André Müllerschön, Transfusionswesen in den  deutschen Streitkräften vom...
27.06.2022 •

André Müllerschön, Transfusionswesen in den deutschen Streitkräften vom Ersten Weltkrieg bis heute

Die Problematisierung wehrmedizinischer Entwicklungen unter besonderer Berücksichtigung medizinethischer Aspekte (= Schriften zur Geschichte der Militärmedizin und des Sanitätsdienstes, 2)

Bonn: beta-Verlag 2021, 480 S., EUR 29,90 [ISBN 978–3–927603–62–2]

Ernst-Jürgen Finke

Mit der vorliegenden wehrmedizinisch-historischen Studie hat André Müllerschön erfolgreich ein Sonderforschungsprojekt des Sanitätsdienstes der Bundeswehr abgeschlossen und im Frühjahr 2021 den Doktorgrad der Philosophie erworben. Die Thematik seines Buches ist nach wie vor aktuell. Dafür sprechen der Anstieg operativer Eingriffe im medizinischen Alltag und militärischer Konflikte, mit denen auch die Bundeswehr konfrontiert wird. Folglich ist Vorsorge zu treffen, um im Verletzungsfall massive Blutverluste auszugleichen und Leben zu retten. Dies erklärt den hohen Stellenwert der Transfusionsmedizin in der Bundeswehr.

Das vorliegende Buch ist, historischer Logik folgend, in neun Kapitel gegliedert. Im ersten werden das Anliegen der Arbeit und das methodische Herangehen erläutert, nämlich aufzuzeigen, „welchen Fortschritt und welche Entwicklung das militärische Transfusionswesen in Abhängigkeit von politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und militärischen Verhältnissen vollzogen hat“ (S. 24). Im zweiten Kapitel spannt der Autor einen Bogen von der Antike bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Hier legt er dar, wie sich frühe Blut- und Krankheitslehren nach Entdeckung des Blutkreislaufs wandelten, erste Übertragungsversuche mit Tier- und Menschenblut verliefen, Verwundete im Deutsch-Französischen Krieg Blut erhielten und Karl Landsteiners Blutgruppenlehre den Weg zu einem risikoärmeren Bluttransfer ebnete.

Die folgenden fünf Kapitel behandeln die Bluttransfusion in deutschen Armeen während des Ersten Weltkrieges, der Zwischenkriegszeit, des Zweiten Weltkrieges und Kalten Krieges bis hin zur Gegenwart im Kontext mit der militärpolitischen Lage, der sanitätsdienstlichen Versorgung und dem zivilen Transfusionswesen. Die Möglichkeiten und Grenzen der Blutversorgung der Streitkräfte und Zivilbevölkerung im Katastrophen- und Kriegsfall werden ausführlich geschildert und mit zahlreichen Abbildungen veranschaulicht. So verweist der Verfasser im dritten Kapitel auf die Schwierigkeiten des deutschen Sanitätsdienstes im Ersten Weltkrieg, angesichts des Massenanfalls an Schwerstverletzten für die nötigen Blutspenden zu sorgen. Das folgende Kapitel verdeutlicht Fortschritte im Bluttransfusionswesen (Citratblut, Blutersatzmittel, Blutgruppenbestimmung, spezielle Transfusionsapparate) im zivilen Bereich, in der Reichswehr und Wehrmacht. Im fünften Kapitel analysiert der Autor das Blutspendewesen der Wehrmacht, das neben neuen Transfusionsmethoden und -techniken, Blut-, Serum- und Blutbestandteilkonserven erstmals Trockenserum und Kolloidlösungen als Blutersatzmittel nutzte. Menschenverachtende Versuche an KZ-Häftlingen bleiben dabei nicht unerwähnt. Im sechsten und siebten Kapitel vergleicht der Verfasser die Blutversorgung in der NVA und der Bundeswehr und verschafft mit 36 Abbildungen einen Einblick in die unterschiedliche materiell-technische Ausstattung beider Sanitätsdienste. So wird ersichtlich, dass die NVA kein eigenständiges Blutspendewesen unterhielt. In ­Friedenzeiten stützte sie sich auf die staatliche Blutspendeorganisation ab, um sie im Kriegsfall zu übernehmen. Fehlende Kapazitäten galt es, durch mobile Einrichtungen zur Blutentnahme und -testung, Produktion und Lagerung von Blutkonserven und Blutersatzmitteln zu ergänzen. 

Aus dem siebten Kapitel geht hervor, wie die Bundeswehr im Gegensatz zur NVA frühzeitig begann, einen eigenen Blutspendedienst aufzubauen und – Synergien mit dem zivilen Bluttransfusionswesen nutzend – eine moderne transfusionsmedizinische Versorgung für den V-Fall und die Auslandseinsätze etabliert hat. Im vorletzten Kapitel äußert sich mit André Müllerschön erstmals ein Autor zu medizinethischen Problemen, die sich auch heute noch im militärischen Transfusionswesen ergeben können. Kritisch ausgewogen wird dieser über Jahrhunderte zurück weisende Weg ethischen Denkens und Handelns den eingangs genannten Kapiteln zugeordnet. Am Schluss reflektiert der Verfasser die Entwicklung und Unterschiede der Bluttransfusion in den genannten Zeiträumen noch einmal vor dem Hintergrund gesellschafts- und militärpolitischer, wissenschaftlicher und medizinethischer sowie sanitätsdienstlicher Rahmenbedingungen. Abgerundet wird diese sorgfältige Analyse der Geschichte der Transfusionsmedizin durch einen Anhang mit Kurzbiographien von Wissenschaftlern und Ärzten, ohne die das heutige Transfusionswesen undenkbar wäre.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Buch die medizinhistorische Literatur allein schon wegen seines immensen Fundus an Quellen und Informationen bereichert, die anderswo kaum zu finden sein dürften. Es ist aus aktueller Sicht auch als medizinethische Orientierungshilfe zu betrachten und an dieser Thematik Interessierten in und außerhalb des Sanitätsdienstes sehr zu empfehlen. 


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