Untersuchung potenzieller Therapeutika einer Nervenkampfstoffvergiftung mittels isolierter Organmodelle

Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr

Einleitung

Der wiederholte Einsatz des Nervenkampfstoffs (NKS) Sarin in Syrien 2013 und 2017 mit zahlreichen Todesopfern verdeutlicht die aktuelle Bedrohungslage durch NKS und die Notwendigkeit von effektiven Therapeutika für den medizinischen C-Schutz. NKS, ebenso wie einige Pestizide, gehören zu den phosphor-organischen Verbindungen (OP), die das Enzym Acetylcholinesterase (AChE) hemmen. Dies führt zur Akkumulation von Acetylcholin (ACh) im synaptischen Spalt und induziert eine cholinerge Krise mit lebensbedrohlichen Symptomen [2, 3]. Die aktuelle Standardtherapie besteht aus Obidoxim zur Reaktivierung des gehemmten Enzyms und dem Muskarinrezeptor-Antagonisten Atropin [1, 3]. Dieser Therapieansatz ist jedoch bei Vergiftungen mit einigen NKS (Cyclosarin, Soman, Tabun) nicht ausreichend. Deshalb steht die einsatzorientierte Erforschung der Wirksamkeit und Organtoxizität potenzieller neuer Therapeutika im Fokus unserer Studien.

Um die in vivo Situation möglichst real abzubilden, werden vielversprechende Substanzen nach ersten Zellkultur-Experimenten in komplexen isolierten Organmodellen untersucht (z. B. Precision Cut Lung Slices, isolierte Dünndarmpräparate, Langendorff-Herz-Modell). Als potenzielle Wirkstoffe werden u. a. Modulatoren der nikotinischen und muskarinergen ACh-Rezeptoren evaluiert. Neben der Generierung von Ergebnissen, die in hohem Maße übertragbar sind, bieten Organmodelle zudem den Vorteil der Reduktion notwendiger Tierversuche. So können die unterschiedlichen Organe eines Versuchstiers parallel in mehreren Modellen verwendet werden. Zusätzlich können aus dem Organmaterial häufig zahlreiche Versuchsreplikate gewonnen werden.

Methoden & Ergebnisse

Precision Cut Lung Slices (PCLS)

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Abb. 1: Atemwegsreagibilität in PCLS. Oben: ACh-induzierte Änderung der Atemwegsfläche in OP-vergifteten (VX, Cyclosarin (GF) bzw. Paraoxon (PXE); 10 μM) PCLS und in der Kontrollgruppe. Die ACh-induzierte Atemwegskontraktion in der Kontrollgruppe war spontan reversibel, in OP-vergifteten PCLS dagegen irreversibel (n ≥ 10; Mittelwert ± SEM; * p ≤ .05, **** p ≤ .0001). Unten: Atropin antagonisierte die irreversible Atemwegskontraktion in OP-vergifteten PCLS (n ≥ 8; Mittelwert ± SEM; **/## p ≤ .01).
Aus den isolierten Lungen von Ratten wurden mit Hilfe eines Mikrotoms 250 µm dicke, vitale Gewebeschnitte angefertigt, welche unter Zellkulturbedingungen inkubiert wurden. 24 Stunden nach Anfertigung der Schnitte erfolgten mikroskopische Analysen der Atemwegsreagibilität. Untersucht wurde die ACh-induzierte Kontraktion der Atemwege nach OP-Vergiftung sowie die Wirkung potenzieller Antidote, wobei die Änderung der Atemwegsfläche nach ACh-Applikation als Hauptmessgröße diente. Die Atemwegsfläche vor Applikation von Substanzen wurde als 100 % definiert und Änderungen der Fläche in Relation zur Ausgangsfläche ausgewertet.

0,5 µM ACh führten zu einer Kontraktion der Atemwege, die spontan reversibel war. Dies zeigte sich durch eine initiale Abnahme der Atemwegsfläche auf rund 28 ± 4 % der Ausgangsfläche, gefolgt von einer spontanen Dilatation auf rund 58 ± 6 % (Abbildung 1 oben). Die ACh-induzierte Atemwegskontraktion war bei OP-Vergiftung (VX, Cyclosarin, Paraoxon; jeweils 10 µM) jedoch irreversibel (Reduktion auf 11 ± 4 % der initialen Fläche); das Standard-Antidot Atropin konnte diesen Effekt antagonisieren (Dilatation der Atemwegsfläche von 20 % auf 70 % der Ausgangsfläche, Abbildung 1 unten). Die Fähigkeit eines potenziellen Antidots zur Antagonisierung der irreversiblen Atemwegskontraktion in OP-vergifteten PCLS zeigt dessen therapeutische Effizienz. Das PCLS-Modell eignet sich somit als verlässliches Werkzeug in der modernen Wirkstoffevaluation.

Isolierte Dünndarmpräparate

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Abb. 2: Relaxierender Effekt von Bispyridinium-(Non)-Oximen auf die glatte Muskulatur des Jejunums, bzw. Ileums des Menschen und der Ratte. Die Abbildung zeigt die normalisierten Dosis-Wirkungskurven aller getesteten Substanzen. Die Ergebnisse sind als % der isometrischen Kraft (Mittelwert ± SEM) nach vorheriger Stimulation mit Carbamoylcholin angegeben (n ≥ 5 Segmente verschiedener Darmabschnitte von mindestens 3 Patienten bzw. Ratten pro Konzentration)
Jejunumsegmente der Ratte sowie Jejunum- bzw. Ileum-Proben von Menschen mit jeweils  1 cm Länge wurden präpariert und in zehn Organbädern (begaster Tyrode-Puffer, 37°C) zwischen Kraftaufnehmern und Gewebehaltern über Haken fixiert. Die Vorspannung der Darmstücke wurde auf ca. 1 g eingestellt. Nach einer Äquilibrierungsphase (30 Minuten) wurden die Darmsegmente (n ≥ 10 Segmente pro Konzentration, von mindestens 3 Menschen bzw. Ratten) mit einem ACh-Analogum (Carbamoylcholin) stimuliert. Anschließend wurden therapeutisch Oxime und Bispyridinium-Non-Oxime in aufsteigender Konzentration appliziert, um die glattmuskuläre Relaxation (isometrische Kraft) zu erfassen.

Alle untersuchten Substanzen führten zu einer Relaxation der glatten Darmmuskulatur und zeigten eine typische Dosis-Wirkungs-Kurve (Abbildung 2). Atropin hatte den deutlichsten Effekt (EC50 = 0,01 µM), gefolgt von den experimentellen Antidoten MB 327 (EC50 = 6,6 µM) und MB 782 (EC50 = 10,4 µM). Obidoxim und Pralidoxim waren deutlich weniger effektiv (EC50 = 126,3 µM, bzw. EC50 = 261,8 µM). HI-6 wies den geringsten spasmolytischen Effekt auf (EC50 = 963,0 µM). In humanen Dünndarmpräparaten konnten vergleichbare EC50-Werte (MB 327 = 6,9 µM; Obidoxim = 93,1 µM; HI-6 = 963.0 µM) festgestellt werden. Dieses Modell erlaubt eine speziesübergreifende Datengenerierung in der Antidotforschung.

Langendorff-Herz-Modell

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Abb. 3: Experimenteller Aufbau des Langendorff-Herz-Modells mit Feedback-Mechanismus für die Puffer- bzw. Spritzenpumpe. Mittels einer geregelten Pumpe wird Puffer durch eine Strömungssonde retrograd ins Herz gepumpt. Der Fluss der Spritzenpumpe wird durch einen Feedbackmechanismus des Strömungsmessgeräts proportional zum Fluss durch die Aorta und Koronarien angepasst. Mittels Ballon wird die Druckentwicklung im linken Ventrikel gemessen. Das Herz und die Reservoire sind von einem beheizbaren Wassermantel (39 °C) umgeben.
Rattenherzen wurden präpariert und retrograd über die Aorta mit Krebs-Henseleit-Puffer (37°C; 60 mmHg Perfusionsdruck) perfundiert. Nach einer Äquilibrierungsphase (30 Minuten) wurden mit einem Pumpensystem mit Feedback über ein Strömungsmessgerät die zu testenden Substanzen (Bispyridinium--Non-Oxime sowie verwandte und klinisch bereits eingesetzte Oxime) in aufsteigender Konzentration appliziert. Diese zeigten keine kardiotoxischen Effekte im isoliert perfundierten -Langendorff-Herz-Modell (Abbildung 3). Der Fluss der Spritzenpumpe wurde ebenfalls durch den Feedbackmechanismus proportional zur Pufferpumpe angepasst. Dadurch wurde eine Überdosierung bei Flussschwankungen, u. a. durch Arrhythmien, vermieden. Als kardiovaskuläre Messparameter wurden die Herzfrequenz, der linksventrikuläre Druck (über Ballon im linken Ventrikel) und die Perfusionsrate in den Koronarien erfasst. Das Herz und die Reservoire waren von einem beheizbaren Wassermantel (39 °C) umgeben.

Schlussfolgerung/Diskussion

Isolierte Organmodelle ermöglichen die verlässliche Einschätzung der Wirksamkeit und Organtoxizität potenzieller neuer Therapeutika bei NKS-Vergiftungen. Im Vergleich mit klassischen Zellkulturmethoden bilden Organmodelle das komplexe Gesamtorgan ab, enthalten alle residenten Zelltypen und erlauben die Untersuchung zentraler funktioneller Parameter. Dies führt zu übertragbaren Ergebnissen, besonders da die Untersuchung humanen Gewebes mit einigen Modellen ebenfalls möglich ist. So wird zusätzlich die Einschätzung speziesabhängiger Gemeinsamkeiten und Unterschiede möglich. Die generierten Daten bilden zudem eine Grundlage für gezielte tierexperimentelle in vivo-Studien und tragen in der Versuchsplanung zur Reduktion der notwendigen Tieranzahl bei. Darüber hinaus stellen isolierte Organmodelle selbst eine praktische Umsetzung des 3R-Konzepts (Replace, Reduce, Refine) dar, da aus isolierten Organen eines einzelnen Versuchstiers die Erzeugung zahlreicher Versuchsreplikate möglich ist.


Literatur

  1. Eyer P: The role of oximes in the management of organophosphorus pesticide poisoning. Toxicol Rev 2003; 22(3): 165 - 190.
  2. Marrs TC: Organophosphate poisoning. Pharmacol. Ther.1993; 58(1): 51 - 66.
  3. Thiermann H, Worek F, Kehe Kai: Limitations and challenges in treatment of acute chemical warfare agent poisoning. Chem. Biol. Interact.2013; 206(3): 435 - 443.
  4. Worek F, Thiermann H: The value of novel oximes for treatment of poisoning by organophosphorus compounds. Pharmacol. Ther. 2013; 139(2): 249 - 259.


Oberstabsveterinär Katharina Marquart

E-Mail: katharinamarquart@bundeswehr.org

Datum: 21.12.2017

Quelle: Katharina Marquart, Julia Herbert

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