Kopfklinikum am Bundeswehrkrankenhaus Ulm

Antwort auf die zunehmende wehrmedizinische Relevanz von Verletzungen im Kopf- und

Halsbereich

Durch die Verwendung einer verbesserten Schutzausrüstung für Soldaten im Einsatz, vor allem von splitter- und kugelsicheren Westen, hat die Häufigkeit von Verletzungen im Brust- und Bauchbereich abgenommen. Ungeschützte Körperregionen, wie z.B. Gliedmaßen, Kopf und Hals hingegen sind durch Explosionen, Geschosse und Splitter am stärksten gefährdet. Während im 2. Weltkrieg der prozentuale Anteil von Verletzungen im Kopf- und Halsbereich an allen Kriegsverletzungen mit 4 % vergleichsweise gering war, stieg er in den kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten 30 Jahre auf über 20 % an. Eine im Jahr 2007 veröffentlichte Analyse des Datenmaterials des Traumaregisters des US Navy-Marine Corps ergab, dass 39 % aller während der Operation „Iraqi Freedom II“ im Einsatz verwundeten Soldaten Verletzungen im Bereich von Kopf, Hals und Gesicht aufwiesen. Neben Schussverletzungen haben Verletzungen durch Raketen, Granaten, Minen und vor allem durch selbst gefertigte Sprengkörper (Improvised Explosive Devices) in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Um unter Einsatzbedingungen eine suffiziente Versorgung verletzter Soldaten gewährleisten zu können muss daher eine umfangreiche kopf-/ halschirurgische Kompetenz vor Ort bereitgestellt werden. Darüber hinaus müssen lebensbedrohliche Infektionen im Kopf- und Halsbereich, die in extremen klimatischen Regionen, wie etwa in Afghanistan, nicht selten vorkommen, beherrscht werden können. Eine wesentliche Bedingung hierfür ist eine gezielte und einsatzorientierte interdisziplinäre Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Pflegepersonal.

Welche Voraussetzungen sind für eine einsatzorientierte Ausund Weiterbildung erforderlich?

Im Einsatz, insbesondere unter Gefechtsbedingungen, sind zahlreiche unterschiedliche Verletzungen zu erwarten. Neben Frakturen im Bereich der Schädelkalotte, der Schädelbasis und des Gesichtsschädels muss mit Weichteilverletzungen im Kopf- und Halsbereich, sowie Verletzungen von Auge, Ohr, Nase, Mundhöhle, Rachen, Kehlkopf und Trachea gerechnet werden. (Abb. 1)

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Abb. 1: oben links: IED-Verletzung, oben rechts: Schussverletzung, unten links: Splitterverletzung, unten rechts: Schussverletzung

Für die akute und definitive Versorgung dieser Verletzungsmuster sind eine Reihe chirurgischer Fähigkeiten erforderlich. Im Hinblick auf die Akutversorgung stehen dabei Techniken zur Sicherung der Atemwege und zur Beherrschung von Blutungen im Kopf- und Halsbereich im Vordergrund. Hinsichtlich der definitiven Versorgung sind vor allem wiederherstellungschirurgische Verfahren von herausragender Bedeutung: Neben der Versorgung von Weichteil-, Nerven- und Gefäßverletzungen müssen osteosynthetische und plastisch-rekonstruktive Verfahren für die Versorgung von Knochen- bzw. Weichteildefekten beherrscht werden. Ferner sind spezielle Kenntnisse für die Versorgung von Verletzungen im Bereich von Auge und Ohr erforderlich. Verletzungen im Kopf- und Halsbereich sind meist fachübergreifend. Darüber hinaus liegen nicht selten zusätzliche Traumen, vor allem im Bereich der Extremitäten vor. Eine einsatzorientierte Aus- und Weiterbildung sollte daher unter idealen Bedingungen auf einem interdisziplinären Traumamanagement aufbauen. Hierdurch wird nicht nur eine fachübergreifende ärztliche Kompetenz sichergestellt. Vielmehr werden organisatorische Abläufe, die insbesondere in der Akutversorgung für den Verletzten lebenswichtig sein können, optimiert. Können diese Fähigkeiten unter Friedensbedingungen vermittelt werden? Kliniken mit der Struktur der Bundeswehrkrankenhäuser sollten hierzu grundsätzlich in der Lage sein. Ideal für ein derartiges Ausbildungsvorhaben sind allerdings spezialisierte Einrichtungen, wie eine Kopfklinik.
Eine Kopfklinik, die in ein Traumazentrum integriert ist, bietet die besten Voraussetzungen für eine einsatzorientierte fächerübergreifende Aus- und Weiterbildung.
Schussverletzungen oder Verletzungen durch Explosionen sind in Friedenszeiten auch in überregionalen Zentren seltene Ereignisse. Allerdings können durch die Behandlung von Unfallopfern und Tumorpatienten die meisten einsatzrelevanten chirurgischen Techniken gelehrt und erlernt werden. Verletzungsmuster durch komplexe Verkehrs- bzw. Berufsunfälle oder Gewebedefekte nach ausgedehnten Tumorresektionen und gefechtsbedingte Verletzungen sind häufig ähnlich. (Abb. 2)

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Abb. 2: laterale Rhinotomie bei NNH-Tumor, oben rechts: SHT und Mittelgesichtstrauma nach Verkehrsunfall, unten links: Gesichtsverletzung nach Arbeitsunfall, unten rechts: Parotistumor mit Fazialispräparation.

Grundvoraussetzung für die Einrichtung einer Kopfklinik ist das Vorhandensein der chirurgischen Kerndisziplinen (Augenheilkunde, HNO-Chirurgie, MKG-Chirurgie und Neurochirurgie), die von erfahrenen Fachspezialisten geleitet werden und über eine ausreichende Personal- und Materialausstattung verfügen. Diese Grundvoraussetzungen sind im süddeutschen Raum, ähnlich wie an den großen Universitätskliniken in Heidelberg, Freiburg, Tübingen, Regensburg u. München auch am BwKrhs Ulm gegeben.

Kopfklinikum am Bundeswehrkrankenhaus Ulm

Im Mai 2008 wurde in Ulm die erste Kopfklinik des Sanitätsdienstes der Bundeswehr eingerichtet. Die chirurgischen Kerndisziplinen innerhalb dieses Zentrums werden durch leistungsfähige Kliniken repräsentiert, die von habilitierten weiterbildungsermächtigten Sanitätsoffizieren geleitet werden. Gegenüber den meisten zivilen Kopfkliniken weist das Kopfklinikum am BwKrhs Ulm jedoch einige Charakteristika auf, die es als Aus – und Weiterbildungszentrum für Sanitätsoffiziere konkurrenzlos machen. Neben den Kerndisziplinen sind nahezu alle Fachdisziplinen, die für weiterführende bzw. ergänzende Maßnahmen erforderlich sind, innerhalb eines Gebäudes untergebracht. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Fachgebiete Unfall-, Gefäß-, Thorax- und Viszeralchirurgie, Notfallmedizin, Neurologie, Dermatologie, Radiologie, Nuklearmedizin, Pathologie und Labormedizin zu nennen. Hierdurch wird eine rasche und patientenfreundliche interdisziplinäre Diagnostik und Therapie gewährleistet. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass die Kopfklinik in eines der bundesweit leistungsfähigsten Traumazentren eingebettet ist. In enger Zusammenarbeit mit Notfallmedizinern und Gefäß-, Unfall- und Viszeralchirurgen können polytraumatisierte Kopfverletzte, wie sie auch unter Gefechtsbedingungen anfallen, rasch fächerübergreifend versorgt werden. Nach der Akutversorgung und Stabilisierung des Patienten in der Notfallaufnahme erfolgt eine interdisziplinäre Abstimmung der präoperativ erforderlichen diagnostischen Maßnahmen. Unmittelbar danach kann die Versorgung im räumlich eng benachbarten Zentral-OP erfolgen. Auch diese Konstellation reflektiert die Situation im Einsatzkrankenhaus und ist für die einsatzvorbereitende Ausbildung ideal. Neben der Traumatologie stellt die Tumortherapie einen Schwerpunkt dar. Vor allem im Hinblick auf komplexe Tumorerkrankungen ist eine moderne und leistungsfähige präoperative Diagnostik innerhalb einer Kopfklinik unabdingbar.
Das BwKrhs Ulm verfügt über eine Radiologieabteilung, die neben den relevanten bildgebenden diagnostischen Verfahren mit einer Sektion für interventionelle Neuroradiologie ausgestattet ist. Gerade im Hinblick auf stark vaskularisierte Tumoren im Kopf- und Halsbereich, die einer präoperativen Embolisierung bedürfen, ist diese Kompetenz von herausragender Relevanz. Ergänzt wird das radiologische Spektrum durch eine nuklearmedizinische Abteilung, die über hochmoderne Verfahren für die Tumordiagnostik verfügt.
Bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen wird postoperativ häufig eine Strahlentherapie erforderlich. Da das BwKrhs Ulm dieses Fachgebiet nicht abbildet, erfolgt die Betreuung dieser Patienten in Kooperation mit der Strahlenklinik der Universität Ulm, die dem BwKrhs unmittelbar benachbart ist.
Mit der Einrichtung der Kopfklinik wurde durch Prozessoptimierung und eine zunehmende vertikale und horizontale Vernetzung aller Leistungserbringer eine wichtige Voraussetzung für eine verbesserte interdisziplinäre Zusammenarbeit und effiziente Nutzung personeller, materieller und infrastruktureller Ressourcen geschaffen. Hierdurch und durch die Einrichtung einer interdisziplinären Sprechstunde wird eine Patientenversorgung auf hohem fachlichem Niveau sichergestellt. Neben den Patienten profitieren die aus- und weiterzubildenden Sanitätsoffiziere: Durch die fachübergreifende Diagnostik und Therapie sowie durch interdisziplinäre Fortbildungsveranstaltungen und eine enge Kooperation mit zivilen wissenschaftlichen Institutionen wird ein intensiver Wissenstransfer ermöglicht.

Positionierung der Kopfklinik am BwKrhs Ulm innerhalb der Krankenhauslandschaft in Süddeutschland

Neben der fachlichen und infrastrukturellen Ausstattung ist der Versorgungsbedarf innerhalb des Einzugsgebietes ein wesentlicher Aspekt für die erfolgreiche Implementierung einer Kopfklinik. Auch unter diesem Gesichtspunkt sind die Startbedingungen für die Kopfklinik am BwKrhs Ulm hervorragend. Letzteres wird durch die Verteilung von etablierten Kopfkliniken im süddeutschen Raum verdeutlicht. Entsprechende Einrichtungen finden sich im Westen in Heidelberg, Freiburg und Tübingen, im Norden in Stuttgart und Würzburg und im Osten in Erlangen, Regensburg und München. In der gesamten großflächigen Region südlich von Ulm, bis zur schweizerischen und österreichischen Grenze, findet sich keine weitere Kopfklinik. (Abb.3)

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Vor Ort existiert als konkurrierende Institution das Universitätsklinikum Ulm. Die Kernfächer für eine Kopfklinik sind allerdings über die Stadt Ulm verteilt. Die neurochirurgische Klinik der Universität Ulm liegt sogar ca. 30 km entfernt in Günzburg. Aufgrund der räumlichen Dislokation wird die Abbildung einer kopfklinischen Kompetenz erheblich erschwert. So betrachtet verfügt die Kopfklinik am BwKrhs Ulm über ein Einzugsgebiet mit ca. 4 – 5 Millionen Einwohnern. Hinzu kommen zahlreiche überregionale Patientenzuweisungen. Angesichts dieser Konstellation kann von einer zufrieden stellenden, Erfolg versprechenden Positionierung innerhalb der regionalen Krankenhauslandschaft ausgegangen werden.

Datum: 01.10.2008

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2008/3

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