislang werden dabei keine psychologischen Testungen vorgenommen, seit 2011 werden aber durch eine ministerielle Arbeitsgruppe die Grundlagen eines „Psychologischen Screenings“ erarbeitet, bei dem standardisierte Testungen die Soldaten über ihre Dienstzeit hinweg immer wieder begleiten (u. a. auch vor und nach Einsätzen) und dadurch die Erkennung einsatzbezogener psychischer Erkrankungen erleichtern können.
Sekundärprävention psychischer Erkrankungen
Nach Beendigung eines Auslandseinsatzes werden für Bundeswehrsoldaten Maßnahmen der Sekundärprävention angeboten, die durch Erholung, Beratung, Übungen und psychologische Diagnostik die psychische Resilienz stärken, eine Früherkennung psychiatrischer Erkrankungen ermöglichen und einsatzbezogene Abschieds- bzw. Verarbeitungsprozesse erleichtern.
Im Verlauf der ersten ein bis drei Monate nach Einsatzende werden alle beteiligten Soldaten verpflichtend zu einem dreitägigen Seminar eingeplant, bei dem in Gruppen und unter Leitung von ausgebildeten Moderatoren, Psychologen, Sozialarbeitern oder Seelsorgern in einem strukturierten Ablauf über Einsatzerfahrungen gesprochen wird. Ergibt sich in diesem Rahmen der Verdacht auf eine einsatzbedingte psychische Störung, wird diese nicht therapeutisch vor Ort bearbeitet, jedoch wird im Anschluß eine psychiatrische Untersuchung vorgeschlagen bzw. eingeleitet.
Als Entscheidungshilfe zur Einschätzung der Belastung kann der PTSS-10-Screeningfragebogen verwendet werden [Raphael 1989], der in der Bundeswehr als Routine-Screening-Instrument nach Auslandseinsätzen seit Jahren fest etabliert ist. Dabei werden zehn Fragen zu stressassoziierten Symptomen gestellt, die auf einer Schweregradskala bewertet werden können. Dieser ist auch als Online-Version bei www.ptbs-hilfe.de verfügbar.
Ergänzend wurde bereits im Jahr 1999 begonnen, mit zivilen Vertragskliniken Kooperationen über dreiwöchige roborierende Kurmaßnahmen mit einem begrenzten Gesprächsangebot zu begründen [BMVg 1999, FAInspSan 2007].
Ziel dieser „Präventivkuren“ ist es, einsatzbelasteten Soldaten, die noch keinen Anhalt für eine manifeste psychische Erkrankung aufweisen, eine Möglichkeit zur stationären psycho- physischen Regeneration und Ressourcenstärkung zu geben, um spontane Erholungsprozesse nach Einsatzbelastung zu verbessern und die Entwicklung psychischer Erkrankungen zu verzögern oder zu verhindern [BMVg 1999]. Nachdem in den ersten Jahren 300 bis 500 Soldaten jährlich in drei bis fünf Kliniken behandelt wurden, nahmen im Jahre 2011 bereits über 4 000 Soldaten in mehr als 20 Einrichtungen an Präventivkuren teil (Quelle: Sanitätsamt der Bundeswehr 2012). Eine aktuelle, noch unpublizierte Evaluationsbefragung des Psychotraumazentrums ergab eine sehr positive Bewertung dieser Präventivmaßnahme durch die Teilnehmer.
Um neben diesen Maßnahmen die Früherkennung psychischer Einsatzfolgen und die Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen zu verbessern, wurde 2005 mit der Etablierung psychosozialer Netzwerke begonnen [Bundesministerium der Verteidigung, 2005]. Diese sind seitdem an der überwiegenden Mehrzahl der Bundeswehrstandorte unter der Mitwirkung von psychiatrischen Fachärzten, Truppenärzten, Psychologen, Pfarrern, Sozialarbeitern und weiteren Interessierten entstanden, die regelmäßig zum Erfahrungsaustausch oder zu interdisziplinären Fallkonferenzen zusammenkommen.
Die fachlichen Grundkenntnisse für die in diesen Gremien tätigen psychosozialen Helfer können im Rahmen der o. g. Lehrgänge an der Sanitätsakademie erworben werden.
Diskussion und Bewertung
In der Primär- und Sekundärprävention psychischer Erkrankungen nach Auslandseinsätze hat es in der Bundeswehr in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gegeben. Der dazugehörige Prozess des Umdenkens und der Akzeptanz der Problematik gewinnt zunehmend gerade auch bei militärischen Vorgesetzten und Einheitsführern an Dynamik und Nachhaltigkeit.
Die zur Verfügung stehenden Techniken sowie auch die Verzahnung sowohl zwischen den verschiedenen Versorgungsebenen als auch in der interdisziplinären Zusammenarbeit haben zu einem, auch im internationalen Vergleich beachtlichen und effektiven Gesamtsystem beigetragen.
Als Schwachpunkt muss allerdings die Primärprävention gewertet werden. Hier bedarf es weiterer Anstrengungen, um die bereits verfügbaren intensivierten Präventionsmaßnahmen noch deutlich mehr bekannt zu machen und auch in die Routinen der einsatzvorbereitenden Ausbildung als selbstverständlichen Bestandteil zu integrieren.
Datum: 01.10.2012
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2012/3