DAS H-MODUL - PRÄDIKATION DES HÄMATOLOGISCHEN STRAHLENSCHADENS INNERHALB DER ERSTEN DREI TAGE NACH DER BESTRAHLUNG*

The H-Module – Prediction of Radiation-Induced Hematological Damage within the First Three Days after Exposure

Aus dem Institut für Radiobiologie der Bundeswehr in Verbindung mit der Universität Ulm, München (Leiter: Oberstarzt Prof. Dr. V. Meineke

Tobias Knie, Matthias Port, Harald Dörr, Bettina Pieper, Frank Weber, Viktor Meineke und Michael Abend)

* Nach einem Vortrag, für den Oberstabsarzt Dr. Knie im Rahmen des 42. Kongresses der DGWMP am 14. Oktober 2011 in Erfurt mit dem Heinz-Gerngroß-Förderpreis 2011 ausgezeichnet wurde.

Ein essenzieller Auftrag des Medizinischen A-Schutzes ist die Selektion von Patienten, die nach Strahlenexposition intensiver Therapie in spezialisierten Krankenhäusern bedürfen.

Medizinisch relevante Erkenntnisse aus stattgehabten Strahlenunfällen wurden so aufbereitet, dass diese Aufgabe auch von Ärzten ohne spezielle Kenntnisse im Medizinischen A-Schutz bewältigt werden kann.

Methoden:

Die Datenbank SEARCH beinhaltet Aufzeichnungen zu strahlenverunfallten Patienten. Deren Blutbilder wurden mit dem dokumentierten Schweregrad des hämatologischen Strahlenschadens (H1-4) in Beziehung gesetzt. Unbestrahlte Patienten dienten als Vergleichsgruppe (H0). Die Datensätze wurden in folgende einsatzrelevante Kategorien aufgeteilt: H0 versus H1-4 (bestrahlt vs. unbestrahlt), H0-1 versus H2-4 (ambulante vs. stationäre Weiterbehandlung) und H0-2 versus H3-4 (gute vs. schlechte Prognose). Zur Diskriminierung der Kategorien diente die logistische Regressionsanalyse. Die strahleninduzierte Lympho- und Thrombozytopenie sowie die initiale Granulozytose wurden als Parameter verwendet. Aus 453 Datensätzen wurden entsprechende Risikomodelle generiert und anschließend an einer unabhängigen Patienten-/ Probandengruppe und 281 Datensätzen validiert.

Ergebnisse:

Es wurde ein biostatistisches Modell entwickelt, das auf Differenzialblutbildern basiert, die innerhalb der ersten drei Tage nach Strahlenexposition bestimmt wurden. Mit dem sehr einfach anzuwendenden Verfahren können mit einer Sicherheit von bis zu 97 % unbestrahlte (H0) von strahlenexponierten Patienten (H1-4) unterschieden werden. Basierend auf diesem H-Modul kann die Vorhersage des hämatopoetischen Strahlenschadens in Therapieempfehlungen umgewandelt werden.

Schlussfolgerungen:

Das H-Modul stellt ein wichtiges Werkzeug zur frühzeitigen Diagnostik hämatopoetischer Strahlenschäden dar, das auch in der Hand eines Arztes ohne Expertise im Bereich des Medizinischen A-Schutzes eine frühe und präzise Unterstützung in der Triage von bestrahlten Patienten erlaubt.

Summary

Background:

An important part of medical radiological and nuclear defense is identifying patients who require intensive care after radiation exposure. Medically relevant findings from previous radiation accidents were edited in such a way that physicians without specia - list knowledge can also perform this task.

Methods:

The SEARCH database contains medical histories of radiation accident victims. Their blood counts were aligned with the documented severity of radiation-induced hematological damage (H1-4). Patients who were not exposed (H0) served as a reference group. The data were assigned to the following mission- relevant categories: H0 versus H1-4 (exposed vs. not exposed), H0-1 versus H2-4 (outpatient vs. inpatient treatment), and H0-2 versus H3-4 (good vs. poor prognosis). We used logistic regression analysis to distinguish between the categories. Radiation-induced lymphocytopenia, initial granulocytosis, and thrombocytopenia served as parameters. Risk models were generated from 453 data sets. Afterwards validation was carried out on different data sets (n=281).

Results:

The bio-statistical model generated allowed us – based on blood counts from the first three days after radiation exposure – to predict patient outcomes. Patients who were not exposed (H0) could be distinguished with up to 97 % certainty from those who were exposed (H1-4) from the very first day after exposure. The H-Module provides a prediction of hematopoietic radiation damage as well as therapeutic recommendations immediately after a blood count is entered.

Conclusions:

The H-Module is an important tool for the early diagnosis of radiation-induced hematopoietic damage and can also be used by physicians who do not have specialist knowledge.

Keywords:

mass-casualty incident, medical nuclear defence, radiation accident management, dosimetry, hematopoietic syndrome

1. Einleitung

Im Rahmen des Medizinischen A-Schutzes, repräsentiert durch das Institut für Radiobiologie der Bundeswehr sowie den Task Force Anteil MedA, müssen im Falle eines radiologischen (zum Beispiel „Dirty Bomb“) oder nuklearen Zwischenfalls (zum Beispiel Kernkraftwerksunfall) potenziell strahlenexponierte Patienten schnell der notwendigen Therapie zugeführt werden. Die möglichst frühzeitige Diagnose einer akuten Strahlenkrankheit und im Besonderen des hämatopoetischen Syndroms ist für die Planung der Versorgung und die korrekte Allokation der Patienten essenziell.

Bisher stützt sich die Diagnose der akuten Strahlenkrankheit im Wesentlichen auf die Pfeiler physikalische Messungen und Rekonstruktion der absorbierten Strahlendosis, klinische Zeichen und Symptome, sequenzielle Blutbilddiagnostik im Verlauf (> 5 d) und biologische Dosimetrie (zum Beispiel dizentrische Chromosomenanalyse) [1, 2, 3, 4]. Da das hämatopoetische System nicht nur besonders strahlensensibel ist, sondern auch sehr schnell reagiert, kann die Beurteilung von strahleninduzierter Lymphozytopenie, Granulozytose und Thrombozytopenie bereits sehr früh wichtige Hinweise zum sich später entwickelnden Schweregrad der Erkrankung liefern.

Die Auswirkungen hoher Strahlendosen auf den Menschen, die Einteilung in Schweregrade des Strahlenschadens und die entsprechende Therapie sind in METREPOL (Medical Treatment Protocols for Radiation Accident Victims) festgehalten [5]. Unter Anderem findet sich hier die Einteilung des hämatologischen Strahlenschadens in die Schweregrade H1-4.

Dies stellt die Basis des hier beschriebenen H-Moduls dar, wobei der Fokus auf folgenden Fragestellungen liegt:

• Ist der Patient strahlenexponiert (H1- 4) oder nicht (H0)?
• Sind ambulante Kontrollen ausreichend (H0-1) oder muss der Patient hospitalisiert werden (H2-4)?
• Sind die Anforderungen an die Weiterbehandlung niedrig (H0-2) oder hoch (H3-4) (siehe Abb 1)?

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Abb 1: Das hämatopoetische Syndrom [modifiziert nach 5].

Die Entwicklung des H-Moduls hatte das Ziel, den behandelnden Arzt bei der Akutdiagnostik und Sichtung im Rahmen eines radiologischen/nuklearen Szenarios zu unterstützen, auch wenn dieser keine Expertise im Medizinischen A-Schutz aufweist. Das Werkzeug sollte ferner möglichst einfach und universell verfügbar sein. Um das Projekt umzusetzen, fanden Daten von strahlenverunfallten Patienten Verwendung, welche in der Datenbank SEARCH (System for Evaluation and Archiving of Radiation Accidents Based on Case Histories) archiviert sind [6].

2. Material und Methoden

2.1 Hypothesengenerierung

Zur Hypothesengenerierung dienten Fälle strahlenexponierter Patienten aus oben genannter Datenbank SEARCH. Diese beinhaltet klinische Daten, anamnestische Erhebungen und Blutbilder von Strahlenunfallopfern stattgehabter Strahlenunfälle wie beispielsweise dem Reaktorunglück von Tschernobyl. Zusätzlich ist der hämatologische Strahlenschaden gemäß METREPOL (H1-4) für jedes Individuum hier dokumentiert. Die Anzahl an strahlenexponierten Patienten, die in die Hypothesengenerierung aufgenommen werden konnten, betrug 135. Dies ergab insgesamt 322 Blutbilder in den ersten drei Tagen nach Exposition.

Bei der nicht bestrahlten Kontrollgruppe (H0) handelte es sich um ein Kollektiv von 132 gesunden Soldaten im Alter zwischen 24 und 45 Jahren (45 % männlich; 55 % weiblich), denen im Rahmen von Routineuntersuchungen einmalig Blut abgenommen wurde. Ethische Grundsätze fanden zu jedem Zeitpunkt Beachtung und wurden kommissionell geprüft. 2.2 Validierung Die Validierung erfolgte an einem vom Hypothesengenerierungsprozess unabhängigen Kollektiv, das sich folgendermaßen zusammensetzte: Strahlenexponierte Patienten wurden erneut aus SEARCH akquiriert (14 Individuen, 31 Blutbilder). Zusätzlich wurden Blutbilder von therapeutisch bestrahlten Leukämiepatienten der Medizinischen Hochschule Hannover verwendet (26 Individuen, 32 Blutbilder). Die Kontrollpopulation bestand aus nicht bestrahlten Patienten der Abteilung für Neurologie des Bundeswehrkrankenhauses Ulm (212 Individuen, 212 Blutbilder). Diese wurde, beruhend auf dem Vorhandensein einer akut-entzündlichen Erkrankung, in zwei Gruppen aufgeteilt (158 Individuen ohne, 52 mit akut-entzündlicher Erkrankung).

2.3 Blutbilder

Die Konzentrationen der Lymphozyten, Granulozyten und Thrombozyten wurden in Zellen pro Nanoliter angegeben. Die Aufnahmekriterien für die Strahlenunfallopfer aus der Datenbank SEARCH bezogen sich auf das Vorhandensein von Datensätzen mit dokumentierten Blutbildern aus den ersten drei Tagen nach Bestrahlung. Für die entsprechenden Patienten erfolgte die Diagnose H1 bis H4 gemäß METREPOL. Da die Leukämiepatienten vor ihrer Bestrahlung bereits Chemotherapien erhalten hatten, wurden nur Patienten in Regeneration mit „normalen“ Blutbildern (innerhalb der 5 – 95 %-Perzentile unserer Kontrollgruppe) vor Bestrahlung in die Studie aufgenommen.

2.4 Schweregrad des hämatologischen Strahlenschadens (H1-4)

Basierend auf METREPOL existieren folgende Schweregrade: leichter (H1), moderater (H2), schwerer (H3) und letaler (H4) hämatologischer Strahlenschaden [5]. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist die autochthone Regeneration des blutbildenden Knochenmarks, die beispielsweise bei H3 noch möglich, bei H4 jedoch sehr unwahrscheinlich ist (Abb 1). Die Bezeichnung H0 diente zur Klassifikation der unbestrahlten Individuen. Die in SEARCH archivierten Fälle wurden durch Experten in die entsprechenden Gruppen kategorisiert.

2.5 Statistik

2.5.1 Hypothesengenerierung

Es erfolgte zunächst die Trennung der hämatologischen Schweregrade in zwei einsatzrelevante Kategorien. Dabei wurden Modelle zur Beantwortung dreier klinisch relevanter Fragestellungen gebildet:

(1) H0 versus H1-4 (nicht bestrahlt versus bestrahlt),
(2) H0-1 versus H2-4 (kein/leichter versus moderater bis letaler hämatologischer Strahlenschaden) und
(3) H0-2 versus H3-4 (kein bis moderater versus schwerer/letaler hämatologischer Strahlenschaden).

Für jede der binären Kategorien wurde die Assoziation der Anzahl der Lymphozyten, Granulozyten und Thrombozyten mit dem hämatologischen Strahlenschaden einzeln und für jeden der ersten drei Tage nach Bestrahlung separat untersucht (univariater Ansatz). Danach wurde geprüft, ob durch Kombination der Blutzellanzahlen die Assoziation mit dem Strahlenschaden verbessert werden kann (multivariate Analyse). Zur Beurteilung diente hier unter anderem der für jedes Modell errechnete Parameter „r-Quadrat“ (r2). Er beschreibt, wie gut die binären Kategorien voneinander unterschieden werden können. Ein r² = 1 bedeutet beispielsweise eine 100 %-ige Diskriminierung.

Im Rahmen der analytischen Statistik wurden Wichtungsfaktoren (sogenannte maximum likelihood estimates, MLE) generiert sowie p- Werte (X²-Test) berechnet und ROC-Kurven angefertigt, die eine Visualisierung von Sensitivität, Spezifität sowie PPV und NPV (positiver/ negativer Vorhersagewert) erlaubten. Auch hier spricht eine AUC (area under the curve) gleich 1 für eine 100 %-ige Diskriminierung der beiden betrachteten Kategorien. Zur Beurteilung der Tage 2 und 3 nach Bestrahlung wurden im multivariaten Ansatz auch Blutzellbestandteile von unterschiedlichen Tagen kombiniert und nach oben genanntem Verfahren auf ihre Bedeutung zur Diskriminierung beider Kategorien geprüft. Die statistischen Erhebungen erfolgten unter Zuhilfenahme von SAS (Version 9.1.3, Cary NC, USA). Die graphischen Darstellungen wurden mittels Sigma Plot (Sigma Plot, 2009, Jandel, Weiterstadt, Deutschland) umgesetzt.

2.5.2 Validierung

Diejenigen Modelle (ngesamt = 9), die für die einzelnen Kategorien und die Tage 1 bis 3 nach Bestrahlung die beste Diskriminierung aufwiesen, wurden für die Validierung genutzt.

Für jede einzelne Kombination an Blutbildwerten generierten die Modelle Vorhersagewerte, die mit der Auftretenswahrscheinlichkeit für die eine oder die andere Kategorie korrelierten. Eine Wahrscheinlichkeit von 0,9 könnte beispielsweise für H1-4 mit einem PPV von 95 % sprechen, während der NPV für H0 bei 56 % liegt.

Für die Vorhersage von einer bestimmten Kategorie wurde ein PPV/NPV von 95 % festgelegt. Damit stellten wir sicher, dass nach Eingabe der Blutbildbestandteile in das Modell nur dann eine Prädiktion für die eine oder andere Kategorie erfolgte, wenn die Wahrscheinlichkeit dafür bei mehr als 95 % lag. Lagen die errechneten Wahrscheinlichkeiten außerhalb dieses Bereichs, dann generierte unser Modell keine Präferenz für die eine oder andere Kategorie. Außerdem wurde nur dann eine Präferenz für die eine oder andere Kategorie gegeben, wenn der Unterschied zwischen PPV und NPV mindestens 10 % betrug. Die neun Modelle wurden nun mit den im Vorfeld hinsichtlich des Schweregrades des hämatologischen Strahlenschadens verblindeten Blutzellwerten aus dem Validierungskollektiv befüllt. Mithilfe von Kontingenztafeln wurden folgende Fallzahlen dargestellt:

  • Richtig Positive (RP): ein strahlenexponierter Patient [H1-4] wird richtigerweise auch als ein solcher prädiktiert [H1-4],
  • Richtig Negative (RN): ein nicht strahlenexponierter Patient [H0] wird richtigerweise auch als ein solcher prädiktiert [H0],
  • Falsch Positive (FP): ein nicht strahlenexponierter Patient [H0] wird fälschlicherweise als ein strahlenexponierter [H1-4] prädiktiert,
  • Falsch Negative (FN): ein strahlenexponierter Patient [H1-4] wird fälschlicherweise als nicht strahlenexponierter [H0] prädiktiert.

Folgende statistische Parameter wurden darüber hinaus im Rahmen der Validierung berechnet:

  •  Sensitivität: RPx100/(RP + FN),
  • Spezifität: RNx100/(RN + FP),
  • PPV: RPx100/(RP+FP),
  • NPV: RNx100/(RN+FN),
  • Overall Agreement: (RP+RNx100) /(RP+RN + FP+FN),
  • Kappa-Statistik: k = (tatsächlich Strahlenexp - prädiktiert Strahlenexp.)/1 - prädiktiert Strahlenexp.,
  • Prozentualer Anteil der nicht vorhersagbaren Kombinationen.

3. Ergebnisse

3.1 Kollektiv zur Hypothesengenerierung

Der Lymphozytenabfall nach Strahlenexposition verbesserte die Identifizierung der nicht bestrahlten Kontrollgruppe und korrelierte mit einer Erhöhung des Schweregrades des hämatologischen Strahlenschadens. Parallel entwickelte sich eine initiale Granulozytose bei Strahlenunfallopfern. Am ersten Tag nach Bestrahlung war sie besonders ausgeprägt, um am zweiten und dritten Tag bereits wieder abzufallen. Ebenso kam es zu einer langfristigen Depletion der Thrombozytenzahl, die allerdings in den ersten drei Tagen nach Bestrahlung wenig ausgeprägt war.

So wurden für den ersten Tag nach Bestrahlung drei Kombinationsmöglichkeiten errechnet, die die bestmögliche Diskriminierung der binären Kategorien ermöglichen sollten.

Für die Modelle H0 versus H1-4 und H0-1 versus H2-4 trug die Lymphozytopenie als einzeln betrachtete Variable mit einem r2 von fast 70 % am aussagekräftigsten zur Diskriminierung der beiden Kategorien bei. In Kombination mit dem Granulozytenwert konnte der r²-Wert um weitere 11 – 17 % gesteigert werden. Dieser Wert änderte sich nach Hinzufügen der Thrombozytenwerte in das Modell nur gering. Allerdings war diese Variable signifikant für das Modell.

Im Gegensatz dazu wies im Modell H0-2 versus H3-4 für den ersten Tag nach Bestrahlung der Granulozytenwert mit 57 % die höchste Aussagekraft auf. Die Kombination von Lymphozyten und Granulozyten führte jedoch wiederum zu einer Verbesserung auf 75 %. Bei einer Kombination aller drei Blutzellbestandteile konnte ein r² von 84 % errechnet werden. Diese Ergebnisse konnten mittels ROCKurven veranschaulicht werden (Abb 2).

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Abb 2: ROC-Kurve für H0 versus H1-4 am 1. Tag nach Bestrahlung: Die flacher verlaufende Kurve für Lymphozyten (o) bedeutet eine im Vergleich zu den anderen beiden Kombinationen schlechtere Diskriminierung.

Im Bereich der angewendeten Wichtungsfaktoren lagen die Werte für die errechneten Modelle für Lymphozyten stets circa doppelt so hoch wie für Granulozyten.

Für den zweiten Tag nach Bestrahlung wurden zwei Kombinationsmöglichkeiten berechnet. Eine nahezu perfekte Diskriminierung wurde mit der Kombination aus Lympho- und Granulozyten des ersten Tages nach Bestrahlung mit den Lymphozyten des zweiten Tages nach Bestrahlung erzielt. Das r² für die drei Modelle betrug zwischen 91 und 93 %. Erwähnenswert ist, dass hier der Wichtungsfaktor für die Lymphozytenzahl des zweiten Tages bis zu 5,6-fach höher war als für die Granulozytenzahl des ersten Tages nach Bestrahlung.

Auch für den dritten Tag nach Bestrahlung wurden zwei Kombinationsmöglichkeiten errechnet. Die bestmögliche Diskriminierung wurde mit der Kombination Granulozyten des ersten Tages, Lymphozyten des zweiten Tages und Granulozyten des dritten Tages erreicht. Auch hier waren die Wichtungsfaktoren für die Lymphozytenwerte bis zum 6,5-fachen höher als die Granulozytenwerte. Diese Ergebnisse wurden durch die erstellten ROC-Kurven visualisiert.

3.2 Kollektiv zur Validierung

Zur Prädiktion der prognostisch günstigeren Kategorie in allen drei berechneten Modellen für alle drei Tage nach Bestrahlung zeigte sowohl die Spezifität als auch der NPV stets Werte oberhalb 92 %. Sensitivität und PPV – zur Prädiktion der ungünstigen Prognose – lagen hier für H0 versus H1-4 niedriger (circa 80 %), während für die beiden anderen Modelle die Werte zwischen 87 und 99 % lagen.

Das Overall Agreement (stets > 90 %) und das Kappa (0,7 - 0,9) belegten die prädiktive Aussagekraft der errechneten Modelle (Tab 1).

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Tab 1: Validierung - Statistische Parameter.

Der Anteil an Blutbildern, bei denen im H-Modul keine Prädiktion möglich war, fiel mit der Zeit nach Bestrahlung ab, zum Beispiel von 17,6 % am ersten Tag auf 8,3 % am dritten Tag nach Bestrahlung für H0 versus H1-4. Die Vorhersagekraft stellte sich darüber hinaus als abhängig vom Infektionsstatus der Patienten heraus. Mit steigender Anzahl der prädiktierten Patienten mit akuter Entzündung stieg auch der Anteil der falsch positiv bewerteten Patienten, was mit einem Abfall der Spezifität um 2 – 10 % und des PPV um 13 – 31 % für die einzelnen Modelle vergesellschaftet war.

3.3 Umsetzung als Excel-Datei

Abschließend wurden die prädiktivsten Modelle als xls-Datei (ExcelTM) umgesetzt. Hierbei sind durch den Benutzer beispielsweise für den Tag 1 nach Bestrahlung die entsprechenden Blutbildwerte einzugeben. Umgehend liefert die Datei Prognosen für alle drei binären Modelle inklusive zugehörigem Vorhersagewert. Darüber hinaus werden Diagnosen hinsichtlich des hämatologischen Strahlenschadens abgebildet und Empfehlungen zum optimalen therapeutischen Procedere gegeben (Abb 3).

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Abb 3: Das H-Modul: Lymphozytopenie, Granulozytose und Thrombozytopenie am ersten Tag nach Bestrahlung deuten auf einen schweren/letalen Strahlenschaden hin [Quelle: Matthias Port, Klinik für Hämatologie, Hämostaseologie, Onkologie und Stammzelltransplantation, Medizinische Hochschule Hannover; Tobias Knie, InstRadBioBw, München].

4. Diskussion und Schlussfolgerungen

Das H-Modul prognostiziert den Schweregrad des hämatologischen Strahlenschadens innerhalb der ersten drei Tage nach Strahlenexposition. Dadurch dient es den behandelnden Ärzten bei der Akutdiagnostik nach Strahlenunfällen und bei der Sichtung bei einem Massenanfall von Verletzten/ Strahlenunfallopfern, ohne dass der Arzt spezielle Kenntnisse im Medizinischen A-Schutz aufweisen muss. Das HModul basiert auf realen Strahlenunfalldaten, stützt sich nicht auf physikalische Messtechniken und erlaubt eine Prädiktion des Strahlenschadens und nicht der Dosis. Gerade bei zeitkritischen Erhebungen wie beispielsweise im Sichtungsfall kann oftmals nicht auf biologische Dosimetrieverfahren wie die dizentrische Chromosomenanalyse gewartet werden [8]. Es muss deutlich schneller eine Entscheidung hinsichtlich des weiteren therapeutischen Procederes getroffen werden. Zudem führt die gleiche Dosis aufgrund der interindividuellen Strahlenempfindlichkeit zu einer unterschiedlichen Ausprägung des Strahlenschadens. Deshalb ist die Vorhersage des Strahlenschadens auf der Basis klinischer Symptome und Befunde einer reinen Betrachtung von Dosiswerten vorzuziehen.

Ein einziges Blutbild in den ersten drei Tagen nach Strahlenexposition ist ausreichend, um mit Vorhersagewerten zwischen 75 – 96 % eine richtige Diagnose stellen zu können. Alle bisherigen Systeme zur Abschätzung des Strahlenschadens zeigen hier deutliche Einschränkungen, insbesondere im Hinblick auf die erforderliche Anzahl von Blutbildern [4, 7].

Bewusst wurden beim H-Modul die zu prädiktierenden Strahlenschäden auf zwei Kategorien reduziert, um essenzielle klinische Fragestellungen (zum Beispiel: Hospitalisierung ja/nein?) schneller beantworten zu können. Dadurch handelt der Arzt nicht nur im Sinne des Patienten, sondern trägt auch zur Schonung knapper klinischer Ressourcen bei (zum Beispiel Intensivbetten).

Während des Validierungsverfahrens wurde bestätigt, dass Entzündungen einen Einfluss auf die Vorhersagekraft des H-Moduls haben. Dabei sank in erster Linie der PPV ab, während der NPV weitestgehend unverändert blieb, was sich in einem Anstieg der falsch positiv prädiktierten Patienten niederschlug. Dies ist durch den Anstieg der Granulozyten bei inflammatorischen Erkrankungen begründet. Vor allem der erste Tag nach Bestrahlung ist davon betroffen, da besonders hier die initiale Granulozytose zu beobachten ist und somit im weiteren Verlauf der Wichtungsfaktor für Granulozyten im Vergleich zu dem der Lymphozyten deutlich abnimmt. Daher ist bei Benutzung des H-Moduls zu beachten, dass behandelte Patienten hinsichtlich möglicher Entzündungserkrankungen befragt werden. Falls ein Patient vorerkrankt ist, muss mit einer eingeschränkten Aussagekraft, vor allem im Bereich des positiven Vorhersagewerts (Reduktion von bis zu 20 %), gerechnet werden.

Um die Anzahl an Fallzahlen zu erhöhen, wurden Leukämiepatienten in die Validierungsschritte mit aufgenommen. Nach Ganzkörperbestrahlung reagierten diese mit einem sehr schweren hämatologischen Strahlenschaden (H4), um anschließend ihr Knochenmarkstransplantat zu erhalten. Hierbei ist erwähnenswert, dass die Patienten im Vorfeld eine Chemotherapie erhielten und somit deutlich schneller und bereits bei geringeren Strahlendosen reagierten. Die sehr heftige hämatologische Reaktion dieser Patienten kann die Diskriminierung von Patienten mit schweren Strahlenschäden im Rahmen der Validierung erleichtert haben. Daher soll bei weiteren wissenschaftlichen Fragestellungen ein “Random sampling” durchgeführt werden.

Zusammenfassend handelt es sich bei dem H-Modul um ein benutzerfreundliches, vielseitig einsetzbares und kosteneffizientes Werkzeug, welches innerhalb der ersten drei Tage nach Strahlenexposition anhand von Blutbildern eine Aussage zum Schweregrad des zu erwartenden hämatologischen Strahlenschadens erlaubt, ohne dass beim ärztlichen Personal Fachkenntnisse im Medizinischen A-Schutz zwingend erforderlich sind. Der Transfer von Daten von Strahlenunfallopfern in ein klinisch überaus praktikables Hilfsmittel trägt nicht nur zur optimalen Behandlung von Strahlenverunfallten bei, sondern hilft auch, knappe klinische Ressourcen insbesondere im Einsatzland zu schonen.

Literatur:

  1. Waselenko JK, MacVittie TJ, Blakely WF et al.: Medical management of the acute radiation syndrome: recommendations of the Strategic National Stockpile Radiation Working Group. Ann Intern Med 2004; 140(12): 1037-1051
  2. Weinstock DM, Case C, Jr., Bader JL et al.: Radiologic and nuclear events: contingency planning for hematologists/oncologists. Blood 2008; 111(12): 5440-5445
  3. Dainiak N, Waselenko JK, Armitage JO, MacVittie TJ, Farese AM: The hematologist and radiation casualties. Hematology Am Soc Hematol Educ Program 2003; 473- 496.
  4. Sandgren DJ, Salter CA, Levine IH, Ross JA, Lillis-Hearne PK, Blakely WF: Biodosimetry Assessment Tool (BAT) softwaredose prediction algorithms. Health Phys 2010; 99(Suppl 5): 171-183
  5. Fliedner TM, Friesecke I, Beyrer K: British Institute of Radiology. Medical management of radiation accident—manual on the acute radiation syndrome (METREPOL European Commission concerted action). Oxford, 2001
  6. Friesecke I, Beyrer K, Wedel R, Reimers K and Fliedner TM: SEARCH - System for Evaluation and Archiving of Radiation Accidents based on Case Histories. Radiat Environ Bioph 2000; 39: 213-217
  7. Graessle DH, Fliedner TM: Computer-assisted severity of effect assessment of hematopoietic cell renewal after radiation exposure based on mathematical models. Health Phys 2010; 98(2): 282-289
  8. Romm H, Wilkins RC, Coleman CN et al.: Biological dosimetry by the triage dicentric chromosome assay: potential implications for treatment of acute radiation syndrome in radiological mass casualties. Radiat Res 2011; 175(3): 397-404

Datum: 28.02.2012

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2012/1

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