07.05.2020 •

Das NATO Centre of Excellence for Military Medicine

Die sanitätsdienstliche Unterstützung der NATO im gegenwärtigen sicherheitspolitischen Umfeld

Wer sich in den letzten Jahren mit der Strategie der NATO auseinandergesetzt hat, wird zweifellos bedeutende neue Akzente in der ansonsten kontinuierlichen Transformation des Bündnisses festgestellt haben. Gerade als sich die durch die Angriffe vom 09.11.2001 verursachten tektonischen Verschiebungen in den strategischen Prioritäten allmählich verfestigt und zu einem Bündnis geführt hatten, das sich auf Auslands- bzw. Stabilisierungseinsätze konzentrierte, lösten die Unruhen in der Ukraine und die sich daran anschließende Invasion durch paramilitärische russische Kräfte eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Aufgabe des Bündnisses, nämlich die Landes- und Bündnisverteidigung aus.

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Personal des MilMedCOE bei der Übung Vigorous Warrior
Dies hat wiederum zu einer Neuausrichtung der Strategie geführt, nach der NATO-Staaten ihre Kräfte und Mittel einsetzen und sich auch die Prioritäten der etablierten Organisationen der NATO (politische Ebene, Kommandostruktur, spezialisierte Einrichtungen wie z. B. Exzellenzzentren) erheblich verändern. Je größer ein Schiff ist, desto schwerer ist es, dieses auf einen neuen Kurs zu bringen. Es ist nicht einfach zu erfassen, wie tiefgreifend die notwendigen Veränderungen von bislang auf Stabilisierungseinsätze orientierten Streitkräften hin zur Territorialverteidigung in ihrer Bedeutung tatsächlich sind. Diese Veränderungen bedeuten insbesondere auch, ins Kalkül zu ziehen, dass ein potentieller Feind in technologischer und organisatorischer Hinsicht sowie auch zahlenmäßig zumindest ebenbürtig ist.

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Diese Rückbesinnung wirkt sich deutlich auf die qualitativen und quantitativen Anforderungen an die sanitätsdienstliche Unterstützung auf dem Gefechtsfeld von heute aus, wie auch auf die praktischen Aspekte der Umsetzung dieser Unterstützung. Die NATO hat sich in den Jahrzehnten des „Kalten Krieges“ auf diese Art der kriegerischen Auseinandersetzung eingerichtet und kennt die Berechnungen zu den Ausfallraten im Kampf gleichstarker Gegner. Obwohl die technologische Weiterentwicklung, die Effektivität und Letalität der Waffen, die Rahmenbedingungen ­zwischenzeitlich verändert hat, können wir immer noch ähnliche Ausfallraten erwarten, mag man die Art der Kriegsführung nun als Territorialverteidigung oder als hybride Kriegsführung be­zeich­nen.

Auf der politisch-strategischen Ebene gibt es nur eine sehr kurz gehaltene Beschreibung der Anforderungen an die sanitätsdienstliche Versorgung. Die Armed Forces Declaration von Wales 2014 führt hierzu aus: „Wir werden bestrebt sein, den Austausch bewährter Vorgehensweisen und gewonnener Erkenntnisse zur Unterstützung der Angehörigen unserer Streitkräfte und ihrer Familien zu verbessern, einschließlich unserer nationalen Ansätze für die Bereitstellung von sanitätsdienstlicher Versorgung verwundeter Soldaten und die Unterstützung für Familien.“ Auch wenn es begrüßenswert ist, dass die Erklärung den Austausch von Erkenntnissen und bewährten Vorgehensweisen fordert, ist kaum zu übersehen, wie mit Worten jongliert wird, um eine Zusage abzugeben, die wenig konkret und ohne großen Aufwand umzusetzen ist. Während man annehmen kann und hoffen muss, dass eine direkte Konfrontation mit einem konventionell ebenbürtigen, mit nuklearen Fähigkeiten ausgestatteten Gegner immer noch sehr unwahrscheinlich ist, sollte man auf keinen Fall vergessen, dass die Grundlage der Abschreckung immer noch in ebendieser Fähigkeit besteht und in der Bereitschaft, sie einzusetzen. 

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Was Kernwaffen angeht, so verfügt die NATO zwar über die Fähigkeit, ihr Einsatz ist jedoch höchst unwahrscheinlich. Strategisch ist eher von der Möglichkeit eines lokal begrenzten Konflikts mit einem genau definierten Ziel auszugehen. Was unsere verfügbaren konventionellen Kräfte angeht, kann man den Eindruck gewinnen, dass wir zwar den Willen haben diese einzusetzen, es uns aber an entscheidenden Fähigkeiten zur Sicherstellung der Überlebensfähigkeit unserer Kräfte im Gefecht fehlt. Auch wenn man im zitierten Teil der [Armed Forces] Declaration keinen Hinweis auf die tatsächliche Qualität der sanitätsdienstlichen Versorgung findet, haben unsere jüngsten Erfahrungen bei großen Einsätzen wie dem in Afghanistan gezeigt, dass die politische Führung zurecht erwartet, dass die sanitätsdienstliche Versorgung in der Ergebnisqualität der Versorgung im Heimatland vergleichbar sein sollte. Zusätzlich muss diese Versorgung den Zeitraum der Dislozierung ins Kampfgebiet, den Einsatz selbst sowie den Zeitraum danach abdecken. Hieraus leiten sich die Planungsrationale für Qualität und Umfang der sanitätsdienstlichen Versorgung ab. Zusammengenommen stellt sich uns damit eine Vielzahl von Herausforderungen: 1. Die hohe Zahl möglicher Verwundeter. 2. Die erwartete Qualität der sanitätsdienstlichen Versorgung. 3. Die zusätzliche Belastung durch gesteigerte Erwartungen an die Rolle der sanitätsdienstlichen Unterstützung jenseits des Gefechtsfelds. 4. Die Anforderung, Erkenntnisse und bewährte Verfahrensweisen auszutauschen.

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Das erwartete Maß an sanitätsdienstlicher Versorgung, deren Qualität sowie verschiedene andere Anforderungen sind in der der MC 0326/4 NATO Principles and Policies of Medical Support (Grundsätze und Richtlinien der NATO für die sanitätsdienstliche Unterstützung) eindeutig dargelegt. Dieses Dokument legt für die sanitätsdienstliche Unterstützung relativ hohe Grundstandards fest, wie z. B. die Gewährleistung der Kontinuität der sanitätsdienstlichen Versorgung, die Bereitstellung von notfallmedizinischer Versorgung (einschließlich lebens-, Gliedmaßen- oder funktionserhaltender Chirurgie) ungeachtet der Bedingungen, unter Einhaltung klinischer Richtlinien und unter Berücksichtigung und Austausch von bewährten Vorgehensweisen oder Erkenntnissen.

Während wir all diese an uns gestellten Anforderungen an die sanitätsdienstliche Versorgung selbstverständlich versuchen werden sicherzustellen, ist es selbst für Außenstehende leicht ersichtlich, dass es sich mit unseren gegenwärtigen Fähigkeiten bei Operationen hoher Intensität als problematisch erweisen wird, das erforderliche quantitative Maß an sanitätsdienstlicher Versorgung zu erbringen. Wir sind uns der quanititativen Defizite, mit denen wir konfrontiert sind, schmerzlich bewusst und hoffen, dass die Staaten alles daransetzen werden, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen zu unterstützender Truppe und Sanitätsdienst herzustellen. 

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In der 2018 vom Militärausschuss bestätigten, von den beiden strategischen Kommandos der NATO vorgenommenen Risikobewertung wird diese Frage weitergehend analysiert. Das Resultat ist, dass wir in folgenden Schlüsselbereichen unsere Anstrengungen verstärken müssen: Medical Support Management, Command, Control and Consultation, Medical Information and Intelligence, Force Health Protection, Military Health Care, Medical Evacuation, Medical Logistics. Dies ist eine relativ umfassende Liste der wichtigsten sanitätsdienstlichen Fähigkeiten, und sie alle wurden als problematische Bereiche identifiziert. Einfach gesagt haben wir eine Situation, in der ein Konflikt zwischen ebenbürtigen oder nahezu ebenbürtigen Gegnern (auch mit Dimensionen hybrider Kriegführung) wahrscheinlich zu derartigen Verlustzahlen und einem hohen Ausmaß an Zerstörung führen würde (Cyber-Angriffe, Falschinformationen, biologische/chemische Kriegführung, Kernwaffen mit begrenzter Reichweite).

Dadurch würde jedes militärische oder zivile Gesundheitssystem zumindest zeitweise über die Grenzen hinaus überfordert. Während die NATO weiterhin über die größten und am besten ausgerüsteten Streitkräfte verfügt und man vernünftigerweise davon ausgehen kann, dass das Bündnis in jedem Konflikt wahrscheinlich die Oberhand gewinnen würde, haben wir als Sanitätsdienst der Streitkräfte die Aufgabe, eindeutig auf die Unverhältnismäßigkeit der sanitätsdienstlichen Fähigkeiten zu ihrem Versorgungsauftrag hinzuweisen, wenn wir die sanitätsdienstliche Versorgung eines solchen Konfliktes verantwortlich ausplanen wollen. Wie glaubhaft ist Abschreckung, wenn der Gegner schon im Vorfeld weiss, dass wir unsere Kräfte allenfalls zögerlich einsetzen werden, weil wir ihre sanitätsdienstliche Versorgung nicht in angemessenem Umfang sicherstellen können? Auch Sanitätsdienst ist in diesem Sinne elementarer Bestandteil glaubhafter Abschreckung!

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Die wesentlichen Grundlagen der Planung basieren auf den Konzepten, die der Sanitätsdienst in der einen oder anderen Art und Weise bereits in den Jahrzehnten des „Kalten Krieges“ angewendet hat. Wenig überraschend besteht eine wesentliche Aufgabe darin, dass wir bei der sanitätsdienstlichen Unterstützung ein bisher noch nie da gewesenes Niveau an Interoperabilität sicherstellen müssen. Flexibilität muss in Zukunft eines der wesentlichen Merkmale eines neuen, belastbareren Systems der sanitätsdienstlichen Unterstützung sein, damit sich dieses an neue Bedrohungen anpassen und darauf reagieren kann. Außerdem wird diese Interoperabilität den (staatlichen oder privaten) zivilen Gesundheitssektor einbeziehen müssen, schon alleine, weil beide Systeme alleine überfordert sein werden und das Gefechtsfeld kaum zwischen zivil und militärisch unterscheiden wird. Im Centre of Excellence für Wehrmedizin der NATO (NATO MILMED COE) arbeiten wir an eben diesen Themen. So veranstalten wir beispielsweise ein regelmäßiges Forum für den zivil-militärischen Austausch von Erkenntnissen und Erfahrungen.

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Durch Standardisierung, Konzeptentwicklung und Erprobung bieten wir zahlreiche Facetten der militärischen Interoperabilität. Außerdem testen wir hierbei entstehende Ideen auch in der Realität. Als Organisatoren von Vigorous Warrior sind wir für die größte regelmäßig durchgeführte sanitätsdienstliche Übung in der NATO verantwortlich. Während des letzten Durchgangs operierten wir in einem Szenario gemäß Artikel 3/5 und haben unsere zivilen Kollegen aus dem Bereich Katastrophenhilfe und aus dem zivilen Gesundheitssektor in erheblichem Maße mit einbezogen. Überdies streben wir eine weitaus umfassendere Fähigkeit zum Gesundheitsschutz der Truppe im Bündnis an und entwickeln Werkzeuge zur schnelleren, symptombasierten Disease Surveillance; diese kombiniert eine algorithmus- und expertenbasierte Analyse der eingehenden Daten zur Vorhersage von bzw. Frühwarnung vor Epidemien oder anderen systemischen Erkrankungen.

Natürlich sind wir uns der Grenzen der Möglichkeiten unserer kleinen Einrichtung bewusst, die aus weniger als 50 Personen besteht. Es kann nicht unser Ziel sein, all die Probleme der sanitätsdienstlichen Versorgung zu lösen. Wir können lediglich als Katalysatoren fungieren. Eine Hauptaufgabe des NATO MILMED COE besteht deshalb darin, die Nationen und deren Verantwortliche für sanitätsdienstliche Versorgung in ihrem täglichen Bemühen zu unterstützen, die wichtigsten Bereiche für Verbesserungen auszuwählen, evidenzbasierte und fachliche Beratung für Konzepte und die Zukunftsausrichtung insgesamt zu leisten und eine echte multinationale sowie zivil-militärische Interoperabilität auf höchster Ebene zu fördern sowie für die Erprobung und Validierung der Ergebnisse zur Verfügung zu stehen. 

Was das Bündnis und seine Nationen letztendlich tatsächlich zur qualitativen und quantitativen Weiterentwicklung unternehmen wird, bleibt abzuwarten. Das Centre of Excellence für Wehrmedizin der NATO wird jedoch weiterhin aktiv an diesen Fragestellungen arbeiten, um als Katalysator bei der sanitätsdienstlichen Transformation der NATO zu fungieren. 

Alle Abbildungen: MilMedCOE

Anschrift des Verfassers:
Generalarzt Dr. Dirk-Friedrich Klagges
Director NATO Centre of Excellence for Military Medicine
Budapest P.O.B.: 66
H-1555 HUNGARY
E-Mail: director@coemed.org 

Datum: 07.05.2020

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 1/2020

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