BRAUCHT DIE WEHRMEDIZINISCHE FORSCHUNG EINEN EINSATZCHIRURGISCHEN SCHWERPUNKT?

Aus der Abteilung für Orthopädie und Unfallchirurgie (Leitender Arzt: Oberstarzt Dr. Frank Rauhut) des Bundeswehrkrankenhauses Berlin (Chefarzt: Oberstarzt Dr.Wolfgang Düsel), Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité und aus dem New Jersey Center for Biomaterials der Rutgers–State University of New Jersey, Rutgers–Cleveland Clinic Consortium (Direktor: Prof. Dr. Joachim Kohn) des Armed Forces Institute of RegenerativeMedicine (Direktor: Colonel Dr. Bob Vandre)

Komplexe Verletzungsmuster in aktuellen
militärischen Konflikten stellen große Anforderungen an den modernen Sanitätsdienst. Zur Aufrechterhaltung eines hohen Standards bei der Versorgung verwundeter Soldaten gehört die ständige Suche nach neuen Therapieoptionen.

Aus der geschichtlichen Entwicklung heraus hatte der Militärsanitätsdienst in Deutschland gerade in den chirurgischen Disziplinen eine Vorreiterrolle bei der Erforschung traumatologischer Verletzungsmuster und der Entwicklung und Etablierung neuer klinischer Therapieansätze.
Am Beispiel Preußens zeigte sich dies schon früh in der Gründung des Collegium medicochirurgicum 1724 unter Friedrich Wilhelm I., das mit eigenen Professoren für eine strukturierte militärchirurgische Ausbildung auf Basis aktuellster fachlich-wissenschaftlicher Kenntnisse sorgen sollte. Später war die Pépinière als Ausbildungsstätte preußischer Militärchirurgen eng verbunden mit dem Aufstieg der Charité zu einem medizinischen Zentrum der klinischen Ausbildung und Forschung. Im 19. Jh. und bis zum ersten Weltkrieg war die Verknüpfung von Militär und chirurgischem Forschen und Fortschritt kaum wegzudenken. So konnten viele große Chirurgen wie Bernhard v. Langenbeck oder Ernst v. Bergmann in ihrer prägenden Arbeit und Forschung auf eigene kriegschirurgische Erfahrungen zurückgreifen. Das starke Interesse und Engagement der Sanitätsoffiziere an chirurgischem Fortschritt und Wissenszuwachs bildete sich zu dieser Zeit auch in den hohen Mitgliederzahlen in chirurgischen Vereinigungen, z.B. der Berliner Chirurgischen Gesellschaft ab. Bedingt durch die Verwundungen aus Kriegen - später auch den Weltkriegen - wurden gerade in der traumatologischen Chirurgie große Fortschritte und Erkenntnisgewinne auf Basis von ursprünglich primär militärischen Fragestellungen erzielt.

Nach Gründung der Bundeswehr folgte dann zunächst eine lange Periode ohne militärische Beteiligung deutscher Soldaten in bewaffneten Konflikten. Entsprechend waren die Verletzungsmuster, mit denen sich chirurgisch tätige Sanitätsoffiziere hauptsächlich auseinander setzen mussten, ähnlich denen im Zivilen. Experimentelle und klinische traumatologische Forschungsvorhaben in der BRD wurden deshalb v.a. nach Fragestellungen ausgerichtet, die maßgeblich von zivilen Verletzungsmustern, zivilen Forschungseinrichtungen an Universitäten und zivilen Traumazentren geprägt waren.

Im Gegensatz dazu waren in anderen Ländern, die in den vergangenen Jahrzehnten in Kriege und militärische Konflikte involviert waren (wie z.B. die USA oder Israel) dauerhaft Forschungsanstöße und -projekte vom Militär ausgegangen. So wurde z.B. in den letzten Jahren auf der Grundlage von Einsatzerfahrungen eine verstärkte Entwicklung und Einführung neuer Produkte für die sanitätsdienstliche erste Hilfe im Gefechtsfeld gefördert (u.a. hämostatische Verbände, Tourniquets, u.a.). Früher wie heute lässt sich dabei beobachten, dass solche Materialien oder Techniken, die primär für die militärische Verwundetenversorgung entwickelt und in Einsätzen erprobt wurden, schließlich auch Zivilisten in der Heimat zu Gute kommen. Auch vor diesem Hintergrund wird in den vergangenen Jahren u.a. in den USA die zivil-militärische Zusammenarbeit und gemeinsames Vorgehen in bestimmten Forschungsbereichen (z.B. der Traumatologie) zunehmend unterstützt. So wurde ab 2006 das Orthopaedic Trauma Research Program (OTRP), als Teil des Medical Research and Materiel Command (MRMC) der US-Streitkräfte eingerichtet. Unter militärische Ägide sollen hier zivile und militärische Spezialisten und Experten gemeinsam an neuen Therapieansätzen für Verletzungen der Extremitäten arbeiten. Ähnlich wie zuvor US-amerikanische oder britische Soldaten werden aktuell nun mit dem vermehrten Engagement in Auslandseinsätzen, v.a. in Afghanistan, zunehmend auch deutsche Soldaten durch Kampfhandlungen und Anschläge betroffen. Die Verletzungsmuster gleichen dabei teilweise schweren zivilen Traumata (u.a. mit offenen Frakturen, Gefäßabrissen, Weichteildefekten oder ausgedehnten Verbrennungen). Andererseits kommt es aber ferner zu schweren und komplexen Verletzungen, die im Zivilen in dieser Form bislang nicht bekannt waren (z.B. Blast injuries). Auch nach einer gelungenen primären Stabilisierung folgt für die betroffenen Soldaten oft eine langwierige Behandlung, die trotz Einsatz aktuellster Therapiemethoden nicht selten zu lebenslangen Beeinträchtigungen bei Körperfunktionen oder Ästhetik führt. Um selbst bei gravierenden Verletzungen ein bestmögliches Ergebnis für die betroffenen Soldaten zu erzielen, ist deshalb die fortwährende Suche nach neuen Therapiemethoden nötig. Die Wichtigkeit dieser Thematik wurde aktuell von den USA erkannt, als sie sich durch die Einsätze im Irak und Afghanistan mit einer zunehmenden Anzahl schwer verwundeter Soldaten konfrontiert sahen. Im Vergleich zu früheren Kriegen nahm mit verbessertem Körperschutz unter den Überlebenden die Zahl von Torsoverletzungen ab, während in Relation u.a. Verletzungen der Extremitäten und des Kopfes häufiger gesehen wurden. Gleichzeitig wurde die Notwendigkeit deutlich, für diese führenden Verletzungsmuster verstärkt effektivere Therapieansätze zu entwickeln, da bestehende Techniken und Materialien vermehrt an ihre Grenzen stießen.

Das AFIRM

Vor diesem Hintergrund wurde im Frühjahr 2008 durch das US Verteidigungsministerium das Armed Forces Institute of Regenerative Medicine (AFIRM) ins Leben gerufen, ein multi-institutionelles interdisziplinäres Netzwerk verschiedener Forschungseinrichtungen. Die Finanzierung über zunächst 5 Jahre erfolgt durch das US Verteidigungsministerium, sowie die National Institutes of Health und eine Reihe öffentlicher und privater Organisationen. Ziel des AFIRM ist die intensivierte (Weiter-) Entwicklung neuer und bestehender regenerativer Therapieansätze für charakteristische Kriegsverletzungen und ihre beschleunigte Einführung in die Klinik. Klassische intensive Grundlagenforschung selbst steht nicht im Kerninteresse. Die Forschungsergebnisse sollen dabei letztlich nicht nur Soldaten, sondern auch zivilen Unfallopfern zu Gute kommen. Als Forschungsschwerpunkte des AFIRM wurden folgende fünf Bereiche definiert (für nähere Informationen zu bestehenden und geplanten Projekten wird auf den Annual Report 2009 verwiesen, der unter www.afirm.mil/assets/documents/ annual_report.pdf frei verfügbar ist):

  1. Behandlung von Weichteil- und Knochenverletzungen der Extremitäten (s. Seite II-1 bis -71 des AFIRM Annual Report 2009)
  2. Behandlung von Schädel- und Gesichtsverletzungen (s. Seite III-1 bis -39 des AFIRM Annual Report 2009)
  3. Narbenfreie Wundheilung und Verminderung entzündlicher Gewebereaktionen (s. Seite IV-1 bis -32 des AFIRM Annual Report 2009)
  4. Behandlung von Verbrennungen mit besseren funktionellen und ästhetischen Ergebnissen (s. Seite V-1 bis -38 des AFIRM Annual Report 2009)
  5. Neue Ansätze zur Diagnostik und Therapie des Kompartmentsyndroms (s. Seite VI-1 bis -20 des AFIRM Annual Report 2009)

Die Institutionen des AFIRM bestehen im Wesentlichen zwei zivilen Forschungsverbünden, die unter Leitung des US Army Medical Research and Materiel Command (MRMC) eng mit dem US Army Institute of Surgical Research (USAISR) zusammenarbeiten (s. Abb. 1). Jeder zivile Verbund umfasst selbst nochmals bis zu 16 Institute von Universitäten und Forschungszentren. Diese hatten alle bereits vorab große Expertisen in ihren Forschungsgebieten erworben und waren zum AFIRM hinzugezogen worden, um den militärisch definierten Bedarf an neuen Therapien klar zu adressieren. Eng mit dem AFIRM assoziiert wurde 2009 das Major Extremity Trauma Research Consortium (METRC) gegründet (s. Abb. 1). Ziel ist es, über multi-center Studien evidenzbasierte Behandlungsrichtlinien für die optimale unfallchirurgische Versorgung zu etablieren. Mit der Durchführung der Studien innerhalb der USA unter Einbezug ziviler Einrichtungen werden bei ähnlichen Verletzungsmustern wie im Einsatz höhere spezifische Studienfallzahlen erlangt. Bestehende und geplante Studien befassen sich u.a. mit der Therapie offener Tibiafrakturen (FIXIT Study), dem Einsatz von Bone Morphogenetic Protein bei Knochendefekten (TOG Study) und der Evaluation von lokalen antibiotischen Applikationssystemen (TOP Study).

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Potential für die Zukunft

Die veränderten Bedingungen in modernen asymmetrischen Konflikten (u.a. in Afghanistan) erfordern eine stetige Anpassung und Verbesserung von Materialien, Ausrüstung und Taktik. Von den US-Streitkräften wurde als Reaktion auf spezifische Verletzungsmuster in den Einsätzen im Iraq und Afghanistan das Armed Forces Institute of Regenerative Medicine (AFIRM) gegründet. Unter Nutzung regenerativer medizinischer Therapiemethoden sollen dadurch neue Wege beschritten werden, um akute wie chronische Verwundungsfolgen zu vermindern oder gar zu vermeiden. Neben der enorm positiven Bedeutung, die erfolgreiche neue Behandlungsansätze für den individuellen Soldaten haben werden, könnten sich auch volkswirtschaftlich die heutigen Investitionen der USA in das AFIRM-Projekt bald als berechtigt erweisen. Aktuelle Studien lassen vermuten, dass die hohen Kosten durch Krankenhausbehandlungen für verwundete Soldaten, sowie die sekundären Kosten durch Anschlussbehandlungen und bleibende Behinderungen die derzeitigen Forschungsausgaben für bessere Therapien weit übersteigen. Angesichts der veränderten Lage in Nordafghanistan, aber auch in Hinblick auf mögliche Konflikte in der Zukunft muss der Beschäftigung mit den spezifischen Verletzungsmustern und der Entwicklung neuer Therapieansätze (z.B. auf Basis regenerativer Medizin) innerhalb der wehrmedizinischen Forschung der Bundeswehr eine stärkere Bedeutung zukommen. Während der Notwendigkeit der Erforschung seelischer Traumata durch Gründung des Forschungs- und Behandlungszentrum Psychotraumatologie und Posttraumatische Belastungsstörungen am Bundeswehrkrankenhaus Berlin bereits Rechnung getragen wurde, fehlt für deutsche Soldaten weiterhin eine spezialisierte Institution zur Entwicklung neuer Therapieansätze für ihre körperlichen Traumata.

Dazu sollte eine dauerhafte wehrmedizinische Einrichtung, ähnlich dem AFIRM, für einsatzrelevante chirurgische und notfallmedizinische Therapiefragen geschaffen werden. Gerade bei Betrachtung der oben geschilderten Struktur des AFIRM lässt sich zeigen, dass dabei weder die Investition in ein einzelnes Institutsgebäude noch eine aufwändige Grundlagen- oder reine STAN-Forschung gefordert ist. Vielmehr wird der Schwerpunkt bei der Planung und Koordination einer zielorientierten zivil-militärischen Verbundsforschung liegen, mit entsprechenden Entwicklungsvorhaben, Sonderforschungs- und Vertragsforschungsprojekten. In Deutschland bestehen gute Voraussetzungen für solche Verbundforschungsvorhaben. Es gibt viele Zentren mit hohem Niveau und Expertise sowohl auf Gebieten der experimentellen regenerativen Forschung, als auch der klinischen Forschung und Versorgung z.B. im Rahmen des Traumanetzwerks der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Gerade in Berlin besteht durch die enge Verbindung des Bundeswehrkrankenhauses mit dem Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie der Charité und dem Unfallkrankenhaus Berlin sowie durch die örtliche Nähe des Berlin-Brandenburg Center for Regenerative Therapies eine sehr gute Basis für eine führende Keimzelle einer solchen zivil-militärischen Forschungszusammenarbeit.

Durch eine Bündelung bestehender Interessen und Kompetenzen militärischer, aber gerade auch ziviler Einrichtungen könnten neue Erkenntnisse und Wege für aktuelle Therapieansätze für verwundete Soldaten und damit auch zivile Unfallopfer erschlossen werden. Darüber hinaus könnte eine solche Zusammenarbeit aber ebenfalls von Vorteil sein, wenn es gilt, neue Behandlungswege bei hauptsächlich wehrmedizinisch relevanten Verletzungsmustern (z.B. Blast injuries) zu eröffnen. Hier könnten dann bestehende militärchirurgische Erfahrungen mit zivilen Forschungsexpertisen verknüpft werden. Bereits heute existieren entsprechende einzelne Kooperationen zwischen nationalen, wie internationalen zivilen Forschungseinrichtungen. Ähnlich sollte es auch das erklärte Ziel eines wehrmedizinischen Forschungsvorhabens sein, von Anfang an eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung mit international bereits etablierten Zentren und Projekten im NATO-Rahmen anzustreben. Einem solchen Wissensaustausch auf militärischer Ebene stehen auch andere Nationen (z.B. USA, England) u.a. mit der Etablierung sog. Fellowship Programme sehr positiv gegenüber. Eine derartige verstärkte und organisierte internationale Zusammenarbeit kann vorhandene Ressourcen und Wissensschätze optimal bündeln und durch die Ausrichtung auf gemeinsame Ziele ihre Wirkung zum Wohle verwundeter Soldaten potenzieren. Letztlich würde ein solches Engagement den ohnehin hohen medizinischen Standard, den der Sanitätsdienst bereits heute unseren Soldaten bieten kann, in Zukunft noch weiter steigern können. Weitere Informationen zu den US-amerikanischen Institutionen und Forschungsinhalten dieses Artikels (v.a. des AFIRM) finden sich unter: www.afirm.mil www.afirm.mil/assets/documents/ annual_report.pdf www.afirm-rccc.org www.metrc.org https://mrmc-www.army.mil (U.S. ArmyMedical Research andMateriel Command)

Literatur bei den Verfassern.

Datum: 13.10.2010

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2010/3

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