EINSATZGESCHÄDIGTENVERSORGUNG

KONZEPT "KONTINUIERLICHE, FACHÜBERGREIFENDE, MEDIZINISCHE BETREUUNG VON BUNDESWEHRANGEHÖRIGEN NACH EINSATZSCHÄDIGUNG ZUR WIEDERHERSTELLUNG, ZUM ERHALT UND ZUR VERBESSERUNG DER PSYCHO-PHYSISCHEN LEISTUNGSFÄHIGKEIT

Mazar-e-Sharif, 11. November 2009 - Eine Patrouille der verbündeten schwedischen Streitkräfte wird durch ein IED (Improvised Explosive Device) angesprengt.

Die Wucht der Explosion ist so gewaltig, dass sich ein neun Tonnen schweres geschütztes Transportfahrzeug überschlägt und die vier Besatzungsmitglieder schwer verletzt werden. Ein afghanischer Übersetzer wird aus einem Begleitfahrzeug geschleudert und verstirbt sofort vor Ort. Vier schwedische Soldaten werden polytraumatisiert mit unterschiedlichen Verletzungsmustern in das Feldlazarett im Camp Marmal eingeliefert. Einer von ihnen hat durch die kinetische Energie Trümmerfrakturen auf mehreren Etagen und ausgedehnte Weichteilverletzungen in beiden Beinen erlitten. Ein Teil der Tibia des linken Unterschenkels ist herausgesprengt worden. Der Unterschenkel ist nicht zu erhalten und wird im Zuge der Behandlung amputiert. Noch während der Operation wird diskutiert, ob der Erhalt des ebenfalls schwer geschädigten rechten Unterschenkels mit Blick auf die sich später anschließende Rehabilitation sinnvoll ist oder nicht. Kann das geschädigte Bein jemals die Last des Körpers tragen? Ist es angebracht, die prothetische Versorgung für den Zeitraum der Frakturheilung und bis zur Belastbarkeit des Beines bei ungewissem Ergebnis zurück zu stellen? Wie muss der Patient weiter betreut werden, um ihn zukünftig bei der Wiedererlangung bzw. dem Erhalt seiner körperlichen, beruflichen Fähigkeiten sowie bei der (Wieder-)Eingliederung in sein soziales Umfeld im Sinne des Rehabilitationsansatzes zu unterstützen?

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Abbildung 1: 25 jähriger Soldat mit Z. n. schwersten Abdominaltrauma und Platzbauch. Vollständige Inaktivität unter Tragen eines Drellmieders zu Beginn des kontinuierlichen, fachübergreifenden Behandlungsprogramms.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass sich die medizinische Versorgung als Betreuungskontinuum schon vom Ort der Schädigung bis zu Fragen der Rehabilitation erstreckt und über die Rettungskette und die reine sanitätsdienstliche Unterstützung hinausgeht.

Während sich noch unter dem Preußenkönig Friedrich II. die staatliche Fürsorge und Betreuung seiner Soldaten nach einer kriegsbedingten Verletzung auf die Erteilung einer Lizenz zum Betteln beschränkt hat1, ist die umfassende Betreuung und Fürsorge in der Bundeswehr Ausdruck eines humanitären Menschenbildes sowie der Wertschätzung und Verantwortung des Dienstherrn gegenüber seinen Mitarbeitern. Die Präsenz des Themas Tod und Verwundung als Teil des soldatischen Berufsbildes in der Öffentlichkeit sowie die erhöhte mediale und politische Aufmerksamkeit unterstreicht die Bedeutung dieses Themas. Für die Bereitschaft, sich im Einsatz wiederkehrend den Gefahren für Leib und Leben aus zu setzen oder überhaupt erst die Bundeswehr als Arbeitgeber zu wählen, ist die Gewissheit, im Falle einer Verwundung, eines Unfalls oder einer Verletzung umfassend, auch medizinisch, betreut zu werden, ein wesentlicher Faktor.
Durch die Einsatzgeschädigten hat sich die Bundeswehr in den vergangenen Jahren auf diesem Gebiet der Realität von Tod und Verwundung anpassen müssen und sich hin zu einer umfassenden Betreuung erheblich entwickelt. Es hat sich in der kritischen Betrachtung aber gezeigt, dass Betroffene den Zugang zu den einzelnen Fürsorgemaßnahmen im Anschluss an die Akutbehandlung oftmals aus unterschiedlichen Gründen nur schwer finden und die Einbindung von Familienangehörigen nur mühsam zu realisieren war. Zudem wird den speziellen Bedürfnissen der betroffenen Patienten in der medizinischen Langzeitbehandlung, die über den Zeitraum des gesamten weiteren Leben des Betroffenen sichergestellt werden muss, trotz hohen Engagements der jeweils an der Behandlung und Betreuung Beteiligten nicht in jedem Fall durchgängig und planvoll entsprochen.
Die Koordinierung der fachübergreifenden Rehabilitation, die bspw. durch Maßnahmen der Psychologischen Dienstes der Bundeswehr, des Sozialdienstes der Bundeswehr, des Personalmanagements sowie innerhalb eines definierten Umfanges durch zivile Leistungsträger ergänzt wird, bedarf eines klaren Konzepts und der Steuerung, um für die Betroffenen das beste zu erreichende Ergebnis zu erzielen.
Ausgehend von den Erfahrungen mit der Initiative „Sporttherapie nach Einsatzschädigung“, die durch das Sportmedizinische Institut der Bundeswehr in Zusammenarbeit mit der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf in einem fachübergreifenden Ansatz betreut und durchgeführt wird, ist ebenfalls deutlich geworden, dass sich durch intensivierte, interdisziplinäre Betreuung und ausreichender Berücksichtigung der Tatsache, dass sich der soldatische Patient oftmals sowohl durch die Verletzungsursachen, die Verletzungsmuster und zum Teil auch in den Verarbeitungsstrategien von zivilen Patienten unterscheidet, der gesundheitliche Zustand der Betroffenen erheblich verbessern ließ. Positive Erfahrungen im multinationalen Umfeld unterstreichen den Ansatz einer kontinuierlichen, ganzheitlichen und koordinierten Betreuung. Der ehemalige Bundesminister der Verteidigung Dr. Thomas de Maiziere hat deshalb mit dem Fokus, die Situation der Einsatzgeschädigten zu verbessern, Mitte 2012 die Erstellung eines Gesamtkonzepts zur Betreuung und Fürsorge von Bundeswehrangehörigen angeordnet. Dieses Konzept soll perspektivisch nach ausreichenden Erfahrungen auch auf nicht im oder im Zusammenhang mit dem Einsatz geschädigte Bundeswehrangehörige z. B. nach Wegeunfall ausgeweitet werden.
Das Konzept „Kontinuierliche, fachübergreifende, medizinische Betreuung von Bundeswehrangehörigen nach Einsatzschädigung zur Wiederherstellung, zum Erhalt und zur Verbesserung der psycho-physischen Leistungsfähigkeit“ als Teil des o. g. Gesamtkonzepts wurde in Verantwortung des fachlich zuständigen Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr unter Beteiligung verschiedener Fachdisziplinen erarbeitet. In ihm werden klare Zuständigkeiten im Rahmen der medizinischen Betreuung von Einsatzgeschädigten festgelegt, die jeweiligen Teilaufgaben aller an der Betreuung Beteiligten beschrieben und deren Maßnahmen koordiniert. Kompetenz und Verantwortung jedes Beteiligten werden erkennbar. Durch die damit entstehende Transparenz, die Koordinierung der Einzelmaßnahmen und die Schaffung von Ansprechstellen für Einsatzgeschädigte sowie deren Behandler wird die Versorgung insgesamt vereinfacht und verbessert.

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Abbildung 2: 9 Monate später vollständige Bandagenentwöhnung, vollschichtige Arbeitsfähigkeit und Wiederaufnahme von Vereinsfußball.
Die Handlungsfelder „Betreuungskontinuum zur Versorgung und Behandlung von Bundeswehrangehörigen nach einer Einsatzschädigung“, „Digitales Datenmanagement“ sowie „Informations-management und Öffentlichkeitsarbeit“ stehen dabei zunächst im Vordergrund.
Innerhalb des Ministeriums hat das sanitätsdienstliche Fachreferat BMVg FüSK II 6 die notwendige Abstimmung mit den betroffenen ministeriellen Referaten übernommen und das Konzept nach Billigung durch den Bundesminister der Verteidigung im November 2013 erlassen können. Derzeit befasst sich das Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr als federführender Organisationsbereiche für die Phase der Implementierung zusammen mit den übrigen betroffenen Organisationsbereichen mit der Operationalisierung des Konzepts. Das vorliegende Konzept ist ein Beispiel dafür, dass durch die Zusammenarbeit des fachlich zuständigen Kommandos Sanitätsdienst der Bundeswehr mit den sanitätsdienstlichen Fachreferaten der Abteilung Führung Streitkräfte schnell und effizient gute Ergebnisse im Sinne der gemeinsamen Verantwortung für die Gesundheitsversorgung in der Bundeswehr erzielt werden können.

[1] Molitor, Andreas: „Siebenjähriger Krieg - Unter dem Getöse von dreihundert Kanonen“. In: Zeit Online. Stand: 28. Dezember 2011. http://www.zeit.de/zeit-geschichte/ 2011/04/Siebenjaehriger-Krieg (abgerufen am 5. Januar 2014).

Die Abbildungen wurden freundlicherweise durch Oberstarzt Dr. Lison überlassen.

Datum: 26.06.2014

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2014/1

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