Einsatzrelevante Überlegungen im Antibiotic Stewardship

T. Braasch , A. Lieber und S. Liebler

Einleitung

Die Befassung mit Antiinfektiva, Resistenzen und (antibiotischen) Therapien (ART) erfolgt in der Bundeswehr im Sinne des Antibiotic Stewardship (ABS) nicht nur in den Bundeswehrkrankenhäusern (BwKrhs) oder in Friedenszeiten. Die Verwendung von Antiinfektiva, speziell Antibiotika, ist weltweit in verschiedenen Einsatzszenarien und auch im Landes- und Bündnisverteidigungsfall (LV/BV-Fall) Teil der Prophylaxe- und Therapievorbereitungen, um unsere Soldaten im Erkrankungs- und Verwundungsfall pragmatisch, taktisch klug und leitlinienkonform zu versorgen.

Die Notwendigkeit einer spezialisierten fachübergreifenden Befassung mit ABS im Inland und in Friedenszeiten lässt sich auch für die Bundeswehr aus § 23, Absatz 4 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ableiten. Im Jahr 2018 erfolgte durch den Kommandeur Gesundheitseinrichtungen und stellvertretenden Inspekteur des Sanitätsdienstes gemäß A1-844/1-4003 („Umsetzung § 23 IfSG in der Bundeswehr“) die Einrichtung des sanitätsdienstübergreifenden Arbeitskreises Antiinfektiva, Resistenzen und (antibiotischen) Therapien (AK ART), in den alle in diesem Kontext relevanten Konsiliargruppen einen einsatzerfahrenen und fachlich ausgezeichneten Vertreter der jeweils eigenen Fachrichtung entsandten. Zu sehr spezifischen Problematiken werden weitere Spezialisten um Kommentare gebeten oder zu den Tagungen des AK ART für ihr jeweiliges Gebiet hinzugeladen. Der Arbeitskreis trifft sich zweimal jährlich zu Arbeitstagungen, bei denen Fragestellungen zur Beratung der übergeordneten Führung oder durch Mitglieder des Gremiums aufgeworfene Fragen im konstruktiven Dialog diskutiert und ausgearbeitet werden. Zudem werden ABS-Netzwerktreffen und bundeswehreigene Kurse zur Ausbildung von ABS-Beauftragten gemäß den Vorgaben der Bundesärztekammer und entsprechender Anerkennung als Fortbildung organisiert.

Die besondere Herausforderung für die Bundeswehr ist die Betrachtung militärischer Aspekte mit dem Auge des ABS, also einem streng rationalen Gesichtspunkt folgenden zurückhaltenden Antiinfektiva-Verordnung. Die Vorbereitung auf Szenarien, die hinsichtlich persönlicher Gefährdung, Logistik, Personal, Besonderheiten der Einsatzregion sowie der Anschlussversorgung der Verwundeten vom regulären Friedensalltag in BwKrhs oder als Truppenarzt abweichen, erfordern das Abwägen und gegebenenfalls Anpassen von Vorgaben, die im Inland und in Friedenszeiten ihre Berechtigung haben. Ein für militärische Belange universelles Antibiotikum existiert nicht. Einsatztaktische Überlegungen und Praktikabilität müssen im Vordergrund stehen, Versorgungsengpässe antizipiert werden sowie möglicherweise eine andere geographische Region und somit eine anderes Erregervorkommen und ein anderes Resistenzspektrum mitbedacht werden.

Im Folgenden stellen wir einige einsatzrelevante Aspekte, mit denen sich der AK ART bisher beschäftigte, vor. 

Mechanisch-thermische Kombinationsverletzung des linken Oberschenkels durch...
Mechanisch-thermische Kombinationsverletzung des linken Oberschenkels durch Blast-Trauma
Quelle: André Lieber

Antibiotische Prophylaxe bei Combat Related Trauma

Hier wurden neben einer breiten Recherche medizinischer Literatur unter anderem sowohl Vorschläge des Commity of Tactical Combat Casualty Care, publizierte Erfahrungen von US-amerikanischen Kollegen zu Einsätzen im Irak und Afghanistan sowie die Empfehlungen britischer Militärärzte kritisch gewertet. Empfehlungen aus Forschung und Publikationen der eigenen Streitkräfte (v.a. die Teams um Oberstarzt Prof. Dr. Willy im BwKrhs Berlin und Oberstarzt Prof. Dr. Kollig vom Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz) wurden prominent betrachtet. 

Da die antibiotische Prophylaxe innerhalb von weniger als drei Stunden nach Verwundung, u. a. zur Verhinderung eines Biofilms bei offenen Frakturen, gegeben werden sollte, mussten hier die mögliche Verzögerung im Verlauf der Rettungskette bis zum Beginn der chirurgischen Versorgung durch einsatz-/kriegsübliche Hindernisse sowie die Gabe durch nicht-ärztliches Personal mitbedacht werden. Hierzu erfolgte auf Initiative des AK ART die sogenannte „erforderliche Feststellung der besonderen Veranlassung gem. § 1 Abs. 2 Arzneimittelgesetz-Zivilschutzausnahmeverordnung (AMGZSAV)“ über das Bundesministerium der Vereteidigung. Komplexe Extremitätenverletzungen, urogenitale (Becken-)Verletzungen, Verletzungen mit Darmeröffnung, Mittelgesichts-, Thorax- und Verbrennungsverletzungen sowie deren Kombinationen gab es mitzudenken. Die genannten Verletzungsmuster galt es auch mit dem jeweiligen Verletzungsmodus wie Schuss- und Sprengverletzungen, Explosionen mit IED (improvised explosive devices) sowie schwere verkehrsunfallähnliche Verletzungen (Überrollungen, etc.) zu betrachten. Die Anwendung von Antibiotika im Zusammenhang mit nicht verwundungsbedingten Erkrankungen im Einsatz stellte eine weitere Herausforderung für die zu erarbeitenden Empfehlungen dar.

Der AK ART konnte einen – zuletzt 2022 aktualisierten – Konsensus erarbeiten, so dass unter definierten Voraussetzungen seit 2018 die entsprechende Gabe von Cefuroxim und Metronidazol ab der Ebene Combat First Responder B nach entsprechender Ausbildung im Rahmen der Selbst- und Kameradenhilfe erfolgen kann. Damit wird die orale Gabe von Ciprofloxacin als Bestandteil der sogenannten „Pill Packs“ für diese Indikation ersetzt. In den konsentierten Empfehlungen enthalten sind neben Dosierungsanleitungen ebenfalls Hinweise zu Wiederholungen sowie antiinfektive Prophylaxeaspekte bei der chirurgischen Behandlung.

Zusammenfassend ist von einer initialen Kontamination durch Hautflora auszugehen. Multiresistente Erreger oder Pilzkontaminationen sind üblicherweise frühestens ab Tag 3 (eher Tag 5) nach Verwundung relevant und sind anhand der nachfolgenden chirurgischen Eingriffe und Analyse der Risikofaktoren für Pilzinfektionen (z. B. bei ausgedehnten urogenitalen oder/und rektalen Verletzungen, bei hohem Blutverlust oder bei weiter erforderlichem Amputationsbedarf) zu beurteilen. Hier bekommt die zeitgerechte mikrobiologische und mykologische Diagnostik unter veränderten individualmedizinischen und schwierigen logistischen Bedingungen einen hohen Stellenwert. Dabei muss aber auch bedacht werden, dass Ergebnisse der erfolgten Diagnostik in einem möglichen Großszenario auch ausstehen können.

Die übliche periprozedurale antibiotische Prophylaxe besteht in einer Einmalgabe des empfohlenen Präparates. Bestimmte Voraussetzungen triggern zur Wiederholung der Applikation der initial gewählten Antibiotika (z. B. zeitlich verlängerte Dauer bis zur chirurgischen Versorgung, hoher Blutverlust, Dauer der chirurgischen Versorgung, etc.). Die periprozedurale Antibiotikaprophylaxe kann so in Einzelfällen auf 24 Stunden (u. a. auch bei meningealen Verletzungen) ausgedehnt werden. 

Jegliche längerfristige unter kalkulierten Prämissen bei Beginn der Versorgung begonnene Antibiotikabehandlung ohne Anhalt für eine vorliegende Infektion wird in der medizinischen Literatur auch unter dem Aspekt von Antibiotika-Nebenwirkungen (z. B. Clostridioides difficile-Infektion) und einer Resistenzentwicklung kritisch diskutiert.

Sonderfall Blast Injuries durch Suicide Bombing im militärischen Kontext

Im zivilen und militärischen Kontext gibt es Erwägungen zur Prophylaxe von übertragbaren Infektionen (vor allem Hepatitis B und Human Immunodeficiency Virus/HIV), wenn menschliches Material als Fremdkörper in Wunden eindringt. Insbesondere israelische Literatur, aber auch Forschung aus den eigenen Streitkräften durch Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Frickmann (BwKrhs Hamburg) wurden zur Beurteilung herangezogen.

Im zivilen Bereich haben sich z. B. US-Amerikaner und Briten für Anschläge im Inland neben der leitliniengerechten Hepatitis B Prophylaxe gegen eine spezielle antiinfektive Postexpositionsprophylaxe (PEP) bei möglichem Vorliegen von HIV entschieden. Hierbei wurde vor allem die Prävalenz unbehandelter HIV-Infektionen herangezogen. Der Aspekt einer ungestörten Infrastruktur hinsichtlich der schnellen (üblicherweise auf Polymerase-Kettenreaktion-basierten) Testung der Verwundeten und (der Überreste) der Attentäter und der so mögliche frühe und gezielte Behandlungsbeginn wurde mit einbezogen.

Anders sieht es für diesen Verletzungsmechanismus bei in Hochprävalenzländern stattfindenden militärischen Konflikten aus. Hier kann die Infrastruktur für eine schnelle und sichere Testung fehlen. Die Empfehlungen zur „Antibiotische Prophylaxe bei Combat Related Trauma“ wurden im Austausch mit französischen Kameraden um eine Empfehlung zur HIV-PEP bei entsprechendem Verletzungsmechanismus und einer HIV-Prävalenz von > 1 % ergänzt. Trotzdem ist auf diesem Gebiet weitere Forschung zur besseren Anleitung medizinischen Personals der Bundeswehr notwendig.

Besondere Situation – Eigentherapie einer schweren Diarrhoe bei abgesetzten Kräften

Natürlich gibt es Situationen in denen militärisches Personal schnell und kurzfristig unter eingeschränkten hygienischen Bedingungen ohne ärztliche Begleitung in Ländern mit hoher Wahrscheinlichkeit für Reisediarrhöe (z. B. Hitze, reduzierte Hygiene, schwierige Lebensmittellagerung) tätig ist und in denen ein sogenanntes „Aussitzen“ mit konservativer symptomorientierter Therapie gefährdend für den erkrankten Soldaten, sein Team und den Auftrag ist.

Hierzu wurde nach US-amerikanischem Vorbild die Möglichkeit eingerichtet, dass spezialisierte Kräfte, die abgesetzt eingesetzt werden und über keinen Kontakt zu ärztlichem Personal verfügen, anhand eines einfachen Algorithmus (Taschenkarte) eine möglicherweise auftragsbehindernde Diarrhoe antibiotisch (Azithromycin) zu bekämpfen. Eine Anleitung zur diesbezüglichen Ausstattung und Ausbildung dieser Kräfte wurde erstellt.

Antibiotika für den LV/BV-Fall

Hier wurde der AK ART beratend tätig, um sinnvolle Antiinfektiva unter dem Aspekt des ABS vorrätig zu halten. Die Herausforderung bestand darin, die in einem solchen Krisenfall mit hoher Wahrscheinlichkeit durch einen größeren Anfall von Verwundeten oder Erkrankten im Kontext eingeschränkter logistischer Strukturen auszuwählen. Gleichzeitig galt es zu berücksichtigen, dass diese Präparate in deutlich größeren Mengen gegenüber dem Friedensfall abrufbar ein müssen

Projekte der Zukunft: „Delabeling“ der Penicillinallergie

Viele Patienten geben im Rahmen der Eigenanamnese eine Penicillinallergie an. Die korrekte Diagnose einer so angenommenen Diagnose einer Penicillinallergie würde jedoch laut aktueller Literatur ca. 90 % aller anamnestischen Penicillinallergien aufheben. Dieses Konzept nennt sich „Delabeling“ und wird bereits durch US-amerikanische Mediziner in großem Stil praktiziert. Auch im zivilen Kontext finden sich inzwischen verschiedene Risiko-Scores, um über die Notwendigkeit von Alternativpräparaten zur Anwendung von Penicillinen oder bei angenommenen sogenannten Kreuzallergien zu entscheiden. Dies ist ABS-relevant, da Alternativantibiotika häufig ein unnötig breites Spektrum abdecken oder sogar den Reserveantibiotika zugeordnet sind. Wehrmedizinische Relevanz ergibt sich unter anderem aus der größeren therapeutischen Sicherheit sowie einer logistischen Vereinfachung insbesondere bei Behandlungsbeginn auf den ersten sanitätsdienlichen Ebenen der Versorgung.

Zusammenfassung

Die Beschäftigung mit Antibiotic Stewardship-relevanten Themen im militärischen Kontext ist ein besonderes Aufgabenfeld des Arbeitskreises Antiinfektiva, Resistenzen und (antibiotische) Therapien, der das Fachwissen der klinisch tätigen KameradInnen unter der Leitung des Dezernates 1 der Unterabteilung VI des Kommandos Sanitätsdienst der Bundeswehr bündelt. Da die Literatur hierzu weiterhin limitiert ist, muss weitergehende Forschung, besonders auch im eigenen Bereich, ständige Literaturrecherche und Ausbildung von Experten mit medizinischer und militärischer Expertise durchgeführt werden, um weiterhin auf hohem Niveau beratend tätig zu sein.



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