22.02.2011 •

ANALYSE VON WIRBELSÄULENBELASTUNEN AM ARBEITSPLATZ: NEUE MÖGLICHKEITEN FÜR WISSENSCHAFT UND PRAXIS IN DER WEHRMEDIZIN

Aus dem Institut für Physiologie und Anatomie der Deutschen Sporthochschule Köln¹, der Laborabteilung IV -Wehrmedizinische Ergonomie und Leistungsphysiologie- (Leiter: Oberstarzt Prof. Dr. Dr. D. Leyk) am Zentralen Institut des Sanitätsdienstes der Bundeswehr Koblenz (Leiter: Flottenarzt Dr. H. Bergmann)² und der Fachhochschule Kiel, Hochschule für angewandte Wissenschaften, Technologie- und Wissenstransfer³

Von Max Wunderlich¹, Thomas Rüther¹, Anne Mödl¹, Oliver Erley², Gerd Küchmeister³ und Dieter Leyk¹,²

Zusammenfassung

Hintergrund:

Die Analyse von Wirbelsäulenbelastungen am Arbeitsplatz ist überwiegend auf die Quantifizierung der Lastenhandhabung fokussiert, obwohl wissenschaftliche Studien belegen, dass die berufsspezifische Rückenschmerzprävalenz und Arbeitsunfähigkeit nur teilweise durch die Lastenhandhabung zu erklären ist. Zielsetzung der wehrmedizinischen Forschungsprojekte war es daher, ein mobiles Analyse- und Bewertungsverfahren zu entwickeln, dass im militärischen Umfeld an nahezu jedem Arbeitsplatz eine Objektivierung der kinematischen Wirbelsäulenbelastung ermöglicht.

Methoden:

Im Rahmen des ersten Verbundforschungsprojektes wurde ein mobiles, hardund softwaretechnisches Verfahren (3D-SMG) aufgebaut und evaluiert, das mithilfe miniaturisierter Ultraschallsensoren indirekt ein dreidimensionales Haltungs- und Bewegungsprofil der Wirbelsäule und des Oberkörpers in Echtzeit ermittelt. Die inhaltliche Fortführung des Forschungsvorhabens hat zum Ziel, neuartige Bewertungskriterien für Wirbelsäulenbelastungen zu entwickeln. Exemplarisch wurden im Rahmen dieser Studie Be-/Entladetätigkeiten an der Panzerhaubitze 2000 mit Bürotätigkeiten verglichen.

Ergebnisse:

Der Vergleich dieser heterogenen Tätigkeiten zeigt, dass bei beiden Arbeiten lastenunabhängig kinematische Belastungsindikatoren auftreten. Neben der einseitigen monotonen Körperhaltung während der Bildschirmtätigkeit konnten für den Be-/Entladevorgang ungünstige dynamische Wirbelsäulenaktionen und Arbeitsabläufe objektiviert werden.

Schlussfolgerungen:

Anhand der beispielhaften Analysen werden die neuen messtechnischen und inhaltlichen Möglichkeiten des 3DSMG für die wehrmedizinische Forschung deutlich. Neben der Belastungsbewertung sind dies die Evaluierung von Ausrüstung und Material sowie die Ableitung tätigkeitsspezifischer Präventionsempfehlungen. Darüber hinaus ist für die wissenschaftliche Anwendung des Verfahrens ein erheblicher Erkenntnisgewinn für das komplexe Beziehungsgefüge tätigkeitsspezifischer Wirbelsäulenbelastungen zu erwarten.

Analysis of spine loads at the workplace: New opportunities for science and practice in military medicine

Summary

Background:

The analysis of spine loads at workplace is predominately focused on quantification of manual load handling. However, scientific studies revealed that occupation related back pain and disability rates are only partly forced by manual handling of loads. Objective of the research projects in military medicine was the development of a mobile analysing system to assess and objectify kinematics of spine loads at almost every work place of the Bundeswehr.

Methods:

Within the first joint research project a mobile hard and software technical device (3D-SMG) was built and evaluated. By means of miniaturized ultrasound sensors a three dimensional posture and movement profile can be derived in real time from spine and trunk. The continuation of the research project has the objective to develop assessment criteria for spine loads by analysing heterogeneous work profiles. Exemplary comparison of loading/ unloading activities at a howitzer (“Panzerhaubitze 2000”) and office work has been conducted in this study.

Results:

Both jobs suffer from severe kinematics strain which occur independent of manual load handling. Besides the one-side monotonous body postures during screen handling, unfavourable dynamic spine action and workflows could be estimated for loading/unloading procedure.

Conclusions:

The characteristic data demonstrates the new technological and functional possibilities of the 3D-SMG with regard to research in military medicine. Beside the assessment of stress indicators, the system enables evaluation of equipment and material. Moreover, individual and occupation related prevention strategies can be derived from the results. Scientific community will gain significant new insights into the complex association of occupation related spine loads.

1. Einleitung

Rückenschmerzen zählen seit Jahren zu den häufigsten Ursachen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland und anderen Industrienationen [1]. Etwa 20 % aller Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland werden auf diesen Symptomkomplex zurückgeführt [1]. Die enormen Folgekosten von bis zu 30 Milliarden € pro Jahr [2] resultieren nicht nur aus der hohen Beschwerdeprävalenz (Jahresprävalenz 60-80 %, Wochen-/Punktprävalenz 20-40 %) sondern sind auch durch lange Ausfallzeiten und eine hohen Rezidivrate bedingt [3].

Selbstverständlich sind nicht alle Rückenschmerzepisoden durch die berufliche Tätigkeit zu erklären. Dennoch können, neben zahlreichen psychosozialen Faktoren, die körperlichen Anforderungen am Arbeitsplatz ursächlich an der Beschwerproblematik beteiligt sein beziehungsweise erheblich zur Chronifizierung der Schmerzen beitragen [4, 5]. Mit Einführung der Berufskrankheitennummern 2108, 2109 und 2110 ist von Seiten des Arbeitsschutzes auf den Zusammenhang zwischen berufsbedingten körperlichen Belastungsfaktoren und degenerativen Wirbelsäulenveränderungen reagiert worden. Aufgrund der Lastproblematik sowie der häufig ungünstigen Körperhaltungen im Soldatenberuf hat die Bundeswehr die Leitmerkmalmethode zur Quantifizierung der Wirbelsäulenbelastung eingeführt [4]. Allerdings wird bislang bei allen Verfahren zur Ermittlung tätigkeitsbedingter Wirbelsäulenbelastungen ausschließlich der lumbale Bandscheibeninnendruck als zielwertspezifische Belastungskenngröße mithilfe biomechanischer Modelle abgeschätzt [6]. Daher bestehen für die Arbeitsmedizin zwei grundsätzliche Herausforderungen im Bereich der Analysen von tätigkeitsbedingten Wirbelsäulenbelastungen:

  1. Trotz der zentralen Bedeutung von Haltung und Bewegung (Kinematik) für die Bewertung der Wirbelsäulenbelastung, fehlt es an objektiven, mobilen, messtechnischen Analyseverfahren, die tätigkeitsübergreifend kinematische Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz ermitteln können.
  2. Es besteht derzeit keine Möglichkeit zur objektiven Belastungsbewertung. Dies gilt sowohl für die Bewertung innerhalb als auch zwischen Berufsgruppen. Ursache hierfür ist das Fehlen von Messsystemen sowie unzureichend definierte Bewertungsmaßstäbe.

Damit bleibt letztlich unklar, welche Maßnahmen zur Belastungsreduktion getroffen werden sollen. Des Weiteren kann nicht überprüft werden, welchen Effekt die Maßnahmen auf die ursprüngliche Belastungssituation haben. Aus wehrmedizinischer Sicht ist es jedoch für zahlreiche Bereiche (Prävention, Ausbildung, Ausrüstung etc.) von großer Bedeutung die heterogenen Arbeitsplätze/ Arbeitsbedingungen der Bundeswehr nach einem einheitlichen Standard evidenzbasiert bewerten zu können. Zielsetzung ist es daher, ein Messverfahren sowie Bewertungs-kriterien für kinematische Wirbelsäulenbelastungen zu entwickeln.

Zivil-Militärische Verbundforschung zur Analyse der Wirbelsäulenbelastung

Im Verbundforschungsprojekt „Tätigkeitsanalysen von Arbeitsplätzen mit hohen Wirbelsäulenbelastungen“ (M/SAB1/4/A009) wurde zunächst ein Messverfahren entwickelt, das den notwendigen Anwendungskriterien (mobil, valide, objektiv) entsprach [7]. Des Weiteren konnte anhand exemplarischer Tätigkeitsanalysen die praktische Anwendbarkeit des Verfahrens sowie das Potenzial der neuartigen Belastungsbewertung demonstriert werden. In dem noch laufenden Verbundprojekt „Quantifizierung von Wirbelsäulenbelastungen am Arbeitsplatz: Ermittlung von Belastungsprofilen und Entwicklung von Bewertungskriterien“ (M/SAB1/7/A007) wird anhand von unterschiedlich anforderungsreichen Belastungsprofilen ein Bewertungsschema für kinematische Wirbelsäulenbelastungen entwickelt.

Der Bundeswehr wird damit zukünftig im Rahmen des Forschungsverbundes „Koblenzer Modell“ ein weltweit einzigartiges Analyseverfahren zur Verfügung stehen. Durch einen gezielten Einsatz des Systems können Maßnahmen der Prävention, Ausbildung und Ausrüstungsentwicklung nachhaltig begründet und in ihrer Wirksamkeit evaluiert werden.

2. Methoden

2.1 „3Dimensional SpineMoveGuard“ (3DSMG)

Haltungen und Bewegungen der Wirbelsäule sowie die sagittale Rumpfneigung werden durch das dreidimensionale Analyseverfahren „SpineMoveGuard“ (3D-SMG) erfasst. Grundlage des 3D-SMG ist der ultraschallbasierte sonoSens®-Monitor (Fa. Friendly Sensors AG, Jena). Integraler Bestandteil des Monitors sind vier miniaturisierte Ultraschallempfänger- und -senderpaare die auf anatomisch definierte Abschnitte der Wirbelsäule geklebt werden, sodass die Wirbelsäulenabschnitte Hals- (HWS), Brust- (BWS) und Lendenwirbelsäule (LWS) an der Hautoberfläche messtechnisch dreidimensional bestimmt werden können (Abb 1).

 

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Abb 1: Instrumentierung der Ultraschall- und Neigungssensoren des 3D-SpineMoveGuard für die Abschnitte der Hals- (HWS), Brust- (BWS) und Lendenwirbelsäule (LWS). Die Pfeile zeigen schematisch den Signalverlauf zwischen Sender (Beginn der Linie) und Empfänger (Pfeilköpfe).

 

Als Messgröße wird die Ultraschalllaufzeit (1500 m/s) zwischen Sender- und Empfänger kontinuierlich ermittelt, die aufgrund der konstanten Geschwindigkeit im Gewebe in Millimeter umgerechnet wird. Haltungsänderungen gehen analog zur Distanz zwischen den Sensoren mit einer kürzeren beziehungsweise längeren Ultraschalllaufzeit zwischen Sender- und Empfängerpaar einher. Die Daten des 12-kanaligen Messsystems repräsentieren ein 3D-Modell (Sagittal-, Frontalund Horizontalebene) der äußerlich erfassten Wirbelsäulenform. Neben der Aufzeichnung von Längenänderungen der Wirbelsäule ist zur Quantifizierung von Wirbelsäulenbelastungen bei stehenden/gehenden Tätigkeiten auch die zeitsynchrone Bestimmung der Oberkörperneigung erforderlich. Hierzu wird ein kapazitiver Neigungssensor auf Höhe von L3 angebracht, der die sagittale Oberkörperneigung in Winkelgrad dokumentiert. Die Datenaufzeichnung erfolgt mit einer Frequenz von 10 Hz und ermöglicht Analysen von bis zu 10 Stunden Dauer. Außerdem besteht die Möglichkeit, zeitsynchron die Herzfrequenz zu erfassen.

Zur Bewertung der zeitlich hoch aufgelösten Daten mit bis zu 14 Kanälen, wurde die Analysesoftware „JSpinal“ entwickelt. Hierdurch ist es erstmals möglich, segmentbezogen eine objektive, softwaregestützte Analyse von Haltungs- und Bewegungsdaten der Wirbelsäule und des Oberkörpers durchzuführen. Für detaillierte technische Beschreibungen zum Verfahren (Hard-/Software) muss an dieser Stelle auf entsprechende Literatur verwiesen werden [8, 9].

2.2 Studienkollektive

Alle Tätigkeitsanalysen der Forschungsprojekte wurden ausschließlich mit berufs- / tätigkeitserfahrenem Personal ohne akute oder chronische Beschwerden im Bereich des Rückens durchgeführt. Zur Abbildung der heterogenen Belastungsmuster militärischer Arbeitsplätze wurden soldatische und zivile Tätigkeiten aus den Wirtschaftsbereichen Primär-, Sekundär- und Tertiärsektor analysiert (Tab 1). Neben dem Nachweis der ubiquitären Anwendbarkeit des portablen Messverfahrens steht mithilfe der ermittelten Datensätze eine valide wissenschaftliche Basis zur Entwicklung neuartiger kinematischer Belastungskriterien zur Verfügung. Für die Untersuchungen lag ein positives Votum der zuständigen Ethikkommission vor.

 

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Tab 1: Verteilung der Untersuchungskollektive (I = zivil, II = militärisch) innerhalb der drei Wirtschaftssektoren.

 

Zur Darstellung der neuen messtechnischen Möglichkeiten sind im folgenden Abschnitt exemplarisch zwei unterschiedlich anforderungsreiche Tätigkeitsprofile aus dem militärischen (Be- und Entladen von Panzerhaubitzen) und dem zivilen Bereich (Büro- und Verwaltungstätigkeiten) im direkten Vergleich dargestellt.

2.3 Be- und Entladen der Panzerhaubitze

Die militärische Tätigkeit umfasste das Be- und Entladen der Panzerhaubitze 2000 (PzH 2000) an einem Simulator. Hierdurch war es möglich unter standardisierten Bedingungen die realen Arbeitsabläufe darzustellen. Die Tätigkeit gliederte sich in zwei Phasen: In der ersten Phase mussten die Soldaten (n = 10) in Zweiergruppen insgesamt 60 Geschosse (42,6 kg pro Geschoss) von den Ladepaletten aufnehmen und zur automatischen Beladevorrichtung des Simulators tragen. Die Geschosse waren in einem Abstand von 5 m zum Simulator aufgestellt. In der zweiten Phase wurde der Simulator entladen und die Geschosse zu den Paletten zurückgetragen. Stehen diente als Referenzposition („0“).

2.4 Büro- und Verwaltungstätigkeiten

Die Aufzeichnung von Büro- und Verwaltungstätigkeiten erfolgte über eine Gesamtdauer von 120 Minuten. Vor Beginn der Datenerfassung wurden die Probanden (n = 10) gebeten die Tätigkeiten und Aufgaben wie gewohnt an ihrem persönlichen Arbeitsplatz auszuführen. Büro- und Verwaltungsaufgaben wie telefongestützte Kundengespräche und das Arbeiten am PC wurden in „sitzender“ Arbeitshaltung durchgeführt. Sitzen diente als Referenzposition („0“).

3. Ergebnisse

3.1 Herzfrequenz

Die Herzfrequenz betrug während Beund Entladetätigkeiten im Durchschnitt 146±11,8 Schläge pro Minute. Erwartungsgemäß liegt die durchschnittliche Herzfrequenz bei Büro- und Verwaltungstätigkeiten mit 75±7,0 Schlägen pro Minute signifikant darunter.

3.2 Haltungs- und Bewegungsspektrum der Wirbelsäule

Die in Abbildung 2 dargestellten Wirbelsäulenpositionen kennzeichnen die während der jeweiligen Tätigkeit eingenommenen Körperhaltungen in Bezug zur Referenzposition („0“). Die dargestellten Tätigkeitsprofile weisen sowohl divergierende als auch übereinstimmende Haltungs- und Bewegungsausmaße auf.

 

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Abb. 2: Verteilung der Wirbelsäulenpositionen sowie der sagittalen Oberkörperneigung während der Beladetätigkeiten (Panzerhaubitze 2000, links) und bei Bürotätigkeiten (rechts).  

 

Sagittalebene (SLI): Das Be- und Entladen der Panzerhaubitze war in mehr als 75 % der Tätigkeitsdauer durch eine Flexionshaltung (positiver Wertebereich) in allen drei Wirbelsäulensegmenten (HWS, BWS, LWS) gekennzeichnet. Während für die BWS das geringste Bewegungsspektrum zu erkennen ist (<10 % Amplitude), ist die Varianz der LWS-Positionen am stärksten ausgeprägt. Die sagittale Oberkörperneigung (SON) entsprach im Mittel (Median) einer aufrecht stehenden Körperhaltung. Dennoch wurden etwa 25 % der Tätigkeiten in einer Oberkörpervorneigung von =15° durchgeführt. Für die Büro- und Verwaltungstätigkeiten weicht das Haltungsprofil mit Ausnahme der BWS asymmetrisch von der aufrecht sitzenden Oberkörperposition („0“) ab: Während sich die HWS zu 75 % der Tätigkeitsdauer in einer überstreckten Position (Extension) befindet, weist die Ausrichtung der LWS eine dauerhafte Flexionshaltung (Median 15 % Amplitude) auf.

Frontalebene (FLI): Für beide Tätigkeiten variierte das geringe Wertespektrum der Seitenneigung (FLI) aller Wirbelsäulenabschnitte annähernd symmetrisch um die aufrechte Körperhaltung (positive Werte = Seitenneigung rechts, negative Werte = Seitenneigung links).

Horizontalebene (HLI): Ein ebenfalls leicht heterogenes Haltungsmuster dokumentieren die horizontalen Oberkörperhaltungen. Während die Segmente der BWS und HWS eine annähernd symmetrische Verteilung des Wertespektrums um die aufrechte Körperhaltung kennzeichnet, wurden beide Tätigkeiten zu 75 % der Arbeitsdauer mit einer nach links rotierten LWS durchgeführt (positive Werte = Rotation rechts, negative Werte = Rotation links).

3.3 Multidimensionale Haltungs- und Bewegungskombinationen

Neben der isolierten Betrachtung der Wirbelsäulenpositionen innerhalb einer Körperebene, kann mit der Analysesoftware „JSpinal“ ebenfalls quantifiziert werden, wie häufig mehrdimensional verdrehte Oberkörperhaltungen in mindestens zwei Körperebenen auftreten (SLI+FLI | SLI+HLI | FLI+HLI). Die simultanen Bewegungs- und Haltungskombinationen können differenziert nach Amplitudengröße betrachtet werden: „klein“ (0-2 %), „mittel“ (2-6 %), „groß“ (6-10 %) und „extrem“ (=10 %). Insgesamt sind die verdrehten Arbeitshaltungen bei beiden Tätigkeiten annähernd identisch ausgeprägt: 40 % bis 60 % aller Körperpositionen der HWS und LWS und 75 % bis 80 % der Körperpositionen der BWS waren ohne bzw. mit einem nur kleinamplitudigen Kombinationsanteil. Des Weiteren lassen sich 20-40 % simultane Bewegungs- und Haltungskombinationen einem mittleren Amplitudenspektrum zuordnen. Großamplitudige Verdrehungen (>6 %) liegen kaum vor.

3.4 Statische (Isometrie) und dynamische Arbeitsphasen

Die weiterführende Analyse ermöglicht sowohl die Gegenüberstellung von Bewegungs- und Isometriephasen als auch die Quantifizierung der durchschnittlichen Dauer (s) der Arbeitsphasen mit und ohne Bewegung. Insgesamt ist der Anteil von Isometriephasen für die militärische Tätigkeit über die gesamte Arbeitsphase niedrig (10 % bis 20 %). Die durchschnittliche Bewegungsdauer (s) beträgt im Mittel (Median) zwischen 5,2 und 12,3 Sekunden; 95 % der Bewegungen waren von kleiner bis mittlerer Amplitude. Gegenläufig hierzu werden Büro- und Verwaltungstätigkeiten zu 40 % bis 80 % der Arbeitszeit in sogenannter Dauerzwangshaltung verrichtet. Die mittlere Bewegungsdauer (0,9 bis 2,1 Sekunden) und die Bewegungsamplituden sind als gering einzustufen. Unabhängig von der Tätigkeitsanforderung war die Ausprägung der Isometriephasen im BWS-Bereich am stärksten.

3.5 Variabilität der Tätigkeiten

Zur Ermittlung und Bewertung der arbeitszeitlichen Variabilität der zuvor dargestellten Parameter können die Daten zusätzlich in chronologischer Abfolge der Tätigkeit analysiert werden. Anhand dieser Daten können arbeitszeitlich schwankende Belastungen im Abstand jedes 10. Arbeitszeitperzentils bewertet werden. Aufgrund der Perzentilaufteilung der Arbeitszeiten ist ein Vergleich von unterschiedlich langen Aufzeichnungsphasen möglich. Die vorliegenden Beispiele zeigen eine im zeitlichen Verlauf der Tätigkeit homogene Anforderung ohne signifikante Belastungsschwankungen. Des Weiteren bestätigten auch die zeitlich-chronologisch aufgelösten Belastungsindikatoren die divergierende Anforderungscharakteristik der beiden Tätigkeiten. So ist beispielsweise der Anteil dynamischer Arbeitsphasen bei der militärischen Tätigkeit über die gesamten Arbeitszeitperzentile stärker ausgeprägt.

4. Diskussion

Die beispielhafte Darstellung der Belastungsanalysen von deutlich unterschied lich anforderungsreichen Tätigkeiten unterstreicht die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten des 3D-SMG. Der im ersten Moment willkürlich wirkende Vergleich ist jedoch gut begründbar. In Berufsgruppen mit und ohne Lastenhandhabung sind Rückenschmerzen und daraus resultierende Arbeitsunfähigkeitstage etwa gleich häufig vorhanden [10]. Daher ist anzunehmen, dass die spezifischen kinematischen Anforderungen dieser Tätigkeiten zusätzlichen Anteil an der Beschwerdeproblematik haben. Diese Annahme wird durch die durchgeführten Analysen bestätigt. Die wesentlichen Ergebnisse sowie hieraus ableitbare Empfehlungen sind im Folgenden dargestellt:

Neben den bekanntermaßen hohen Lasten beim Be- und Entladen der PzH 2000 stellt die tätigkeitsspezifische Flexionshaltung aller drei Wirbelsäulensegmente einen weiteren Belastungsfaktor dar. Die Daten zeigen, dass die Geschosse von den Soldaten überwiegend aus dem Rücken gehoben wurden. Hier scheint erheblicher Schulungsbedarf im Rahmen der Ausbildung notwendig zu sein. Zusätzliche Belastungen der passiven Wirbelsäulenstrukturen durch verdrehte Oberkörperhaltungen unter Last traten kaum auf. Insgesamt ist die militärische Tätigkeit aus arbeitsmedizinischer Sicht als hoch anforderungsreich zu bezeichnen. Zur Vermeidung von Überlastungsschäden sollten die folgenden Punkte berücksichtigt werden:

  • Erhalt bzw. Ausbau von Maximalkraft und Kraftausdauer insbesondere im Bereich von Schultergürtel-, Bauch-, Rücken- und Oberschenkelmuskulatur.
  •  Schulung des Ausbildungspersonals und Vermittlung rückenschonender Tragetechniken: Aufnehmen der Last erfolgt aus den Beinen mit geradem Rücken. Der Lastentransport erfolgt körpernah und aufrecht. Beim Aufnehmen und Ablegen der Last ist unter Anspannung der Rumpfmuskulatur auf eine stabile Rumpfposition zu achten.
  • Zur Optimierung der Arbeitsleistung sowie zur Reduktion der Gesamtlasten sollte das Be- und Entladen der Panzerhaubitze möglichst zu dritt durchgeführt werden.

Für die analysierten Büro- und Verwaltungstätigkeiten konnten überwiegend asymmetrische Wirbelsäulenpositionen und ein hoher Anteil monotoner Körperhaltungen ermittelt werden. Aus präventivmedizinischer Sicht sollten daher für Berufstätige am Bildschirmarbeitsplatz die folgenden Punkte beachtet werden:

  • Optimierung der Arbeitsplatzanordnung mit arbeitsgerechter Einstellung der Sitzhöhe und Bildschirmposition (G 37, BGI 650).
  •  Zur Reduktion der ungünstigen Dauerzwangshaltung mit statischer Muskelarbeit sollten kurz- und mittelfristig wirksame Bewegungs-/Trainingseinheiten in den Arbeitsalltag bzw. zur individuellen Prävention umgesetzt werden.

Kurze Bewegungspausen (etwa 5 Minuten) sollten im Abstand von etwa 120 Minuten in den Arbeitsalltag integriert werden. Hierbei sind insbesondere großamplitudige, auflockernde Aktivitäten zur Anregung der lokalen Blutzirkulation empfehlenswert. Mittelfristig sollten auch für diese körperlich wenig anforderungsreiche Tätigkeit die Rumpf- und Extremitätenmuskulatur durch ein Kraft-/Gymnastiktraining gestärkt werden. Des Weiteren ist ein regelmäßiges Lauf-/Walkingtraining ebenfalls wirksam zur Reduktion von haltungsassoziierten Rückenschmerzen. Ergonomische Maßnahmen, wie beispielsweise ein „rückenschonender“ Arbeitsstuhl, können vor einem flächendeckenden Einsatz in der Bundeswehr mithilfe des 3D-SMG auf ihre Wirksamkeit/ Funktionalität überprüft werden. Unabhängig von diesen beispielhaften Ergebnissen konnte im Rahmen der Verbundforschung durch die Entwicklung von Technologie und Bewertungskriterien ein Verfahren aufgebaut werden, dass nicht nur bei wehrmedizinischen Fragestellungen zu einem erheblichen Erkenntnisgewinn beiträgt [9, 11, 12]. Auch für arbeitsmedizinische, gutachterliche Beurteilungen berufsspezifischer Wirbelsäulenbelastungen entstehen neue Objektivierungsmöglichkeiten. Darüber hinaus bieten die Erkenntnisse eine verlässliche Handlungsgrundlage zur Entwicklung und Evaluierung präventiver und ergonomischer Maßnahmen.

5. Schlussfolgerungen

Im Rahmen der Verbundforschung ist es gelungen, ein innovatives Analyseverfahren zur Bewertung der haltungsund bewegungsassoziierten Wirbelsäulenbelastung zu entwickeln. Nach Abschluss des noch laufenden Forschungsvorhabens wird es erstmals möglich sein messtechnische Analysen zu tätigkeitsspezifischen Wirbelsäulenbelastungen an militärischen Arbeitsplätzen durchzuführen und objektiv bewerten zu können. Bereits publizierte Studien, wie auch die vorliegenden Beispiele zeigen nachdrücklich die große Bedeutung der Messwerte für Wissenschaft und Praxis.

Mithilfe des entwickelten Messsystems wird es zukünftig möglich sein 1) für belastende Tätigkeiten und 2) im Rahmen von Ausrüstungsentwicklungen objektive Kenngrößen als zusätzliche Bewertungsgrundlage Entscheidungsträgern zur Verfügung zu stellen. Auf Grundlage der neuen Bewertungskriterien sollte zur Optimierung und Weiterentwicklung des Systems eine Referenzdatenbank sowie eine verbesserte Datenvisualisierung entwickelt werden. Mit Blick auf eine mögliche Neuausrichtung der wehrmedizinischen Forschung kann der 3D-SMG eine herausragende Bedeutung im Bereich von Arbeitsmedizin und Ergonomie einnehmen. Die Datenerhebung ist nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht verlässlich sondern bietet auch für die Bundeswehr eine effiziente Ergänzung zur Erfüllung der arbeitschutzrechtlichen Fürsorge sowie zur Kosteneinsparung bei der Ausrüstungs-/ Materialbeschaffung.

Literatur:

  1. BKK Bundesverband (Hrsg.): BKK Gesundheitsreport 2009. Demographischer und wirtschaftlicher Wandel - gesundheitliche Folgen. Essen 2009
  2. Schmidt CO, Kohlmann T: Was wissen wir über das Symptom Rückenschmerz. Epidemiologische Ergebnisse zu Prävalenz, Inzidenz, Verlauf, Risikofaktoren. Z Orthop 2005; 143: 292-298
  3.  Seidler A, Liebers F, Latza U: Prävention von Low-Back-Pain im beruflichen Kontext. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2008; 51: 322-333
  4.  Liebers F, Caffier G, Steinberg U: Charakteristik und Bewertung des individuellen Bewegungsmusters der Lendenwirbelsäule beim Heben von Lasten. Wirtschaftsverlag N. W. Verlag für neue Wissenschaft 2000; 890
  5.  Schneider S, Lipinski S, Schiltenwolf M: Occupations associated with a high risk of self-reported back pain: representative outcomes of a back pain prevalence study in the Federal Republic of Germany. European spine journal 2006; Jg. 15, H. 6: 821–833
  6. Jäger M, Geiß M, Bergmann A et al.: Biomechanische Analysen zur Belastung der Lendenwirbelsäule innerhalb der Deutschen Wirbelsäulenstudie. Zbl Arbeitsmed 2007; 57: 264–276
  7. Eßfeld D, Rüther T, Wunderlich M, Sievert A: Tätigkeitsanalysen von Arbeitsplätzen mit hohen Wirbelsäulenbelastungen. BMVg-FBWM; 2008
  8. Wunderlich M: Wirbelsäulenbelastungen am Arbeitsplatz: Aufbau und Evaluierung eines Messverfahrens zur Ermittlung tätigkeitsbezogener Haltungs- und Bewegungsprofile. Dr. Kovac-Verlag; 2010
  9. Wunderlich M, Jacob R, Stelzig Y, Rüther T, Leyk D: Analyse der Wirbelsäulenbelastung bei Operationstätigkeiten in der Hals-Nasen-Ohrenheilkunden. HNO 2010; 58: 791-798
  10. Ellegast R, Ditchen D, Bergmann A et al.: Erhebungen zur beruflichen Wirbelsäulenexposition durch die Technischen Aufsichtsdienste der Unfallversicherungsträger im Rahmen der Deutschen Wirbelsäulenstudie. Zbl Arbeitsmed 2007; 57: 251–263
  11. Wunderlich M, Eger T, Rüther T, Meyer-Falcke A, Leyk D: Analysis of spine loads in dentistry- impact of an altered sitting position of the dentist. J Biomedical Science and Engineering 2010; 3: 664-671
  12. Wunderlich M, Rüther T, Erley O, Erren TC, Piekarski C, Leyk D: Analyse von Wirbelsäulenbelastungen am Arbeitsplatz: Bewertung der Oberkörperhaltung von Hubschrauberpiloten. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2010; 45: 329

Datum: 22.02.2011

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2010/11-12

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