CHIRURGISCHE BEHANDLUNG VON DYSGNATHIEN
M. Giese
Fehlstellungen der Zähne stellen häufig ein ästhetisches und funktionelles Problem dar. Eine Behandlung erfolgt durch den Kieferorthopäden mit herausnehmbaren oder auf den Zähnen befestigten Apparaturen. Sind jedoch nicht nur die Zähne im Kiefer verschoben, sondern der Oberkiefer zum Schädel oder beide Kiefer gegeneinander fehlpositioniert, muss diese Fehlstellung operativ korrigiert werden.
Einleitung
Schon kurz nach Einführung der Allgemeinnarkose in der Mitte des 19. Jahrhunderts werden die ersten Operationen zur Verlagerung der Kiefer beschrieben. Diese bleiben jedoch lange Pioniertaten – sehr blutig und komplikationsbehaftet. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts werden die wichtigen Arbeiten zur Etablierung der heute noch gängigen Operationsverfahren durch Hugo Obwegeser in Zürich und Karl Schuchardt in Hamburg publiziert und seit den 1970er Jahren sind die Eingriffe zunehmend Routine mit entsprechend gestalteten Spezialinstrumenten und kalkulierbaren Operationsrisiken besonders auch bei der Oberkiefer-Osteotomie. Seitdem trauten sich mutige Operateure, auch beide Kiefer in einer Operation zu verlagern. Die Entwicklung der Miniplatten-Osteosynthese ersetzte bis dahin verwendete Draht-Osteosynthesen und ermöglichte stabile und vorhersagbare Langzeitergebnisse.
Heute ist die bimaxilläre Umstellungsosteotomie, also die Verlagerung von Ober- und Unterkiefer in der gleichen Operation in unserer Abteilung die überwiegende Behandlungsform. Im Laufe des Jahres 2012 waren von den insgesamt 46 Umstellungsosteotomien der Kiefer 32 bimaxilläre Operationen.
Die Behandlung von Zahnfehlstellungen ist grundsätzlich kein Bestandteil der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung. Bei schweren Kieferanomalien, die während der Dienstzeit ein Ausmaß erreicht haben, das eine kieferorthopädische oder kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung erfordert, ist eine Kostenübernahme jedoch unter bestimmten Unständen möglich.
Da bei der Rekrutierung seit einigen Jahren verstärkt auf das Vorliegen von behandlungsbedürftigen Zahn- und Kieferfehlstellungen geachtet wird, ist der Anteil der Soldaten an unseren Patienten, die eine Umstellungsosteotomie erfahren, rückläufig und liegt zur Zeit bei einem Drittel.
Kombinierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung
Wenn die Kostenübernahme geklärt ist, beginnt die Behandlung in den allermeisten Fällen mit der Eingliederung der Multiband-Apparaturen („feste Zahnspange“) durch den Kieferorthopäden. Mit dieser Apparatur werden zunächst die Zahnbögen ausgeformt, gekippte Zähne aufgerichtet oder gedrehte Zähne derotiert. Dieser Behandlungsabschnitt dauert häufig etwa ein Jahr, kann aber auch kürzer oder wesentlich länger sein. Dann erfolgt die Wiedervorstellung beim MKG-Chirurgen zur Planung des operativen Anteils der Behandlung. Der Patient bekommt einen Termin zur Erstellung der Planungsunterlagen. An diesem Tag werden Abformungen der Kiefer genommen, eine Bissnahme durchgeführt und mit einem Gesichtsbogen die Beziehung vom Oberkiefer zu den Gelenken registriert. Es werden Röntgenaufnahmen (Panoramaschichtaufnahme [PSA], Clementschitsch, NNH und Fernröntgenbild seitlich [FRS]) und intra- und extraorale Fotografien angefertigt. Der Patient wird in Hinblick auf die entscheidenden Parameter der Anomalie (Parallelität von Bipupillar- und Okklusionsebene, Mittellinienverschiebungen, Nasolabialwinkel, Lippenkontur, Frontzahnschau und Kinnprominenz) noch einmal genau untersucht und vermessen und das genaue operative Vorgehen festgelegt. Dieses wird mit dem Patienten besprochen, es wird ausführlich auf die Risiken eingegangen (insbesondere die Verletzung von Ästen des N. trigeminus) und die schriftliche Einwilligung wird eingeholt. Eine allgemeine Anamnese, die Blutentnahme und die Vorstellung beim Anästhesisten bereiten die Narkose vor. Blutkonserven werden nicht vorbereitet; in den vom Autor überblickten Jahren war kein Blutverlust zu verzeichnen, der auch nur annähernd die Gabe von Eigen- oder Fremdblut erfordert hätte.
In den ein bis vier Wochen bis zum Operationstermin wird nun die Modell-Operation im hauseigenen Labor durch den Operateur vorgenommen, bei der die Verlagerung der Kiefer am Modell vorweggenommen wird. Die OP-Splinte (quasi Übertragungsschlüssel von der Modell- auf die tatsächliche Operation) werden dann im zivilen Dental-Labor oder in speziellen Fällen auch selbst hergestellt.
Operation
Die Operation erfolgt in Vollnarkose, die Intubation nasal, in speziellen Fällen auch submandibulär durch den Mundboden. Nur die Spaltung des Unterkiefers in der Mitte zur Anwendung eines Distraktors zur Verbreiterung des Unterkiefers wird auch in Lokalanästhesie durchgeführt.
Wird auch der Oberkiefer operiert, streben wir einen Mitteldruck von unter 70 mm Hg an. Eine medikamentös induzierte Hypotension auf 60 mm Hg, wie sie teils in anderen Kliniken durchgeführt wird, war bei uns bisher nicht notwendig. Wir bevorzugen die TIVA (Total intravenöse Anästhesie), da hier seltener postoperative Übelkeit und Erbrechen auftreten.
Zur Verlagerung des Oberkiefers kommt fast ausschließlich die Osteotomie in der Le Fort I-Ebene zum Einsatz. Meist sind es Vor- und Hochverlagerungen sowie distale Anhebungen zur Schließung eines offenen Bisses. Hochverlagerungen werden bei prognathen Fällen gelegentlich mit einer Rückverlagerung kombiniert, was eine deutliche Harmonisierung des Profils bewirkt. Relativ häufig besteht die Indikation zu einer gleichzeitigen Verbreiterung des Oberkiefers, die im hinteren Bereich bis ca. sieben mm und im vorderen Bereich bis etwa vier mm in der gleichen Operation möglich ist. Eine zweite vorgeschaltete Operation zur Gaumennahterweiterung mit einer Dehnschraube kann so vermieden werden. Gelegentlich werden zusätzliche Kiefersegmente mobilisiert, um besondere Verformungen des Zahnbogens auszugleichen.
Höhere Oberkiefer-Osteotomien in der Le Fort II- und III-Ebene sind nur selten indiziert, eher schon einmal eine modifizierte Le Fort III-Osteotomie, bei der der mediale obere Anteil des Oberkiefers mit der Nase stabil bleibt, jedoch die Jochbeine mit nach vorn mobilisiert werden.
Verlagerungen des Unterkiefers sind im Bereich des Korpus und im Bereich des Ramus möglich. Verlagerungen im Korpus sind allgemein in den Hintergrund getreten und werden auch bei uns nur selten durchgeführt. Im Bereich des Ramus sind es drei grundsätzliche Varianten, die bei den unterschiedlichen Ausgangssituationen zur Anwendung kommen:
- Sagittale supraforaminale Osteotomien. Wir verwenden meistens die Variante nach Höltje und Scheuer (Abb. 1b).
- Sagittale Osteotomien, die teils kaudal des Foramen mandibulae liegen. Wir verwenden meistens die Variante nach Obwegeser/Dal Pont in der Modifikation nach Hunsuck/Epker (Abb. 1a).
- Vertikale (IVRO) und vertikosagittale Osteotomien (Abb. 1c, d).
Eine bimaxilläre Umstellung dauert bei uns je nach Anspruch zwischen drei und fünf Stunden. Sowohl im Ober- als auch im Unterkiefer können die Verlagerungen auch mit Distraktoren vorgenommen werden. Dies kann typischerweise bei (syndromalen) Missbildungen oder extremen Verlagerungsstrecken sinnvoll sein.
Die Osteosynthese in Ober- und Unterkiefer erfolgt mit Titan-Miniplatten 2.0, wie sie auch in der Unterkiefertraumatologie verwendet werden. Der Operationssplint wird für vier Wochen mit Draht am Oberkiefer befestigt, bei sagittalen Spaltungen des Oberkiefers für sieben Wochen. Eine starre intermaxilläre Fixierung (IMF) erfolgt nur bei der vertikalen und vertikosagittalen Osteotomie, da hier (im Gegensatz zu vielen Darstellungen in der Literatur) keine Osteosynthese vorgenommen wird. In den anderen Fällen mit Unterkieferbeteiligung werden Führungsgummis für ca. drei Wochen eingehängt.
Nach der Operation kommt der Patient in den Aufwachraum und danach gleich wieder auf die periphere Station und wird nach fünf bis sieben Tagen entlassen.
Bei Umstellungen, die auch den Unterkiefer betreffen, ist die strenge Einhaltung einer breiigen Ernährung für sechs Wochen wichtig, da die verwendeten Platten einer Belastung durch Kaukräfte nicht standhalten würden.
Nach Entfernung des Splintes sollte die kieferorthopädische Behandlung sofort wieder aufgenommen werden. Diese benötigt meistens noch sechs bis zwölf Monate zur Feineinstellung der Okklusion.
In diesem Zeitfenster streben wir auch die Entfernung des Osteosynthesematerials an. Dieser Eingriff, der ebenfalls in Vollnarkose erfolgt, kann auch mit weiteren Korrekturen an der Gesichtsphysiognomie kombiniert werden, wie der Verlagerung des Kinns, der Korrektur der Nase oder dem Anlegen der Ohren.
Fallbeispiel
Anhand eines von der Planung anspruchsvollen, aber nicht untypischen Fallbeispiels möchte ich den Ablauf einer solchen Behandlung einmal schildern.
Ein 21-jähriger Patient wurde dem Autor von einem Zahnarzt aus einer niedersächsischen Kleinstadt überwiesen. Der Patient war von der verzweifelten Mutter dort vorgestellt worden, da neben weiteren orthopädischen Problemen des sehr großen und extrem schlanken Patienten seit Jahren starke Beschwerden im linken Kiefergelenk bestünden. Diese hätten sich im Verlauf einer drei Jahre währenden Behandlung an einer universitären kieferorthopädischen Abteilung eingestellt.
Bei der Untersuchung des Patienten zeigte sich eine linkskonvexe Gesichtsskoliose mit deutlicher Abweichung des Unterkiefers nach rechts (Abb. 2a, 3a). Diese sei seit 6 Jahren bekannt, habe sich immer weiter verstärkt und sei auch Anlass für die bisherige Behandlung gewesen. Die Frage, ob dem naheliegenden Verdacht auf ein autonomes Wachstum im linken Kiefergelenk nachgegangen worden sei, wurde verneint.
Wir veranlassten zunächst eine knochenszintigraphische Untersuchung, die den Verdacht auf eine Hyperaktivität der subchondralen Wachstumszone im linken Gelenkköpfchen mit der Folge einer hemimandibulären Elongation bestätigte. Diese Störung, die typischerweise im Alter von 15 bis 19 Jahren auftritt, verursacht für sich genommen keine Schmerzen.
Wir entfernten zunächst über einen retroaurikulären Zugang die Gelenkfläche des linken Gelenkköpfchens mit der darunter liegenden Wachstumszone und fertigten 6 Monate später eine Kontroll-Szintigraphie an, die kein Wachstum mehr nachweisen konnte. In der Zwischenzeit wurde der Patient einer in der Erwachsenen-Kieferorthopädie sehr erfahrenen Kieferorthopädin vorgestellt, die nach Bestätigung der Normalisierung des Wachstums mit der kieferorthopädischen Behandlung mit einer Multiband-Apparatur in Ober- und Unterkiefer begann.
Nach Ausformung der Zahnbögen wurde der Patient ein Jahr später wieder vorstellig (Abb. 2b, 3b) und die Planungsunterlagen für eine Umstellungsosteotomie erstellt. Es folgte die Modelloperation in unserem Dental-Labor durch den Operateur, bei der die vorliegenden Modelle zunächst in der Zuordnung in einen Artikulator gebracht wurden, die der tatsächlichen Situation entspricht (Abb. 4a). Ein zweites Modellpaar wurde nun entsprechend der am Patienten ermittelten Planung verlagert einartikuliert (Abb. 4b, c), so dass für die beiden Operationsschritte (Verlagerung Oberkiefer und Unterkiefer) jeweils ein Operationssplint hergestellt werden konnte.
Bei der vorliegenden nach links abfallenden und im Unterkiefer stark verwundenen Okklusionsebene wurde entschieden, den Oberkiefer in Le Fort I-Ebene links hoch zu verlagern und asymmetrisch zu teilen, um ihn durch zusätzliche Anhebung des linksseitigen Fragmentes an die unteren Zähne anzupassen. Dadurch konnte die postoperative kieferorthopädische Feineinstellung erheblich beschleunigt werden. Eine Korrektur der Okklusionskurve im Unterkiefer hätte keine Vorteile gehabt, wäre aber operationstechnisch erheblich aufwändiger.
Bei der vorliegenden Kiefergelenkproblematik und der erheblichen Verschwenkung in der transversalen Ebene (Abb. 4b, c) bestand die Indikation für eine vertikale Osteotomie (Abb. 1c). Entsprechend wurde der Splint mit Lücken und einem Gaumenbogen gestaltet, um dem Patienten in den dreieinhalb Wochen der starren intermaxillären Fixierung die Ernährung zu erleichtern und gleichzeitig die Verschiebung des Oberkiefers für insgesamt sieben Wochen zu stabilisieren.
Bei der Operation wurde wie bei den meisten bimaxillären Umstellungen zunächst der Oberkiefer in Le Fort I-Ebene vom Schädel getrennt und mobilisiert. Der Gaumen wurde beidseits der Mittellinie unter Schonung der Schleimhaut durchtrennt sowie zwischen den Zähnen 22 und 23. Nach IMF über den ersten Splint und Führung des Unterkiefers in den Gelenken wurden die Knochenanteile entfernt, die der Verlagerung des Oberkiefers in die gewünschte Position im Wege standen. Dann wurde der Oberkiefer mit Miniplatten-Osteosynthese fixiert und IMF sowie der Splint entfernt.
Im Unterkiefer erfolgten die vertikale Osteotomie und dann die IMF über den zweiten Splint. Die Fragmente mit den Gelenken legten sich sofort locker in die neue Position, so dass nur ein wenig Kantenglättung erforderlich war. Auf der linken Seite musste das Fragment unten mehr als einen Zentimeter gekürzt werden, entsprechend der hier ganz elegant erfolgten Verkürzung des zu langen Gelenkfortsatzes durch Aneinandervorbeigleiten des Hinterrandes am Rest des Unterkiefers. Die Operationszeit betrug insgesamt dreieinhalb Stunden.
Die IMF wurde für dreieinhalb Wochen belassen. Der postoperative Verlauf war dahingehend auffällig, dass der Patient schon am zweiten Tag wesentlich agiler und weniger depressiv wirkte als sonst. Am fünften Tag wurde er aus der stationären Behandlung entlassen. Nach dreieinhalb Wochen wurde die starre IMF für drei Wochen durch Führungsgummis in der Eckzahnregion ersetzt, die für die endgültige neue Einstellung der Kiefergelenke sorgten. Der Splint wurde sieben Wochen nach Operation entfernt und die kieferorthopädische Behandlung fortgesetzt, welche sieben Monate nach der Operation abgeschlossen werden konnte.
Es konnte die Gesichtsskoliose korrigiert und eine neutrale Beziehung der Zähne eingestellt werden. Die beklagten Beschwerden sind durch die Operation verschwunden. Es bestehen keine Sensibilitätsdefizite im Versorgungsgebiet der Trigeminusäste. Das Osteosynthesematerial wird in Kürze entfernt.
Datum: 28.07.2013
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2013/2