26.10.2020 •

Sanitätsdienstliche Herausforderungen in der NATO

Aus dem Multinational Medical Coordination Centre / European Medical Command (Director: Generalarzt Dr St. Kowitz) beim Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr (Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, Generaloberstabsarzt Dr. U. Baumgärtner)

St. Kowitz

Die Zeichnung des Washington Treaty, auch Nordatlantikvertrag genannt, am 4. April 1949 war die Geburtsstunde der North Atlantic Treaty Organization (NATO). Derzeit gehören 30 europäische und nordamerikanische Mitgliedsstaaten zur NATO. Die Hauptaufgabe der NATO als Defensivbündnis ist es, die Freiheit und Sicherheit seiner Mitgliedsnationen durch politische und militärische Mittel zu bewahren. Dabei verfolgt die NATO drei Kernaufgaben: Kooperative Sicherheit, Krisenmanagement und Kollektive Verteidigung.

Als Folge der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland im Februar 2014 sowie der Einflussnahme und der destabilisierenden Maßnahmen in der Ostukraine, wurden während des NATO-Gipfels in Wales 2014 die Verpflichtungen aus dem Washington Treaty bekräftigt. Dazu gehört als größte Verantwortung der Allianz ihre Territorien und Bevölkerung gegen Angriffe zu schützen. Ergebnisse der NATO Gipfel in Wales 2014 und des Gipfels in Warschau 2016 sind u. a. folgende Maßnahmen:  

  • Im Rahmen der Sicherungsmaßnahmen eine Erhöhung der kontinuierlichen Luft-, Land- und See-Präsenz (Air- / Sea-Policing und Enhanced Forward Presence);
  • Verdreifachung der Stärke der NATO Response Force und Erhöhung der Reaktionsfähigkeit durch eine Very High Readiness Joint Task Force (VJTF);
  • NATO-Kommandostruktur Anpassung mit größerem Fokus auf die maritime Sicherheit, logistische Fähigkeiten für die militärische Verlegefähigkeit und Cyber Defence;
  • NATO Übungen sollen verstärkt den Fokus auf Landes- und Bündnisverteidigung und Krisenmanagement legen. 


Die NATO-Kommandostruktur (NCS) besteht auf strategischer Ebene aus dem Allied Command Operations (ACO) und Allied Command Transformation (ACT). Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) ist das strategische Hauptquartier von ACO. SHAPE ist zuständig für die strategische Planung und Führung von allen militärischen NATO-Einsätzen/Übungen, die vom Nordatlantikrat (NAC) angewiesen und mandatiert wurden – sowie die strategischen Verteidigungsvorbereitungen der NATO. Der Dienstposten Stabsabteilungsleiter JMED (Assistant Chief of Staff – ACOS JMED) und Medizinischer Berater (Medical Advisor – MEDAD) SHAPE rotiert seit 2013 zwischen dem ungarischen und deutschen Sanitätsdienst und wird mit einem Generalarzt besetzt. Zwischen 1979 und 2019 hatten von den 14 Dienstposteninhabern Medical Advisor SHAPE sechs Mal Vertreter des Deutschen Sanitätsdienstes den Posten inne. Von 2016 - 2019 war der Autor MEDAD SHAPE. Der Artikel soll einige Aspekte zu den sanitätsdienstlichen Herausforderungen in der NATO reflektieren.

Casualty-Estimates – Prognose von Ausfallraten für Landes- und Bündnisverteidigung

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Abbildung 1
Im Jahre 2017 wurde die ACO DIRECTIVE 85 - 8 Medical Support aus dem Jahre 1993 außer Kraft gesetzt. Diese Direktive enthielt ein Kapitel mit Ausfallraten, deren überholte Zahlen immer wieder für Artikel 5 (kollektive Landesverteidigung) Übungen genutzt wurden. Somit war es zwingend notwendig, dass ein Nachfolgedokument für die quantitativen Berechnungen der sanitätsdienstlichen Verteidigungsplanungen der NATO erstellt wurde.

Folgende vier Säulen sind die Basis für die sanitätsdienstlichen Planungen: Sanitätsdienstliche Doktrin, Truppenstärke, Gesundheitsgefahren und -risiken sowie Prognosen von Ausfallraten. Letztere Daten sind wichtig für die Festlegung der notwendigen Kapazitäten, wie die Zahl der OP-, Intensivteams, der Betten sowie der Verwundetentransportmittel.

Die Gesamtzahl der sogenannten „Verwundeten“ (Total Battle Casualties -siehe Abbildung 1) wird in erster Linie durch die Vorgaben der operationellen Planer J2/J3/J5 bestimmt. Sie leiten u. a. aus der Stärke und Leistungsfähigkeit der eigenen Kräfte sowie der feindlichen Kräfte und sonstiger Einflussfaktoren die Rahmenbedingungen und das Risiko der geplanten Operation ab. Mit diesen Faktoren und Informationen können Software-Systeme im Sinne eines Benchmark-Verfahrens Ausfallraten abschätzen, wobei Erfahrungen aus vergleichbaren Szenarien oder Ereignissen der Vergangenheit genutzt werden.

Die sanitätsdienstlichen Planer sind in erster Linie für die sogenannten DNBI-Zahlen zuständig: Diseases – Krankheiten und Non-Battle Injuries, also Verletzungen durch Unfälle, Training oder Sport. Auch bei diesen Ausfallzahlen arbeitet man mit Benchmark-Verfahren, wobei Zahlen vergleichbarer Einsätze genutzt werden. Zusätzlich werden auch mögliche Immunisierungen der Soldatinnen u. Soldaten und Maßnahmen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes bei der Berechnung berücksichtigt. Die Zahlen früherer Einsätze basieren in Teilen auf den sanitätsdienstlichen Meldungen der Sanitätseinrichtungen in den Einsätzen.

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Abbildung 2
Reflektiert man die Erfahrungen der Militärmedizin, so stellt man fest, dass hohe DNBI-Ausfälle – bedingt durch unzureichende Präventionsmaßnahmen – teilweise sehr negative Auswirkungen auf den Ausgang einer Vielzahl von Militäroperationen hatten.

Es sind bei den Ausfallraten zwei Trends zu beobachten: Zum einen hat die Effektivität und Letalität der Waffen zugenommen und zum anderen ist in den letzten Jahrzehnten das Verhältnis „Killed in Action“ zu „Wounded in Action“ von 1 : 4 auf 1 : 9 gesunken (siehe Abbildung 2). Bei der Planung von Artikel 5 Einsätzen im Rahmen der Bündnisverteidigung sind jedoch weiterhin höhere Ausfallraten wie in früheren Konflikten anzunehmen. Grund hierfür ist die höhere Letalität der in solchen Szenarien genutzten Waffensysteme sowie die operationellen Rahmenbedingungen.

Bei der Analyse von Ausfallraten sind folgende Prinzipien zu beobachten: 

  • 1-Tages Ausfallraten mit geringer Anzahl an Verwundeten sind häufiger als 1-Tages Ausfallraten mit hoher Zahl an Verwundeten;
  • Ausfallraten für kleinere Verbände, z. B. Bataillonsebene sind höher als für Großverbände und sinken mit der Truppenstärke.


2003 bis 2006 wurde durch ACT in Zusammenarbeit mit den US-Streitkräften und einer US-Firma eine Ausfallraten-Software (System to Automate the Benchmark Rate Structure -SABERS) entwickelt und an SHAPE übergeben. Mit Fokussierung der NATO auf die Stabilisierungseinsätze (sog. Non-Artikel 5 Einsätze) wurde das System nicht mehr genutzt.

Die JMED Division SHAPE reaktivierte das mittlerweile durch die Erfahrungen aus den Einsätzen im Irak und Afghanistan weiterentwickelte System. Zusätzlich werden Daten aus dem 2. Weltkrieg sowie dem Vietnam- und Koreakrieg genutzt. Die Auswirkungen heutiger neuer Waffensysteme werden ebenfalls in den Berechnungen berücksichtigt.

Basierend auf diesem SABERS-System wurden nun neue Raten für Artikel 5 und Nicht Artikel 5 Einsätze für generische NATO-Verteidigungsplanungen (NATO Defence Planning Process) entwickelt. Dabei wurden Daten für die verschiedenen Verbandsebenen (Brigade bis Korps) abgeleitet, die eine Schwankungsbreite von Minimum bis Maximum abbilden. Die Ergebnisse sind in den Richtlinien für Ausfallraten eingeflossen, die mit ACT abgestimmt wurden und durch den Chef des Stabes SHAPE erlassen wurden. Die Zahlen sind nur für generische Verteidigungsplanungen zu nutzen. Für jede Übung oder Einsätze sind die Daten, unterstützt durch die Informationen und Daten von J2/3/5, jeweils neu abzuleiten. Diese Richtlinien werden im Rahmen der Wargaming Übungen des MMCC/EMC weiter evaluiert. 

Anpassung der sanitätsdienstlichen Fähigkeiten und Kapazitäten 

Während der letzten zwei Jahrzehnte haben die Sanitätsdienste der NATO- und EU-Stabilisierungsoperationen erfolgreich sanitätsdienstlich versorgt. Nach Erreichen einer sanitätsdienstlichen Einrichtung beträgt die Überlebensraten der Verwundete bis zu 95 %. Die eher statischen Stabilisierungseinsätze sind geprägt von einer ständigen Luftüberlegenheit. Die Verwundeten können direkt vom Punkt der Verwundung mit MEDEVAC-Hubschraubern in entsprechende Sanitätseirichtungen der Ebene 2 bis 3 geflogen (sog. Forward Air Medevac) werden.

Die Sanitätsdienste haben intensiv medizinische Daten zur Patientenversorgung in diesen Einsätzen ausgewertet. Die Analysen zur sogenannten “Golden Hour” belegen eindeutig, dass die erhöhten Überlebensraten u. a. auf frühzeitige Behandlungsfähigkeiten und zügigen Verwundetentransport beruhen. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse finden in den Planungen und sanitätsdienstlichen Dokumenten der NATO Berücksichtigung.

Als Folge der Fokussierung der Streitkräfte auf Stabilisierungsoperationen und der Finanzkrise 2009 wurden die personellen Umfänge und Kapazitäten der Sanitätsdienste der NATO und EU erheblich reduziert. Im Lichte der seit 2014 veränderten sicherheitspolitischen Lage und Bedingungen in Europa und der Welt, müssen sich die Sanitätsdienste nunmehr verstärkt gleichzeitig auf die Landes- und Bündnisverteidigung und die aktuellen Stabilisierungsoperationen vorbereiten.

Diese Szenare mit Großverbänden sind u. a. geprägt von:

  • intensiven Gefechtshandlungen mit erhöhtem Verwundetenaufkommen, 
  • hoher taktischer und operativer Mobilität, 
  • reduzierter Nutzung von AIRMEDEVAC aufgrund fehlender Luftüberlegenheit.


Basierend auf den Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte und entsprechend der anerkannten Doktrin ist die sanitätsdienstliche Unterstützung für die Landes- und Bündnisverteidigung so aus zu planen, dass alle Anstrengungen unternommen werden, um sicherzustellen, dass die medizinische Versorgung auf international anerkannter bester medizinischer Praxis beruht (MC 326/4[1]). Somit müssen die Sanitätsdienste von EU und NATO über angepasste Fähigkeiten und höhere Kapazitäten verfügen, wie: 

  • hochbewegliche sanitätsdienstliche Fähigkeiten der Ebene 1 und 2 im präklinischen Bereich für die Brigaden,
  • Feldlazarette (Medical Treatment Facility Ebene 3) mit höherer Intensiv- und Pflegekapazität,
  • ausreichende taktische und strategische Verwundetentransportkapazitäten. 


Ein durchhaltefähiger, verlässlicher und hoch einsatzbereiter Sanitätsdienst ist ein wesentliches Element von Streitkräften für eine glaubhafte Abschreckung. Deshalb müssen die Sanitätsdienste der NATO und EU mehr Ressourcen erhalten, um besser für die zukünftigen Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung vorbereitet zu sein.

Ähnliche Forderungen wurden auch in einer Risikoanalyse definiert, die 2018 unter Federführung von JMED Division SHAPE und in Zusammenarbeit mit den Medical Advisors von IMS/ACT sowie dem Sekretär des Chairman COMEDS[2] entwickelt wurde. Das Ergebnis und die Folgerungen dieser Risikoanalyse wurden durch die höchsten NATO-Gremien, wie Militärausschuss (MC) und NAC, bestätigt. 

Erweiterte Resilienz und Zivil-Militärische Zusammenarbeit

Auf dem NATO Gipfeltreffen 2016 in Warschau einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Bündnisstaaten auf sieben grundlegende Anforderungen an die nationale Widerstandsfähigkeit/Resilienz der NATO Mitgliedsstaaten. Die einzige unmittelbar medizinisch relevante Anforderung ist in diesem Programm die Fähigkeit, das Management von einem Massenanfall an Verletzten, Verwundeten und Erkrankten. Diese Fähigkeitsforderung deckt nicht den künftigen Bedarf zur Steigerung der Resilienz im Gesundheitsschutz der Nationen ab. Die aktuelle COVID-19-Pandemie und andere Krisen, die sich auf die Gesundheitsversorgung konzentrieren, haben den erhöhten Bedarf an einer angepassten und umfassenderen Resilienz-Forderung für den Gesundheitsschutz aufgezeigt. Der Nexus zwischen Gesundheit und Sicherheit in einer zunehmend vernetzten und voneinander abhängigen Welt erfordert eine erweiterte medizinische und sanitätsdienstliche Vorsorge im zivilen und militärischen Bereich. 

Dabei zeigen die Erfahrungen mit der COVID-19 Pandemie, dass in der funktionalen Domäne Sanitätsdienst eine große Abhängigkeit zwischen den zivilen und militärischen Stakeholdern in NATO und EU besteht. Eine operationelle Fähigkeitslücke zeigt sich für die Weiterentwicklung der zivil-militärischen Koordination und der sanitätsdienstlichen Kooperation zwischen NATO und EU. Das neu aufgestellte MMCC/EMC ist prädestiniert, diese Fähigkeitslücke zu schließen, da die Wurzeln des MMCC/EMC aus jeweils einer NATO und EU Initiative stammen.

Zusammenfassung:

Die Stärke der NATO ist, dass sie als Organisation auf über 70 Jahre Erfahrungen zählen kann. Gerade in den letzten Jahren hat die NATO gezeigt, dass die sie kurzfristig Schwerpunkte verlagern kann und auf aktuelle Herausforderungen adäquat reagieren kann. Die komplexen sicherheitspolitischen Herausforderungen werden künftig noch mehr Flexibilität von der NATO bzw. ihren Nationen fordern. Um immer rechtzeitig, durchhaltefähig und sachgerecht sanitätsdienstliche Expertise in die Stabsprozesse einzubringen, müssen auf allen Ebenen die sanitätsdienstlichen Stabselemente der NATO Hauptquartiere eng vernetzt zusammenarbeiten. Die wichtigsten Akteure in der NATO sind die derzeit 30 unabhängigen und souveränen Mitgliedsnationen und deren Sanitätsdienste. Besonders wichtig ist die Bereitschaft der nationalen Sanitätsdienste zum sogenannten Lastenausgleich - „Burden Sharing“. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr hat in den letzten Jahrzehnten stets dabei in diesem Sinne die notwendige Unterstützung nachhaltig und durchhaltefähig erbracht. 

Verfasser:
Generalarzt Dr. Stefan Kowitz
Email: MMCCDirector@bundeswehr.org 


[1]  MC 326/4 NATO Principles and Policies of Medical Support
[2]  COMEDS: Committee of Chiefs of Military Medical Services in NATO


Datum: 26.10.2020

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