27.09.2018 •

    Dynamische versus statische Lagen

    Was bedeutet das für unser Vorgehen?

    Bundeswehrkrankenhaus Hamburg

    Hintergrund

    In der Rettungsmedizin eingesetztes Personal ist in erster Linie darauf trainiert, nach notfallmedizinischen Algorithmen patientenorientiert zu handeln. Dieses setzt voraus, dass die zu Verletzungen einer oder mehrerer Personen führenden Ereignisse abgeschlossen sind (z. B. bei einem schweren Verkehrsunfall). Was aber ist, wenn z. B. bei einem Terroranschlag die Lage unklar ist, weitere Ereignisse bis zur Gefährdung des Rettungspersonals selbst drohen? Wie beeinflussen solche „dynamischen“ Lagen unser Handeln?

    Statisch versus dynamisch

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    Abb. 1: In statischen Lagen bestimmt der Patient, in dynamischen Lagen die Lage das Handeln des Rettungspersonals. (Bildquelle: links: Traumateam e. V., Ulm; rechts: Polizei Baden-Württemberg)
    Um die Frage zu klären, ob die sanitätsdienstliche Vorgehensweise bei dynamischen im Gegensatz zu statischen Lagen anders ist, muss man die Spezifika beider Lagen beleuchten.

    Bei statischen Lagen kann die Patientenversorgung unter den vertrauten Gesichtspunkten algorithmusorientiert und leitliniengerecht verlaufen. Die Lage ist gelöst, nach Kontaktaufnahme mit der Einsatzleitung (Leitender Notarzt/organisatorischer Einsatzleiter) werden die Patienten nach der primären Sichtung am Schadensort direkt oder am eingerichteten Behandlungsplatz (Verwundetensammelstelle) notfallmedizinisch versorgt und in die für den Patienten am besten geeignete Klinik verbracht.

    Bereits bei herkömmlichen dynamischen Lagen, wie sie beispielsweise aus der alpinen Rettung bekannt sind, stößt diese Vorgehensweise an ihre Grenzen. Die Lage ist möglicherweise noch nicht gelöst, die Kontaktaufnahme mit der Einsatzleitung gestaltet sich unter Umständen schwierig und die Einrichtung eines Behandlungsplatzes ist nicht immer zweckmäßig. Die Patientenversorgung sollte weiterhin algorithmusorientiert, aber auch situationsadaptiert, erfolgen. Eigenschutz gewinnt zunehmend an Bedeutung.

    Besondere Herausforderung: Terrorlagen

    Terrorlagen stellen die Maximalvariante einer dynamischen Lage dar. Ausmaß und Verlauf des Anschlags sind unklar, die Absicht der Täter und die resultierende Gefahrenlage sind unbekannt, durch „Lageänderung“ muss jederzeit mit einer Unterbrechung der Rettungsmaßnahmen gerechnet werden. Nicht mehr der Patient, sondern die taktische Lage bestimmt die sanitätsdienstliche Vorgehensweise.

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    Abb. 2: Der unsichere Bereich ist Verantwortungsbereich der Polizei. Hier ist mit Patientenversorgung unter direkter Bedrohung zu rechnen. Im teilsicheren Bereich findet die Versorgung in unmittelbarer Nähe der Bedrohung ohne direkte Täterwirkung statt. Der sichere Bereich stellt keine stationäre Größe dar. Hier findet die Versorgung außerhalb der Bedrohung, ggf. auf dem Transport statt. Das Einrichten eines Behandlungsplatzes im herkömmlichen Sinn ist unzweckmäßig. In der Erstversorgenden Klinik werden die Patienten situationsadaptiert primärversorgt. Abkürzungen: gPA (geschützte Patientenablage), BHP (Behandlungsplatz), EVK (erstversorgende Klinik)
    Erste Maßnahmen müssen ggf. unter Bedrohung getroffen werden. Eine örtliche Bindung am Schadensort birgt vitale Gefahren für Rettungskräfte und Patienten, daher muss ein schnelles Verlassen des Anschlagsortes unter Initiierung einer Primärtherapie im Sinne von „stop the bleeding and clear the scene“ angestrebt werden. Hierbei hat Eigenschutz die höchste Priorität. Die Patientenversorgung findet lageabhängig analog der Phasen der taktischen Verwundetenversorgung statt.

    Im zivilen Umfeld sind diese sogenannten „bedrohlichen Lagen“ primär polizeiliche Lagen. Die Festlegung der Raumordnung in unsichere, teilsichere und sichere Bereiche obliegt der Einsatzleitung der Polizei. Dabei entspricht die Versorgung im unsicheren Bereich der Phase „care under fire“, also unter direkter Einwirkung durch den/die Täter, oder Bedrohung und ist primär rein polizeiliche Aufgabe. Die medizinischen Maßnahmen können sich hier nur auf ein absolutes Minimum beschränken und sind von polizeilichen Kräften einzuleiten.

    Im teilsicheren Bereich können erweiterte Maßnahmen, analog der Phase „tactical field care“ ergriffen werden, wobei sich die versorgenden Kräfte hier auf eine rasche Lageänderung im Sinne einer plötzlich akuten Bedrohung einstellen müssen. Hier werden Patienten erneut gesichtet und gemäß dem A-B-C-D-E Schema weiterversorgt.

    Der sichere Bereich kann mit der Phase „tactical evacuation care“ verglichen werden. Hier findet eine weitergehende Re-evaluation und problemorientierte Behandlung, ggf. auch auf dem Transport in die Erstversorgende Klinik (EVK) im Sinne von „en route care“ statt. Die Einrichtung von Behandlungsplätzen ist hier nicht zweckmäßig, vielmehr sollten die vorhandenen logistischen und materiellen Ressourcen des Rettungsdienstes und des Katastrophenschutzes in die EVK verlagert werden, um diese zu unterstützen.

    Fazit

    Die Phasen und Versorgungsschwerpunkte der taktischen Verwundetenversorgung im Gefecht sind gut auf die Vorgehensweise bei dynamischen Lagen, insbesondere in Terror-Szenarien, zu übertragen.

    Um bei der permanent bestehenden „abstrakten“ Gefahr eines terroristischen Anschlags im Ernstfall eine suffiziente Patientenversorgung unter Vermeidung von Verlusten bei den Rettungskräften erzielen zu können, ist neben der gedanklichen Auseinandersetzung mit der Problematik und der Erarbeitung einer optimalen Vorgehensweise ein lückenloses Ineinandergreifen sämtlicher Schnittstellen in der Praxis erforderlich.

    Klare Kommunikation, Transparenz und Abstimmung, sowie das praktische Üben der jeweiligen spezifischen Vorgehensweisen aller beteiligten behördlichen, polizeilichen und rettungsdienstlichen Kräfte sind unabdingbare Voraussetzungen, um dieser drohenden Herausforderung kompetent zu begegnen.

    Oberstarzt Dr. Andreas Schwartz
    E-Mail: andreasschwartz@bundeswehr.org


    [1]  Für den Erwerb des Ausbildungs- und Tätigkeitsnachweises (ATN) Rettungsmedizin ist ein Ausbildungsgang zu durchlaufen, der inhaltlich im Wesentlichen auch für den Erwerb der zivilen Fachkunde Rettungsdienst zu absolvieren ist bzw. war. Letztere wird allerdings nicht mehr in allen Bundesländern verwendet, sondern wurde durch die Fachkunde Notfallmedizin abgelöst.

    Datum: 27.09.2018

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