13.12.2009 •

DER INTERNISTISCHE NOTFALL AN BORD

"Dekompensiertes Androgenitales Syndrom" - ein Fallbericht

Das Segelschulschiff „Gorch Fock“ hat den Auftrag, eine praxis- und erlebnisorientierte Ausbildung angehender Offiziere und Unteroffiziere des seemännischen Dienstes durch zu führen. Zur Ausbildungscrew zählen auch regelmäßig Kadetten ausländischer Marinen, die ihr seemännisches Praktikum an Bord absolvieren. Darüber hinaus übernimmt das Schiff bei den Auslandshafenbesuchen

Öffentlichkeitsarbeit und umfangreiche Repräsentationsaufgaben für die Deutsche

Marine, die Bundeswehr und somit für die

Bundesrepublik Deutschland. Der Bordsanitätsdienst des Segelschulschiffs

„Gorch Fock“ stellt die medizinische Versorgung für die Stammbesatzung und Kadetten während der Auslandsausbildungsreisen und im Heimathafen sicher. Hierzu stehen dem Schiffsarzt ein modernes Schiffslazarett mit einer umfangreichen Ausstattung für Diagnostik und Therapie (u.a. Röntgengerät, mobile Sonographie, Labor, OP-Möglichkeit für kleine und mittlere Eingriffe, Notfall- und kurzzeitige

Intensivtherapie) zur Verfügung, die eine Role 1- und mit Einschränkungen auch erweiterte Role 1- Versorgung erlaubt.

Fallbeschreibung

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Am 13.11.2005 gegen 21:00 Uhr im Hafen von Las Palmas, Gran Canaria, wurde der Schiffsarzt vom Wachoffizier informiert, ein weibliches Besatzungsmitglied, eine 18-jährige Kadettin der französischen Marine, sei an Land tätlich angegriffen worden. In der Offiziermesse des Segelschulschiffs „Gorch Foch“ fand sich eine überaus ängstliche, apathische, teilweise verwirrt wirkende junge Frau, äußerst starrer Blick, nestelnd, die nur sehr stockend, sehr leise, kaum verstehbar berichtete, in der Nähe des Schiffes habe ein fremder Mann sie in der Öffentlichkeit an der Hand längere Zeit gewaltsam festgehalten, sie habe aber nicht schreien und sich zunächst nicht losreißen können. Auf mehrfaches Nachfragen wurde allerdings sexuelle Nötigung verneint. Ihre Kameraden, die sie auf der Straße aufgefunden hatten, berichteten, dass die junge Frau sich zunächst überaus erregt über den Vorfall geäußert habe, dann innerhalb kurzer Zeit in eine apathischen Starre fiel und nur mit Unterstützung zurück zum Schiff gehen konnte. Die Kadettin wurde über Nacht im Schiffslazarett zur Beobachtung aufgenommen. Die an Bord mitgeführten Gesundheitsunterlagen ergaben keine Hinweise auf eine Erkrankung der Patientin. Sie beinhalteten eine gültige Borddienstverwendungsfähigkeit sowie unauffällige arbeitsmedizinische Untersuchungsbefunde (G26.3 - Tragen von Atemschutzgeräten und G41 - Arbeiten in Höhen mit Absturzgefahr).

Der Vorfall wurde schiffsärztlicherseits zunächst als Reaktion auf eine akute Belastungssituation gewertet. Die schlanke und athletische Soldatin war äußerlich unverletzt, kreislauf- und atmungsstabil, die orientierend internistische und neurologische Untersuchung war ebenso unauffällig. Für eine Stoffwechselentgleisung oder gar chronische Erkrankung gab es keinen Anhalt. Bisher galt die junge Frau als mit leistungsstärkste und motivierteste Angehörige ihres Ausbildungsjahrgangs, die über eine sehr gute körperliche Fitness (Sportarten - Triathlon, Freeclimbing) verfügte.

Im Schiffslazarett erholte sie sich nur zögerlich, insgesamt hielt dieser leicht apathische, adyname Zustand unverändert bis zum Nachmittag des folgenden Tages an; dann ging es ihr offensichtlich schlagartig wieder besser. Plötzlich war die Kadettin wie ausgewechselt, als ob eine Art „Schalter umgelegt“ war. Nun war sie freundlich zugewandt und wieder sehr agil. Die Segelvorausbildung, an der sie noch nicht wieder teilgenommen hatte, konnte und wollte sie unbedingt fortsetzen, allerdings wurde sie schiffsärztlicherseits von Arbeiten in der Takelage trotz ihre Einwandes, es gehe ihr wieder gut, befreit. Das Schiffslazarett suchte sie nicht mehr auf.

Eine Woche später am 21.11.2005, ca. 24 Stunden nach Auslaufen Las Palmas, Gran Canaria, kam es bei derselben Kadettin bei nur mäßigem Seegang zu massiven Kinetosebeschwerden mit Schwindel, Übelkeit, mehrfachen Erbrechen und starken Kopfschmerzen. Noch bei Kräften, kreislaufstabil und normoglykäm wurde sie zunächst antiemetisch (Dimenhydrinat 3x50mg p.o.) behandelt, aufgefordert reichlich zu trinken, und zur weiteren Habituation „krank auf Hängematte“ geführt. Die Emesis sistierte, aber am folgenden Morgen zeigte sich eine völlig adyname, kraftlose, verlangsamte und bewusstseinsgetrübte junge Frau. Nach sofortiger Aufnahme ins Schiffslazarett berichtete sie mit letzter Kraft bei erneuter Anamneseerhebung, dass sie an einer milden Form des 21- Hydroxylasedefizits leide und täglich mit 0.75mg Dexametasonacetat zur Nacht substituiere, die Medikation allerdings schon seit 48 Sunden ausgesetzt sei. Sie spreche nie über ihre Erkrankung. So fiel auch auf, dass die Kadettin bezüglich ihres Krankheitsbildes ausgesprochen schlecht informiert war, Komplikationen und Dekompensationszeichen nicht kannte. Zu dem war ihr auch nicht klar, dass sie ihre Erkrankung den sanitätsdienstlichen Stellen im Rahmen der arbeitsmedizinischen Untersuchungen hätte angeben müssen. Sie berichtete allerdings noch, dass bei ihr eine lebenslange Amenorrhoe bestehe, und die Erkrankung vor zwei Jahren im Rahmen einer schwer verlaufenden Mononukleose diagnostiziert wurde.

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Die Kadettin wurde im Schiffslazarett bei deutlich reduziertem AZ und EZ aufgenommen, Blutdruck 85/60mmHg und Herzfrequenz bei 62bpm, EKG regelrecht. Die weitere körperliche Untersuchung zeigte eine massive Schwäche, Adynamie, nur schwach auslösbare Reflexe, GCS 15/15, äußeres Genitale unauffällig und leichter Hirsuitismus. Laborchemisch auffällig war eine milde Hypoglykämie mit 66mg/dl, ansonsten unauffällige Werte für Kalium, Crea, Harnstoff und Leberenzyme; Blutbild und Entzündungszeichen waren ebenfalls unauffällig (Abb. 2). Die Therapie bestand hauptsächlich in der systemischen Gabe eines in der Bordapotheke geführten Glukokortikoids (hier: Prednisolon); zusätzlich wurde die Patientin kurzzeitig parenteral ernährt (Ringer Lösung, NaCl 0.9%, Glucose 20%) und intensiv überwacht (Abb.2) und gepflegt, da sie infolge ihrer körperlichen Schwäche über mehrere Tage nicht in der Lage war, aufzustehen.

Diskussion

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Das autosomal rezessiv vererbte Androgenitale Syndrom (AGS) wird in mehr als 90% der Fälle über einen Defekt des Gens der 21- Hydroxylase verursacht (Abb.3). Der Ausfall des Enzyms führt zu einer unzureichenden Biosynthese von Kortisol, was über den Feedback- Mechanismus mit dem Hypophysenvorderlappen zu einer peripheren Erhöhung von adrenocorticotropen Hormon (ACTH) führt (1). Die Nebennierenrinde hyperplasiert, und es kommt zur vermehrten Bildung von Androgenen. Weiterhin kann ein Mangel an Aldosteron vorliegen, was bereits während der ersten Lebensmonate zu einer lebensbedrohlichen Stoffwechselkrise (Salzverlustsyndrom) mit Hyponatriämie, Hyperkaliämie und Azidose führen kann (2) (Abb. 3).

Im hier dargestellten Fall handelt es sich um die nicht klassische Form des AGS (Late-Onset- AGS). Charakteristisch für diese mildere Verlaufsform des Krankheitsbildes ist, dass die Diagnose häufig erst im Rahmen der Abklärung einer Amenorrhoe während der Pubertät gestellt wird. Es zeigen sich dann bei Frauen oft nur geringe Virilisierungserscheinungen, auch fehlt das Salzverlustsyndrom (3). Dennoch können körperliche und psychische Belastungssituationen (in unserem Fall: Angriff auf die eigene Person und schwere Kinetose) nicht kompensiert werden. Das Kortisoldefizit im Rahmen der Grunderkrankung führte bei inadäquater Glukokortikoidproduktion bzw. Substitution in eine Addison ähnliche Krise mit verminderter Stresstoleranz, Hypoglykämie, Apathie und lang anhaltender Adynamie. Für den Schiffsarzt herausfordernd war, dass Therapie und Diagnostik eines selten auftretenden Krankheitsbildes zunächst mit Bordmitteln durchgeführt werden mussten. Segelschulschiff „Gorch Fock“ segelte während der Ereignisse vor der marokkanischen Küste, so dass eine zügige Übergabe der Patientin aufgrund schwer abschätzbarer medizinischer Versorgungsmöglichkeiten an Land nicht geboten schien. So wurde schiffsärztlicherseits nach Rücksprache mit dem Kommandanten entschieden, die Soldatin zunächst medizinisch an Bord zu versorgen. Mit zunehmender Stabilisierung der Patientin unter der Medikation konnte die Ausbildungsreise ohne Unterbrechung bis Vigo / Spanien fortsetzt werden. Die Repatriierung erfolgte am 01.12.2005 unter Begleitung ins Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, wo auf der Inneren Abteilung die weitere endokrinologische Einstellung mit Fludrocortison und Hydrocortison sowie einem Antiandrogen erfolgte. Die Soldatin konnte schon bald ihre Ausbildung zum Marineoffizier wieder aufnehmen und gewann ein halbes Jahr später in bemerkenswerter Weise einen Triathlon.

Datum: 13.12.2009

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2009/4

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