08.02.2019 •

Intratumorale Heterogenität von Hodentumoren: Prädiktion des Metastasierungsstatus durch spezifische Gensignatur in der Tumorinvasionsfront

Tim Nestler¹, ³, Christian Ruf², Hans-Ulrich Schmelz¹, Martin Hellmich³, Margarete Odenthal³, Axel Heidenreich³

¹Bundewehrzentralkrankenhaus Koblenz

²Bundeswehrkrankenhaus Ulm

³Universitätsklinik Köln

Einleitung

Der Hodentumor ist der häufigste Tumor des jungen Mannes und damit auch bei Soldaten, weshalb er wehrmedizinisch relevant ist [1]. Durch die Bundeswehrkrankenhäuser (BwKrhs´er) werden aktuell rund 10 % aller Hodentumorpatienten pro Jahr in Deutschland behandelt.

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Abb. 1: Schema der lasermikrodissezierten Areale: Grün die invasive Tumorfront, von der die ersten 150 μm des Tumors disseziert wurden; Rot das mindestens 500 μm von der Tumorfront entfernte zentrale Tumorkompartiment
Die Gruppe der seminomatösen Hodentumorpatienten, die in der Bildgebung nicht metastasiert sind, beinhaltet bis zu 20 % okkult metastasierte Patienten [2]. Okkulte Metastasen sind mikroskopisch kleine Metastasen, die zum Zeitpunkt der Tumordiagnose zwar schon vorliegen, jedoch klinisch, auch durch die Anwendung hochauflösender bildgebender Techniken wie MRT oder FDG-PET/CT, bisher nicht detektiert werden können. Die etablierten Hodentumormarker AFP, ßHCG und LDH sind ebenfalls zu ungenau, da sie nur von etwa 40 - 60 % der Hodentumoren exprimiert werden. Aufgrund dieser diagnostischen Unsicherheit werden somit bis zu 80 % der Patienten mittels Chemotherapie „übertherapiert“. Hiermit verbunden sind mit der Chemotherapie assoziierte Akut- und Langzeittoxizitäten. Besonders hervorzuheben sind im Einzelfalle lebensbedrohliche kardiovaskuläre Komplikationen, thromboembolische Ereignisse oder Sekundärmalignome [3, 4]. Daher ist eine sichere Stadieneinteilung zwingend notwendig, um die Patienten möglichst exakt zu diagnostizieren und somit gezielt nur diejenigen mit okkult- und klinisch metastasierten Tumoren zu therapieren. Diese individualisierte Therapie erspart bis zu 80 % der Patienten unnötige, therapieassoziierte Morbiditäten und ermöglicht darüber hinaus allein in der Bundeswehr Einsparungen von mindestens 50 000 Euro pro Jahr. Zusätzlich würden Kosten für die Behandlung von therapieassoziierten Akut- und Langzeittoxizitäten deutlich reduziert und so Einschränkungen der Dienstfähigkeit verhindert.

In Untersuchungen an Kolorektal- oder Bronchialkarzinomen wurden in der invasiven Tumorfront im Vergleich zu vitalen zentralen Tumorarealen unterschiedlich exprimierte Gene gefunden, die mit Prozessen der Metastasierung assoziiert sind [5, 6].

Daher war das Ziel der Studie, einen tieferen Einblick in die Tumorbiologie von Hodentumoren zu erhalten und unterschiedlich exprimierte Gene in der Tumorinvasionsfront im Vergleich zum Tumorzentrum zu identifizieren, die wichtig für Invasion, Progression und schließlich für die Metastasierung sind. Dieses bildet die Grundlage für eine spezifischere Diagnostik und vor allem für eine patientenindividualisierte Therapie metastasierter Hodentumorpatienten. Ideal wäre zudem eine Gensignatur im Primärtumor zu identifizieren, die den Metastasierungsstatus vorhersagen könnte.

Material und Methodik

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Abb. 2: Tumorfront und Tumorzentrum vor (I.) und nach der Lasermikrodissektion (II.) in 25-facher Vergrößerung (Durchführung mit AxioObserver.Z1 Inverted Microscope with ApoTome Optical Sectioning in combination with PALM Robo 4.3 SP2 software, Zeiss, Göttingen, Germany)
In die Studie wurden 32 seminomatöse Hodentumorpatienten eingeschlossen, von denen n=18 nicht metastasiert und n=14 primär metastasiert waren. Die nicht-metastasierten Patienten im sogenannten klinischen Stadium (cS) I durften nicht adjuvant therapiert worden und mussten mindestens 24 Monate rezidiv-frei gewesen sein. Alle metastasierten Patienten, der cS II und III wurden mit PEB-Polychemotherapie (Cisplatin, Etoposid, Bleomycin) behandelt.

Zunächst wurden alle HE-Schnitte gescreent und die Areale von Tumorinvasionsfront und Tumorzentrum identifiziert. Die weiteren Untersuchungen erfolgten an Formalin-fixiertem (FFPE) Gewebe. Als Tumorinvasionsfront wurde der Tumorbereich definiert, der in den ersten 150 µm in das gesunde Hodengewebe infiltrierend wächst. Das zentrale Tumorareal ist mindestens 500 µm von der Invasionsfront entfernt und berücksichtigt ausschließlich vitale Bereiche. Diese Areale wurden bei jedem Patienten mittels Lasermikroskop disseziert (Abbildungen 1 und 2). Hieraus wurde die RNA nach Standardprotokoll isoliert und 740 bekannte und klinisch relevante Onkogene bzw. Tumorsuppressorgene mittels NanoString PanCancer Progression Panel (NanoString Technologies, WA, Seattle, USA) analysiert. Hier wurde die nCounter® Technologie verwendet, die auch an stark fragmentierter RNA aus FFPE-Gewebe zuverlässig und reproduzierbar anwendbar ist.

Die differenzielle Genexpression wurde als Verhältnis der Expression von Tumorinvasionsfront zu Tumorzentrum für jedes Gen als log2 fold change berechnet und der adjustierte p-Wert angegeben, wobei p<0,05 als signifikant gewertet wurde. Zusätzlich wurden mittels Lasso-Regression (maschinelles Lernen) und Kreuzvalidierung Gensignaturen für Tumorinvasionsfront und Tumorzentrum getestet, die mit einer Auswahl möglichst weniger Gene die Metastasierung vorhersagen soll.

Ergebnisse

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Abb. 3: Vulcano-Plots mit hoch- bzw. herunterregulierten Genen für nicht-metastasierte (links: cS I) und metastasierte Patienten (rechts: cS II/III) jeweils im Vergleich zwischen Tumorfront (TF) und Tumorzentrum (TZ); blau eingerahmt sind die Gene mit einem signifikanten (p1,5. Für das cS I sind ausschließlich 12 Gene hochreguliert, für die cS II/III 30 Gene.
Das Patientenalter (cSI: 38,2 ± 8,3 Jahre vs. cSII/III 38,0 ± 7,5 Jahre; p=0,841) und die Tumorgröße (cSI: 3,0 ± 1,8 cm vs. cSII/III 4,4 ± 3,3 cm; p=0,084) waren im Mittel statistisch nicht signifikant unterschiedlich. Metastasierte Patienten wiesen jedoch ein höheres pT-Stadium (p=0,043) und häufiger eine lymphovaskuläre Invasion (p=0,025) auf. Das mittlere Gesamt-Follow-up betrug 70 ± 51 Monate. Aus der Gruppe der metastasierten Patienten erlitt ein Patient ein Rezidiv und zwei verstarben im Verlauf.

Die hierarchische Clusteranalyse ergab keine eindeutige Aufteilung in metastasierte und nicht metastasierte Patienten. Im Vergleich zwischen Tumorinvasionsfront und Tumorzentrum waren in der nichtmetastasierten Kohorte 12 Gene mit einem log2 fold change >1,5 signifikant unterschiedlich exprimiert und in der Gruppe der metastasierten Patienten 30 Gene (Abbildung 3). Erste Pathway-Analysen zeigen signifikante Expressionsunterschiede zwischen beiden Gruppen u. a. in dem Cluster der Prozesse mit Bezug zum Immunsystem. Die Analyse von vermehrt- bzw. vermindert exprimierten Genen im Vergleich zwischen Tumorinvasionsfront und Tumorzentrum zeigte eine hohe Variabilität zwischen den individuellen Patienten.

Die Lasso-Regression für die Subgruppe der Tumorinvasionsfront ergab eine Gensignatur aus sechs Genen (EPS8L1, ERBB3, FIGF, SLC2A1, SLPI, VAV2), die nahezu perfekt zwischen metastasierten und nicht-metastasierten Patienten unterscheiden kann (Spezifität 100 %, Sensitivität 92,9 %). In der Subgruppe des Tumorzentrums wurde jedoch keine Gensignatur gefunden.

Diskussion und Schlussfolgerung

Diese Arbeit zeigt erstmalig, dass seminomatöse Hodentumore, die bisher histopathologisch als uniforme Tumore beschrieben wurden, intertumoral heterogen sind und unterschiedlich exprimierte Gene zwischen metastasierten und nicht-metastasierten Patienten aufweisen. Zusätzlich konnten wir auch intratumoral – anhand einer Vielzahl unterschiedlich exprimierter Gene zwischen den Arealen der Tumorinvasionsfront und des Tumorzentrums – unterschiedliche Expressionsmuster detektieren. Diese Kenntnis ist tumorbiologisch von besonderer Bedeutung und könnte eine mögliche Erklärung für frühe Rezidive unter Surveillance oder nach Chemotherapie metastasierter Seminome darstellen. In einer Folgestudie werden wir unterschiedlich exprimierte Gene von Patienten mit Rezidiv unter Surveillance untersuchen und solche von Patienten mit Rezidiv nach Chemotherapie.

Ebenfalls ist bemerkenswert, dass anhand von sechs Genen, welche in der Tumorinvasionsfront unterschiedlich exprimiert sind, eine Metastasierung vorhergesagt werden kann. Für das Tumorzentrum ist dies jedoch auch unter Berücksichtigung aller 740 Gene nicht möglich. Basierend auf diesen Genen könnte ein neuer und spezifischer Ansatz etabliert werden, der in der Primärdiagnostik eine sichere Unterscheidung ermöglicht und zu einer individualisierten Therapie führt. Dies werden wir an einem unabhängigen multiinstitutionellen Kollektiv, möglichst prospektiv, validieren. Die signifikant unterschiedlich exprimierten Gene werden wir weiter untersuchen – mit Blick auf mögliche Angriffspunkte für eine individualisierte und zielgerichtete Therapie.

Literatur

  1. Robert Koch-Institut H (2016) Bericht zum Krebsgeschehen in Deutschland 2016. Berlin.
  2. Albers P, Albrecht W, Algaba F, Bokemeyer C et al.: Guidelines on Testicular Cancer: 2015 Update. Eur Urol. 2015;68(6):1054 - 1068.
  3. Haugnes HS, Bosl GJ, Boer H et al.: Long-term and late effects of germ cell testicular cancer treatment and implications for follow-up. J Clin Oncol. 2012;30(30):3752 - 63.
  4. Heidegger I, Porres D, Veek N, Heidenreich A, Pfister D: Predictive Factors for Developing Venous Thrombosis during Cisplatin-Based Chemotherapy in Testicular Cancer. Urol Int. 2017;99(1):104 - 109.
  5. Kobayashi T, Masaki T, Nozaki E et al.: Microarray Analysis of Gene Expression at the Tumor Front of Colon Cancer. Anticancer Res. 2015;35(12):6577 - 81.
  6. Wu H, Haag D, Muley T et al.: Tumor-microenvironment interactions studied by zonal transcriptional profiling of squamous cell lung carcinoma. Genes Chromosomes Cancer. 2013;52(3):250 - 264.


Oberstabsarzt Dr. Tim Nestler
E-Mail: timnestler@bundeswehr.org

Datum: 08.02.2019

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