Am 06.02.2023 erschüttern Erdbeben der Stärke 7,8 und 7,6 das Grenzgebiet der Türkei zu Syrien. Ein Gebiet halb so groß wie Deutschland wird dabei in Teilen zerstört. Die Hilfe des Sanitätsdienstes der Bundeswehr (SanDstBw) wird dankbar von der Bevölkerung angenommen. Die Erfahrungen dieses Einsatzes werden zukünftig dazu beitragen, dass humanitäre Hilfe noch schneller und effektiver geleistet werden kann.
Historisches Erdbeben und Humanitärer Hilfseinsatz
Am 06.02.2023 erschüttern Erdbeben den Süden der Türkei und Syrien. Die Region Hatay liegt an der Grenze der Anatolischen und der Arabischen Platte und erfährt regelmäßig Erdbeben entlang der Ostanatolischen Verwerfungen. Dieses Erdbeben betrifft Millionen Menschen und ist in dieser Region nur mit Erdbeben im 2. und 6. Jahrhundert in Antiochia, dem heutigen Antakya, zu vergleichen. Der Untergrund wird auf einer Länge von etwa 400 km aufgerissen. Mindestens 50 000 Menschen verlieren alleine in der Türkei ihr Leben, mehr als 100 000 Menschen sind teils schwer verletzt. In der Region Hatay sind 1,3 von 2 Mio Menschen betroffen. Etwa 230 000 Gebäude werden zerstört oder so stark geschädigt, dass sie nicht weiter genutzt werden können, darunter auch Krankenhäuser. Die Unvorhersagbarkeit und Kurzfristigkeit von Katastrophen setzen die Verfügbarkeit von reaktionsfähigen Kräften für Hilfeleistungen voraus.
Der SanDstBw stellte mit dem Luftlanderettungszentrum (LLRZ) des Kommando Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst (Kdo SES) das Kernelement des humanitären Hilfseinsatzes. Der Einsatz erfolgte nach einem Hilfeersuchen der türkischen Regierung an die Bundesregierung. Am 27.02. verlegten erste Kräfte zur Erkundung in die Region Hatay. Die Patientenversorgung im LLRZ erfolgt über zwei Monate vom 22.03.–22.05.2023. Einsatzraum und der Einsatzort Altinözü wurden durch das türkische Gesundheitsministerium zugewiesen. Altinözü, nur 15 km von der syrischen Grenze entfernt, ist eine Stadt, in der bisher keine internationale medizinische Hilfe ankam. Das örtliche Krankenhaus war durch die Beben schwer beschädigt und nicht mehr nutzbar. Die medizinische Versorgung in der Region wurde über improvisierte Zeltambulanzen oder wenige Feldhospitäler sichergestellt.
Die Bevölkerung von Altinözü umfasst 85 000 Menschen und ist zuletzt durch Flüchtlinge auf über 200 000 angewachsen. Nachdem in den ersten Tagen nach der Katastrophe die Bundeswehr mit dem Transport von Hilfsgütern unterstützte und Hilfsorganisationen sich auf die Rettung von Verschütteten konzentrierten, schloss sich eine Phase erster medizinischer Unterstützung in der Region an. Der Einsatz des LLRZ folgte diesem Abschnitt und setzte die medizinische Versorgung in der Region fort, während erste internationale Hilfskräfte bereits wieder abzogen. Der SanDstBw konnte mit seinen schnell verfügbaren und luftbeweglichen Sanitätseinrichtungen insbesondere in den ersten Tagen und Wochen nach dieser Katastrophe wertvolle medizinische Unterstützung leisten.
Nicht der erste humanitäre Einsatz des Sanitätsdienstes
Der SanDstBw leistet regelmäßig humanitäre Hilfe. Bereits 1960 stellte der SanDstBw in dem ersten internationalen Hilfseinsatz der Bundeswehr mit einem Hauptverbandplatz die medizinische Versorgung nach einem Erdbeben in Marokko sicher. Weitere Hilfseinsätze bis zuletzt im Ebolagebiet in Liberia (2014) oder der Beitrag in der COVID-19-Pandemie beweisen die Einsatzbereitschaft und Reaktionsfähigkeit des Sanitätsdienstes. Er leistet, abgeleitet aus den Aufgaben des Weißbuchs der Bundesregierung, neben der Landes- und Bündnisverteidigung, der Nationalen Katastrophenvorsorge sowie der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr auch einen wesentlichen Beitrag zur humanitären Not- und Katastrophenhilfe. Die hohe Reaktionsfähigkeit des SanDstBw für humanitäre Einsätze wird durch Rückgriff auf Personal und Material garantiert, das konkret für militärische Aufträge benannt, vorgehalten und vorbereitet ist.
Patientenaufkommen und Krankheitsbilder in einem humanitären Einsatz unterscheiden sich wesentlich von militärischen Einsätzen. Im Einsatzzeitraum während des Türkeieinsatzes wurden über 5 200 Patienten im LLRZ behandelt. Aufgrund der Beschädigung des zivilen Krankenhauses war im Schwerpunkt die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung in der Region zu unterstützen. Bei einem nur schwach ausgebildeten primärärztlichen System in der Türkei wurden durchschnittlich 100 Patienten pro Tag (davon ca. 95 % ambulant) durch das Sanitätspersonal rund um die Uhr behandelt. 20–25 % der Patienten waren Kinder im Alter von 0–17 Jahren.
Etwa 15 % der Behandelten Menschen waren älter als 65 Jahre. Gynäkologische und geburtshilfliche Patientinnen machten einen ähnlich großen Anteil der erforderlichen Grundversorgung aus, wurden aber nach Absprache mit dem lokalen Krankenhaus ausschließlich dort behandelt. Neben den notfallmedizinischen und notfallchirurgischen Fällen gehörten insbesondere allgemeinmedizinische und internistische Erkrankungen zum täglichen Behandlungsauftrag. Dekompensierte chronische Erkrankungen, bei denen die Menschen aufgrund der Erdbebenfolgen eine Unterbrechung der Behandlung erleiden mussten, waren genauso üblich wie indirekte Folgen des Erdbebens (z. B. Wundheilungsstörungen). Die Mehrzahl der über 600 Operationen erfolgte ambulant. Direkte Traumata oder Verletzungen vergleichbar zu militärischen Einsätzen mit der Notwendigkeit zur Durchführung von ressourcenlimitierter Damage Control Surgery (rDCS) wären in einer früheren Phase nach dem Beben zu erwarten gewesen.
Eine effektive Patientenversorgung in einem humanitären Hilfseinsatz erfordert breite Fähigkeiten. Das Patientenaufkommen eines humanitären Einsatzes ist – neben der zwingenden Notwendigkeit zur rDCS – vergleichbar mit dem Aufkommen bei der Evakuierung von Menschen aus einem unsicheren Umfeld (MilEvakOp).
Luftlanderettungszentrum
Das LLRZ, ausgelegt auf die chirurgische Versorgung bei MilEvakOp, ist an einen humanitären Auftrag anzupassen. Für den Einsatz in der Türkei wurde das LLRZ um einen ambulanten allgemeinmedizinischen/internistischen Bereich, eine Pflegegruppe mit 24 Betten und ein mikrobiologisches Labor erweitert. Die Erweiterungen resultieren aus den Erkundungsergebnissen. Trotz dieser Erweiterungen fehlten Qualifikationen (z. B. Pädiater) oder Material (beispielsweise neben der vorhandenen FAST-Sonographie ein internistisches Ultraschallgerät, Endoskope sowie Platten- oder Nagelosteosynthesematerial) um eine umfassende Versorgung sicherzustellen. Das Fachpersonal aus dem Kdo SES, den Bundeswehrkrankenhäusern, den Regimentern, den Sanitätsunterstützungszentren und die Sprachmittler mit Türkischkenntnissen arbeiteten hervorragend zusammen.
Die Kooperation mit dem türkischen Gesundheitssystem glich Fähigkeitslücken in Teilen aus und war essentiell für den Erfolg dieses Einsatzes. Die Integration eines türkischen Pädiaters und die Versorgung von gynäkologischen Patientinnen am lokalen Krankenhaus stellte die Versorgung dieser großen Patientengruppen sicher. Patiententriage, die Patientendokumentation in der türkischen elektronischen Gesundheitsakte sowie die Ausgabe eines türkischen Rezeptes für verschriebene Medikamente erfolgte durch die nationale medizinische Katastrophenschutzorganisation. Diese hatte hierzu ein Sichtungszelt der deutschen Behandlungseinrichtung angegliedert und ermöglichte mit ärztlichem und nichtärztlichem Unterstützungspersonal die Schnittstelle zum türkischen Gesundheitssystem und die Integrität und Verfügbarkeit aller relevanten medizinischen Informationen zur Weiterbehandlung. Auf diese Weise waren Untersuchungsbefunde und Behandlungsdaten für die zukünftige Versorgung durch das örtliche Gesundheitssystem verfügbar. Insbesondere bei der Verlegung von PatientInnen konnte so eine lückenlose Dokumentation der Behandlung sichergestellt werden.
Ein besonderer Einsatz mit Implikationen für das Kdo SES
Kurzfristige militärische Evakuierungsoperationen in Afghanistan und Sudan, die sanitätsdienstliche Unterstützung von Spezialkräften und humanitäre Hilfseinsätze erfordern reaktions- und leistungsfähige luftverlegbare Sanitätseinrichtungen (LSE). Der SanDstBw kann mit LSE insbesondere in den ersten Tagen und Wochen nach einer Katastrophe wertvolle medizinische Unterstützung leisten. Die hohe Einsatzbereitschaft des SanDstBw wird durch Rückgriff auf Personal und Material garantiert, das konkret für militärische Aufträge benannt, vorgehalten und vorbereitet ist. Das Patientenaufkommen eines humanitären Einsatzes ist – neben der zwingenden Notwendigkeit zur rDCS – vergleichbar mit dem Aufkommen bei der Evakuierung von Menschen aus einem unsicheren Umfeld (MilEvakOp). Kurzfristige humanitäre Szenare benötigen nur wenige zusätzliche Fähigkeiten, die über aktuell verfügbares Material und Personal hinausgehen, um noch besser Hilfe leisten zu können.
Eine Erweiterung und Anpassung der Module der LSE für das Patientenklientel humanitärer Einsätze kann sowohl die Hilfe in Katastropheneinsätzen wie in der Türkei, als auch die Versorgung aller Patientengruppen (Truppe und zu Evakuierende) bei Evakuierungsoperationen verbessern. Eine Ausstattung des Kdo SES mit leichten Unterkünften, Sanitärmöglichkeiten und ausreichenden Umschlagmitteln kann die Reaktionszeiten bei kurzfristiger Alarmierung für autarke, eigenständig geführte und auf vier bis sechs Wochen befristete Einsätze deutlich reduzieren. Ein ausreichendes Vorhalten von LSE für alle zukünftigen Aufträge des Kdo SES kann auch zukünftig die hohe Einsatzbereitschaft und Reaktionsfähigkeit des Kdo SES und damit den schnellen Beitrag des SanDstBw als Effektor deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sicherstellen. Die Bevölkerung in Altinözü ist dankbar für diesen Einsatz. „Çok teşekkürler!“ – „Vielen Dank!“
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3/2023
Oberstarzt Dr. K. Schlolaut
Kommando Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst
Evenburg Kaserne
Papenburgerstr. 82
26789 Leer (Ostfriesland)
E-Mail: KaiSiegfriedSchlolaut@bundeswehr.org