GEWINNUNG UND BINDUNG VON MEDIZINISCHEM FACHPERSONAL FÜR DIE SANITÄTSDIENSTE DES NATO-BÜNDNISSES UND IHRE PARTNER
Recruitment and Retention of Medical professionals for the medical services of NATO nations and partners
Aus dem Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr¹ (Präsident: Georg Stuke) und dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr² (Kommandeur: Oberst Dr. H.-H. Mack)
Norbert Hanhart¹, Gregor Richter²
WMM, Jahrgang 58 (Ausgabe 4/2014; S. 120-122)
Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund des Defizits an sanitätsdienstlichen Einsatzelementen bat das Committee of Chiefs of Medical Services in NATO (COMEDS) das Human Factors and Medicine (HFM) Panel der NATO Science and Technology Organisation (STO) um eine Untersuchung zu Wegen der Fachpersonalgewinnung und -bindung, um daraus ggf. Handlungsempfehlungen für die Nationen abzuleiten.
Die Ergebnisse der durch eine Research Task Group durchgeführten Studie basieren auf einer standardisierten Befragung von Personalgewinnungs- und Personalführungsverantwortlichen aus 18 freiwillig teilnehmenden NATO-Partnern und zwei PfP-Staaten. Im Fokus der Untersuchung lag das Fehl an Sanitätsoffizieren, da nur 40 % der teilnehmenden Sanitätsdienste angaben, keine Probleme bei der Gewinnung und Bindung von Ärztinnen und Ärzten zu haben. Der Ergebnisbericht empfiehlt ein heterogenes Maßnahmenpaket, dessen Einzelelemente je nach Eignung im nationalen Umfeld angewendet werden können. Im Wesentlichen wurde festgestellt, dass vor allem dann merkliche Effekte auf den ärztlichen Personalkörper erzielt werden konnten, wenn ein stimmiges, umfassendes und vor allem adäquat alimentiertes personalpolitisches Konzept umgesetzt wird.
Schlagworte: Sanitätspersonal, finanzielle Anreize, Vereinbarkeit von Familie und Dienst, Personalentwicklung, Personalgewinnung und -bindung, Aus- und Weiterbildung
Summary
On request of the Committee of Chiefs of Medical Services in NATO (COMEDS) the Human Factors and Medicine (HFM) Panel of the NATO Science and Technology Organisation (STO) examined ways of recruitment and retainment of medical professionals and derived best practice recommendations for nations in order to mitigate the shortfalls of operational medical capabilities. The results of a study performed by a Research Task Group were based upon a standardized enquiry of recruitment and retainment specialists of 18 voluntarily participating nations and 2 PfP nations.
The examination was focused on the deficiency of medical officers, as only 40 % of the participating medical services indicated to have no problems with recruitment and retention of physicians. The technical report comprises a heterogeneous package of measures in personnel, whose elements can be adapted depending on the applicability within the referring national environment. Substantially it was discovered that measureable effects on medical personnel could be achieved, if a coherent, comprehensive and adequately funded human resources policy concept is applied.
Keywords: Medical personal, financial incentive, compatibility of family and career, recruitment, retention, education and further training
Einleitung
Sanitätsdienstliche Fähigkeiten sind unbestritten Schlüsselressourcen für den Einsatz von Streitkräften im multinationalen Umfeld. Bereits seit einigen Jahren konstatiert die NATO im Rahmen ihrer Verteidigungsplanung, dass wesentliche sanitätsdienstliche Einsatzelemente wie verlegbare Sanitätseinrichtungen oder Luftrettungsmittel fehlen, um die eigenen Zielvorgaben zu erreichen. Bei vielen NATO Nationen beruht dieser Mangel vorrangig auf dem Fehl an qualifiziertem medizinischen Fachpersonal, welches zur Sicherstellung der sanitätsdienstlichen Versorgung multinationaler Kontingente in die jeweiligen Einsatzgebiete verlegt werden kann. Deshalb ersuchte im Jahre 2010 COMEDS das HFM Panel der STO1 mögliche Maßnahmen der Fachpersonalgewinnung und –bindung zu untersuchen, um daraus Handlungsempfehlungen für die Sanitätsdienste der NATO-Partner abzuleiten. Die durch das HFM-Panels eingerichtete Research Task Group (RTG) HFM-213 nahm noch im Jahre 2010 unter deutschem Vorsitz ihre Arbeit zum Thema „Factors Affecting Attraction, Recruitment, and Retention of NATO Military Medical Professionals“ auf. Außer Deutschland, das neben einem Sanitätsoffizier, der die RTG leitete einen Wissenschaftler des Sozialwissenschaftlichen Instituts2 der Bundeswehr für diese Aufgabe abstellte, nahmen Belgien, Dänemark, Frankreich, Kanada, die Niederlande, die Tschechische Republik und die USA mit eigenen Fachleuten teil.
Methodik
Die Studie basiert auf zwei Fragebögen; ein kurzer Fragebogen wurde im Sinne eines quantitativen Ansatzes an alle bei COMEDS vertretenen NATO-Nationen versandt. Der zweite lange Fragebogen enthielt offene Fragen im Sinne eines qualitativen Ansatzes.
Der erste Fragebogen wurde im April 2011 an die Nationen versandt, um Hintergrundinformationen über die Personalsituationen in den jeweiligen Sanitätsdiensten zu gewinnen, die verfügbaren sanitätsdienstlichen Fähigkeiten und wesentlichen Engpässe zu erfassen, bereits gewonnene nationale Erkenntnisse zu sammeln und qualifizierte Ansprechpartner für den zweiten Fragebogen zu identifizieren.
Der ursprüngliche Ansatz, standardisierte Interviews mit Personalgewinnungs- und Personalplanungsexperten der teilnehmenden Nationen durchzuführen, musste aufgegeben werden, da die entsprechende Feldforschung nicht alimentiert werden konnte. Stattdessen entschied die Studiengruppe im Dezember 2011, einen zweiten Fragebogen an die Nationen zu versenden, die den ersten Fragebogen beantwortet hatten.
Ergebnisse
Von den 27 angeschriebenen NATO Sanitätsdiensten hatten 18 den ersten Fragebogen beantwortet; zusätzlich beteiligten sich zwei Partnership-for-Peace (PfP) Staaten3. Von den 20 Teilnehmern an der ersten Befragung beteiligten sich 16 am zweiten Durchgang, sodass die Ergebnisse als hinreichend repräsentativ angenommen werden können.
Die Daten der ersten Umfrage zeigten deutlich, dass die NATO Nationen ihre Sanitätsdienste sehr unterschiedlich organisieren, was sich sowohl in der Beziehung zum jeweiligen zivilen Gesundheitssystem als auch in der Herangehensweise an Personalgewinnung und -bindung niederschlägt. Defizite bei medizinischem Fachpersonal sind nicht bei allen Nationen in gleichem Maße ausgeprägt. Als guter Indikator wurde die Verfügbarkeit von Fachpersonal für die sanitätsdienstliche Einsatzunterstützung bewertet, da sich alle teilnehmenden Nationen während der Studiendurchführung an UN-, NATO- oder EU-Missionen beteiligten. Von den 20 Teilnehmern gaben sieben an, generell nicht über ausreichend Sanitätsoffiziere für die medizinische Einsatzunterstützung zu verfügen, vier beklagten entsprechende Probleme beim Pflege- und Rettungsdienstpersonal. Generell konnte festgestellt werden, dass die Gewinnung militärischen Assistenzpersonals und ziviler Fachkräfte für die Sanitätsdienste besser gelingt als die von Sanitätsoffizieren. Aus diesem Grund fokussierte der zweite Teil der Studie auf diese Gruppe, wobei zumindest eine gewisse Übertragbarkeit der identifizierten Maßnahmen auf das medizinische Assistenzpersonal angenommen werden kann. Die Auswertung der Rückläufer des ersten Fragebogens zeigte deutlich, dass die Nationen, die bereits in der Vergangenheit Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität ihrer Sanitätsdienste und zur Verbesserung der Fachpersonalgewinnung und -bindung implementiert haben, heute mit geringeren Problemen bei der Deckung ihres Personalbedarfs konfrontiert sind.
Die Auswertung des zweiten Fragebogendurchgangs ergab folgende Attraktivitätsmaßnahmen, die gesondert betrachtet wurden:
Finanzielle Anreize
Finanzielle Anreize eignen sich gut zur Personalgewinnung, reichen allein aber nicht aus, um Fachpersonal an die Sanitätsdienste der Streitkräfte zu binden. Zulagen zur Basisbesoldung wurden als positiv bewertet, während die Entkopplung von Salär und Dienstgrad oder die beschleunigte Beförderung als bedingt anwendbar und mit kurzer Wirkungsreichweite eingestuft wurden. Wesentlich erscheint, dass eine Balance zwischen der Besoldung von Sanitätsoffizieren und deren zivilen Kollegen erzielt wird.
Nebentätigkeiten
Die Genehmigung von Nebentätigkeiten wurde als sinnvolle, kostenneutrale Maßnahme zur Attraktivitätssteigerung bewertet, wobei zwingend sicherzustellen ist, dass dienstliche Verpflichtungen nicht beeinträchtigt werden. Als Beispiele wurden private ärztliche Tätigkeit und Lehrtätigkeiten angeführt, die im Vorfeld durch die zuständigen Vorgesetzten zu genehmigen sind.
Vereinbarkeit von Familie und Dienst
Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Dienst sind in nahezu allen Nationen eingeführt und nicht militärspezifisch. Die Effektivität hängt stark von den Rahmenbedingungen des jeweiligen Aufgabenbereichs und der Einstellung der verantwortlichen Vorgesetzten ab. Dennoch kann in der Konkurrenz mit dem zivilen Gesundheitswesen auf deren Anwendung nicht in Gänze verzichtet werden. Auch hier gilt es, Ausgewogenheit zwischen dienstlichen Anforderungen und dem Streben nach einer individuell gewünschten Work-Life-Balance zu erzielen.
Karriereplanung und Personalentwicklung
Attraktive Karriere- und Fördermöglichkeiten wurden als effektive, jedoch meist kostenintensive Maßnahmen bewertet, die mitunter zu Spannungen zwischen Truppen- und Sanitätsoffizieren führen können. Es wurden mehrere Ansätze identifiziert, wobei die RTG das Modell, bei dem der Dienstgrad eines Sanitätsoffiziers mit dessen Erfahrung und Ausbildung kommuniziert, favorisiert. Diese Maßnahme hat den Vorteil, dass individuelle Fort- und Weiterbildungsbemühungen zugunsten der fachlichen Versorgungsqualität belohnt werden und der Arzt bzw. die Ärztin - im Gegensatz zu Vorstellungen, Ärzten keine militärischen Dienstgrade zu vergeben und außerhalb der militärische Systematik zu fördern - integraler Bestandteil des militärischen Systems der Streitkräfte bleiben und das entsprechende Selbstverständnis bewahren.
Aus-, Fort- und Weiterbildung
Während das Angebot der fachlichen (Basis-)Ausbildung als Maßnahme der Personalgewinnung zu werten ist, dienen attraktive Fort- und Weiterbildungsangebote in erster Linie der Personalbindung. Hier zeigen sich große Unterscheide zwischen den Nationen.
Die Ergebnisse dieser Studie erlauben keine Bewertung, ob es effizienter ist, junge Anwärter mit einem finanzierten Medizinstudium zu gewinnen oder bereits ausgebildete Mediziner mit finanziellen Anreizen anzuziehen. In jedem Fall bewerten die Nationen, die medizinische Studiengänge für Sanitätsoffiziersanwärter anbieten, dieses Angebot als besonders starken Attraktivitätsfaktor, während andere auf die hohen Kosten verweisen.
Personalwerbliche Maßnahmen
Personalwerbung in Fachzeitschriften, Internet, Fernsehen, anderen Printmedien, Werbeveranstaltungen an Universitäten, Krankenpflege- und Rettungsdienstschulen, Praktika, Famulaturen, Kongressteilnahmen, Tage der offen Tür, aber auch vor allem die „Mund-zu-Mund-Propaganda“ eignen sich sehr gut für die Personalgewinnung. Dabei sollte eine ausschließlich positive Darstellung vermieden werden. Als besonders effektiv erscheinen Informationsveranstaltungen bei denen Personalwerber und auch aktives Fachpersonal der jeweiligen Qualifikation mit der entsprechenden Zielgruppe sprechen.
Sonstige Maßnahmen
Unter sonstige Maßnahmen wurden unter anderem die verschiedenen Kooperationsmodelle mit zivilen Krankenhäusern subsummiert, insbesondere im Bereich der Ausbildung. Vorwiegend kleinere Sanitätsdienste nutzen Kooperationen mit zivilen Krankenhäusern, um vertraglich die Personalabstellung für Einsätze zu gewährleisten. Da die Personalverfügbarkeit -vor allem bei mit sehr kurzem Vorlauf auftretenden Einsatzverpflichtungen- so in der Regel nur eingeschränkt sichergestellt ist, konnte die RTG hierzu keine generelle Empfehlung aussprechen, sondern empfahl allenfalls die supplementäre Nutzung dieses Ansatzes. Ein generelles Outsourcing medizinischer Fähigkeiten lehnte sie aufgrund der hohen strategischen Bedeutung eigener sanitätsdienstlicher Fähigkeiten ab.
Fazit und Empfehlung
Da die zivilen Gesundheitssysteme nahezu aller an der Untersuchung teilnehmenden Nationen mit einem Mangel an qualifiziertem, vor allem ärztlichem Fachpersonal konfrontiert sind, stehen ihre Sanitätsdienste im Wettbewerb mit zivilen Arbeitgebern um diese Spezialisten. Während einige Nationen diesen marktgerechte Instrumente zur Personalgewinnung und -bindung zur Verfügung stellen, fehlen anderen die Mittel, um mit den Angeboten ziviler Krankenhausträger mitzuhalten. Aufgrund der personellen Mangelsituation am zivilen Gesundheitsmarkt hat qualifiziertes Fachpersonal heute deutlich bessere Verdienstmöglichkeiten als noch vor zehn Jahren. Zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit schaffen auch die militärischen Sanitätsdienste finanzielle Anreize, um die Einkommenslücke zum zivilen System zu schließen. Ebenso werden dem Personal Möglichkeiten zum Nebenverdienst eröffnet, wenn dadurch dienstliche Belange nicht negativ beeinflusst werden. Qualifizierte Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten sind wesentliche Attraktivitätsfaktoren der militärischen Sanitätsdienste. Mit entsprechenden Angeboten kann Personal nicht nur gewonnen, sondern auch gehalten werden. Das System des „lebenslangen Lernens“ hat sich zu einem militärischen Markenzeichen entwickelt. Die Werbestrategien der teilnehmenden Nationen unterscheiden sich erheblich. Je angesehener das Militär in der jeweiligen Gesellschaft und je höher die Akzeptanz von Auslandseinsätzen, desto weniger Werbemaßnahmen sind erforderlich, um geeignetes Fachpersonal für die Streitkräfte zu gewinnen.
Die meisten Nationen halten finanzielle Anreize zwar für sehr wirkungsvoll, bewerten sie jedoch nicht als ausreichend für eine bedarfsdeckende Personalgewinnung und -bindung. Hochwertige Ausbildungsgänge und eine attraktive Work-Life-Balance – gerade unter dem Aspekt deutlich steigender Zahlen weiblicher Soldaten in den Streitkräften – sind wesentliche ergänzende Faktoren. Als entscheidend wird bewertet, eine Balance zwischen den beruflichen und privaten Belangen des Fachpersonals und der Anforderungen des militärischen Dienstes zu finden, ohne dabei Abstriche bei der Auftragserfüllung zu machen.
Die RTG HFM-213 hatte den Auftrag, einen „Werkzeugkasten“ an Maßnahmen zu erarbeiten, um medizinisches Fachpersonal gewinnen und binden zu können. Während ihrer letzten Arbeitssitzung entschied sie, die Studie zu beenden und der STO eine generelle Bewertung zu präsentieren. Dies hatte folgende Gründe.
- In vielen Fällen war eine wissenschaftlich korrekte Auswertung der in den beiden Fragebögen aufgeführten Maßnahmen nicht möglich. Entweder stellten die Nationen der RTG ihre eigenen Auswertungen nicht zur Verfügung oder die Maßnahmen waren erst vor so kurzer Zeit implementiert worden, dass noch keine valide Aussagen zu deren Wirksamkeit getroffen werden konnten.
- Nicht alle Maßnahmen passen in gleichem Ausmaß zu jeder NATO Nation, da sich die öffentliche Unterstützung der Streitkräfte ebenso wie andere Rahmenbedingung zum Teil erheblich unterscheiden. Dennoch stellt die Studie eine gute Basis für jeweilige nationale Programme zur Verbesserung der Personalgewinnung und -bindung dar.
Im Ergebnis wurde den NATO Partnern empfohlen, die Erkenntnisse der Arbeitsgruppe für ihre eigenen Sanitätsdienste zu übernehmen und an deren Bedarf anzupassen, da sich deutlich gezeigt hatte, dass Staaten, die bereits ein kohärentes Maßnahmenpaket implementiert haben, weniger Probleme bei der Gewinnung und Bindung von hoch qualifiziertem medizinischem Fachpersonal aufweisen.
Der vollständige Bericht steht auf der Internetseite der STO (www.cso.nato.int) zur Verfügung.
Literatur
„Factors Affecting Attraction, Recruitment, and Retention of NATO Military Medical Professionals”, STO-TR-HFM 213, Dezember 2012, www.cso.nato.int/pubs/rdp.asp?RDP=STO-TR-HFM-213
1 früher: Research and Technology Organization (RTO).
2 heute: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw).
3 Australien und Irland.
Datum: 01.07.2014
Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2014/4